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Der Amputationsfall: Beachtlichkeit des dolus subsequens? - Jurafuchs

Der Amputationsfall: Beachtlichkeit des dolus subsequens? - Jurafuchs

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration: Der betrunkene T hat ein Messer in der Hand und schreit dem toten, auf dem Boden liegenden O "Das zahl ich dir heim" zu.

O und T betrinken sich. Als der massiv betrunkene O dem T in sexueller Absicht in den Schritt greift, schlägt T ihm ins Gesicht. O übergibt sich daraufhin, geht zu Boden und erstickt nach wenigen Minuten an seinem Erbrochenen. T, der den Tod des O nicht bemerkt hat, schneidet ihm mit bedingtem Tötungsvorsatz den Penis ab.

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Einordnung des Falls

Das Konzidenzprinzip besagt, dass der Vorsatz zum Zeitpunkt der Tat vorhanden sein muss. Daher ist es irrelevant, ob der Vorsatz vor (dolus antecedens) oder nach der Tat (dolus subsequens) besteht. Es genügt jedoch, wenn Vorsatz zum Zeitpunkt des Eintritts in das Versuchsstadium vorliegt. Im vorliegenden, an den Jauchegrubenfall erinnernden, „Amputationsfall“ hatte der Täter jedoch zum Zeitpunkt der zuerst folgenden Körperverletzung keinen Tötungsvorsatz. Dieser folgte erst später und ist damit ein unbeachtlicher dolus subsequens.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der Schlag und der Schnitt stellen hier ein einheitliches Tatgeschehen dar.Hat sich T durch den mit dem Schlag zusammengenommenen Schnitt wegen Totschlags gemäß § 212 StGB strafbar gemacht?

Nein, das ist nicht der Fall!

BGH: Eine Verknüpfung von Schlag und Schnitt verstieße gegen das Koinzidenzprinzip. Sie setzte voraus, dass T den Schlag schon mit Tötungsvorsatz ausgeführt hätte. Nur dann könne eine Abweichung des vorgestellten vom tatsächlichen Kausalverlauf vorliegen (RdNr. 8f.). Der Fall verhält sich genau umgekehrt zum sog. „Jauchegrubenfall“. Dort hatte der Täter seinem Opfer mit Tötungsvorsatz Sand in den Mund gestopft und geglaubt, es sei verstorben. Tatsächlich trat der Tod erst durch das Versenken der vermeintlichen Leiche in einer Jauchegrube ein. Der BGH nahm eine unwesentliche Abweichung vom Kausalverlauf an und verurteilte wegen vollendeter Tötung (BGH 14, 193).
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2. Hat T sich wegen Körperverletzung mit Todesfolge gemäß § 227 StGB in Tatmehrheit mit versuchtem Totschlag gemäß §§ 212, 22, 23 StGB strafbar gemacht?

Ja, in der Tat!

Bei der ersten Tathandlung, dem Schlag ins Gesicht, hatte T lediglich Verletzungsvorsatz. Den Tod als schwere Folge hat er angesichts der starken Alkoholisierung des O zumindest fahrlässig verursacht gemäß § 18 StGB. Notwehr (§ 32 StGB) rechtfertigt die Tat nicht, denn O war extrem alkoholisiert (dann 3 Stufen: Ausweichen, defensive Schutzwehr, erst, wenn nicht möglich: aggressive Trutzwehr). Die zweite Tathandlung, das Abtrennen des Penis, stellt nur einen untauglichen Versuch dar, da O bereits verstorben war.

3. Durch den Schlag ins Gesicht des O hat sich T wegen Totschlags gemäß § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht. Ist der später gefasste bedingte Tötungsvorsatz ausreichend?

Nein!

Der Vorsatz des Täters muss gemäß § 16 Abs. 1 StGB zum Zeitpunkt der Tathandlung („bei Begehung der Tat“) vorliegen (sogenanntes Koinzidenzprinzip). Ein nachgelagerter Vorsatz (sogenannter dolus subsequens) zum Zeitpunkt einer späteren Handlung ist für die vorangehende Handlung grundsätzlich bedeutungslos (Fischer, 65.A. 2018, § 15 RdNr 4a). Eine Strafbarkeit wegen vollendeter Vorsatztat tritt daher nur ein, wenn die vom Vorsatz getragene Handlung den tatbestandsmäßigen Erfolg herbeigeführt hat (RdNr. 7). T hatte zum Zeitpunkt des Schlages ins Gesicht noch keinen Tötungsvorsatz.

4. Hat sich T durch das Abtrennen des Penis wegen Totschlags gemäß § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Amputation war nicht kausal für den tatbestandlichen Erfolg, nämlich den Tod des O. Kausalität liegt nur vor, wenn die Handlung nicht hinweggedacht werden könnte, ohne dass der Erfolg entfiele („conditio sine qua non“)(Fischer, 65.A. 2018, Vor § 13 RdNr. 21). O war jedoch zum Zeitpunkt des Abtrennens des Penis bereits verstorben und die Handlung hatte mithin keinen Einfluss mehr auf den Taterfolg.

