„Apotheken-Entscheidung“ – Verständnis und Umfang der Berufsfreiheit


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Approbierter Apotheker A möchte die Betriebserlaubnis für eine Apotheke. Die Regierung von Oberbayern O versagt ihm diese aufgrund von Art. 3 Abs. 1 ApothG. Danach sei die Errichtung einer Apotheke unzulässig, weil die wirtschaftliche Grundlage der Apotheke nicht gesichert ist.

Einordnung des Falls

„Apotheken-Entscheidung“ – Verständnis und Umfang der Berufsfreiheit

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 15 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. A erhebt gegen die Versagung der Betriebserlaubnis (und damit inzident gegen Art. 3 ApothG) Verfassungsbeschwerde. Ist diese zulässig?

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Ja!

Das BVerfG ist nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG zuständig. Die Versagung stellt einen Verwaltungsakt dar, der als Maßnahme der öffentlichen Gewalt zu qualifizieren ist. Ein tauglicher Beschwerdegegenstand liegt mithin vor. Ferner betrifft die Versagung A unmittelbar, selbst und gegenwärtig (Beschwerdebefugnis). Das BVerfG ließ die Verfassungsbeschwerde wegen ihrer allgemeinen Bedeutung (§ 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG) zu, obwohl der ordentliche Rechtsweg noch nicht erschöpft war. Die Aussagen des Apotheker-Urteils sind für eine Klausur zu Art. 12 GG elementar.

2. Art. 12 GG enthält nur die Gewerbefreiheit als objektives Prinzip der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung

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Nein, das ist nicht der Fall!

Das BVerfG hat im Apotheker Urteil festgestellt, dass Art. 12 GG nicht "die Gewerbefreiheit als objektives Prinzip der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung proklamiert" (1. Leitsatz). Vielmehr gewährleistet Art. 12 GG dem Einzelnen das Grundrecht, jede erlaubte Tätigkeit als Beruf zu ergreifen. Historischer Grund für diese Klarstellung ist die Abgrenzung zum ehemaligen Art. 151 Abs. 3 WRV, der die Gewerbefreiheit als objektives Prinzip proklamierte.

3. Die Tätigkeit von A als Apotheker stellt keinen Beruf im Sinne von Art. 12 GG dar.

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Nein, das trifft nicht zu!

Ein Beruf im Sinne von Art. 12 Abs. 1 GG ist jede auf Erwerb gerichtete Tätigkeit, die auf Dauer angelegt ist und der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage dient. Der Begriff des Berufs ist weit auszulegen. Die Tätigkeit von A ist sowohl auf den Erwerb als auch auf Dauer gelegt. Der Betrieb der Apotheke erfolgt mit Gewinnerzielungsabsicht, sodass er der Schaffung und Aufrechterhaltung der Lebensgrundlage von A dient. Im Apotheker-Urteil setzte das BVerfG noch die Erlaubtheit der Betätigung voraus. Die spätere Judikatur schloss nur solche Betätigungen aus, die ihrem Wesen nach als verboten anzusehen sind (z.B. Auftragskiller).

4. Zwar handelt es sich bei der von A ausgeübten Tätigkeit um einen Beruf, jedoch erfasst Art. 12 GG nur unselbstständige Tätigkeiten.

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Nein!

Eine Differenzierung zwischen selbstständigen und unselbstständigen Tätigkeiten findet im Wortlaut von Art. 12 GG keinen Rückhalt. Deshalb stellt das BVerfG ausdrücklich klar, dass die berufliche Tätigkeit sowohl in selbstständiger als auch in unselbstständiger Form ausgeübt werden kann. Begründend führt das BVerfG an, dass beiden Tätigkeitsformen ein eigenes soziales Gewicht zukommt (RdNr. 67).

5. Die Versagung der Betriebserlaubnis einer Apotheke, gestützt auf Art. 3 Abs. 1 ApothG, greift in die Berufsfreiheit des A ein.

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Genau, so ist das!

Ein Eingriff ist jedes staatliche Ge- oder Verbot, das die Berufsfreiheit einschränkt oder unmöglich macht. Im Falle der Berufsfreiheit muss dem Eingriff eine berufsregelnde Tendenz zukommen. Die Versagung der Betriebserlaubnis verkürzt unmittelbar die Berufsfreiheit des A. Dabei kommt diesem Eingriff auch eine berufsregelnde Tendenz zu, da die Neuerrichtung einer Apotheke eine berufsspezifische Handlung darstellt.

6. Die Berufsfreiheit aus Art. 12 GG enthält die Berufswahl- und Berufsausübungsfreiheit. Dem Grundrecht kommt große Bedeutung für die gesamte Lebensgestaltung jedes Einzelnen zu.

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Ja, in der Tat!

Das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) "schützt die Freiheit des Bürgers in einem für die moderne arbeitsteilige Gesellschaft besonders wichtigen Bereich" (RdNr. 63). Es hat daher "Bedeutung für alle sozialen Schichten; die Arbeit als "Beruf" hat für alle gleichen Wert und gleiche Würde" (RdNr. 63). Einerseits enthält das Grundrecht die Freiheit, einen Beruf zu wählen (Berufswahlfreiheit). Andererseits gewährleistet Art. 12 GG die Freiheit, einen Beruf auszuüben (Berufsausübungsfreiheit).

7. Der Regelungsvorbehalt in Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG erstreckt sich nur auf die Berufsausübungsfreiheit.

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Nein!

Der Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 GG suggeriert, dass "Eingriffe in die Berufsausübung zulässig sein sollen, während die Berufswahl der gesetzlichen Regelung schlechthin entzogen" (RdNr. 74) sind. Eine solche Auslegung widerspräche jedoch dem Sinn von Art. 12 GG. Indes handelt es sich um ein einheitliches Grundrecht. Grund hierfür ist, dass sich die Wahl und Ausübung eines Berufes nicht voneinander trennen lassen. „Namentlich stellt die Aufnahme der Berufstätigkeit sowohl den Anfang der Berufsausübung dar wie die gerade hierin […] sich äußernde Betätigung der Berufswahl“ (RdNr. 74). Der Regelungsvorbehalt erstreckt sich daher gleichermaßen auf die Berufsausübung und Berufswahl.

8. Der Regelungsvorbehalt erstreckt sich in der gleichen Intensität auf die Berufswahl und Berufsausübung.

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Nein, das ist nicht der Fall!

Der