5. Können der Schlag und der Schnitt als ein einheitliches Tatgeschehen gesehen werden, wenn sich der Todeseintritt infolge des Schlages bloß als unwesentliche Abweichung vom Kausalverlauf darstellt?

Ja, in der Tat!

Der Vorsatz des Täters muss sich auch auf den Kausalverlauf erstrecken. Der Kausalverlauf lässt sich nicht in allen Einzelheiten voraussehen. Daher müssen die Vorstellungen des Täters dem tatsächlichen Geschehen nur im Wesentlichen entsprechen. Ein Irrtum über den Kausalverlauf ist daher nur bei erheblichen Abweichungen beachtlich und begründet nur in diesem Fall eine reine Versuchsstrafbarkeit (Fischer, 65.A. 2018, § 16 RdNr. 7, 9). Für eine Verknüpfung muss nach der Vorstellung des Angeklagten ein einheitliches, von vornherein mit einheitlichem Tatvorsatz (hier Tötungsvorsatz) durchgeführtes Tatgeschehen vorliegen, bei dem die objektiv für den tatbestandlichen Erfolg ursächliche Handlung (hier der Schlag) ohne wesentliche Zwischenschritte in eine danach liegende Tathandlung (hier die Amputation des Penis) einmündet.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

MIC

Michael

2.5.2020, 11:07:39

Warum wird er wegen versuchten Totschlags verurteilt, wenn er doch nie beabsichtigt hat, ihn zu töten? Schließlich schlug T ihn ja nicht in der Absicht, den O zu töten, ins Gesicht...

GI

GingerCharme

3.5.2020, 08:54:44

Beim Schlag hatte er nur Verletzungsvorsatz, deswegen Körperverletzung mit Todesfolge, da er den Tod zudem fahrlässig herbeigeführt hat. Danach wollte er jedoch den O durch Abtrennen seines Phallus, jedenfalls mit bedingtem Vorsatz töten und hat dazu auch schon mehr als unmittelbar angesetzt (sowohl objektiv als subjektiv). Er konnte durch diese Handlung jedoch den Tod des O nicht herbeiführen, dieser war schon tot, es fehlte also an der Herbeiführung des Tötungserfolges durch das "kastrieren". Eine Vollendungstat scheidet somit aus, aber alle Merkmale des Versuchs liegen vor (s.o).

FS

fsjura

16.5.2020, 10:58:05

Beim Abtrennen des Penis handelt T sehr wohl vorsätzlich. Vorsatz existiert in drei Formen - Absicht, bedingter Vorsatz, Eventualvorsatz- es ist dabei völlig egal welche Form vorliegt um wegen einer vorsätzlichen Tat bestraft werden zu können. Die Strafbarkeit wegen versuchten Totschlags bezieht sich übrigens auf die eigenständige Tathandlung des Abtrennens und hat mit dem Schlag insoweit nichts mehr zu tun!

Real Thomas Fischer Fake 🐳

Real Thomas Fischer Fake 🐳

8.10.2020, 14:07:13

@GingerCharme - Gut erklärt! Dass das Geschlechtsteil des O zum Zeitpunkt des Abtrennens im erigierten Zustand war (Phallus) bezweifle ich allerdings. Leichenstarre funktioniert so nicht... 😜

SAL

Salo_

9.4.2022, 09:48:47

Warum kommt hier im Rahmen des ersten Geschehen keine Rechtfertigung in Betracht? Dann würde die untaugliche versuchte Tötung am Ende ja trotzdem bestehen bleiben.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

11.4.2022, 18:34:38

Hallo Salo, in Betracht kommt die Notwehr durchaus (s. letzter Hinweistext). Sofern man hier noch eine Notwehrlage bejaht (also der Angriff durch den einmaligen Schlag in den Schritt nicht bereits beendet war), müsste man aber hier die

Notwehrhandlung

prüfen. Dabei wäre im Rahmen der Erforderlichkeit zu erörtern, dass O extrem alkoholisiert war. Gegenüber ersichtlich Schuldunfähigen ist die Notwehr aber lediglich eingeschränkt einzusetzen. Statt der sog. Trutzwehr durch den Schlag, hätte T hier zunächst ausweichen bzw. defensiver Schutzwehr ausüben müssen. Da er dies nicht getan hat, scheidet eine Rechtfertigung über die Notwehr aus. In Betracht käme noch der Notwehrexzess (§ 33 StGB). Hier fehlt es aber an den hierfür notwendigen Merkmalen (Verwirrung, Furcht, Schrecken). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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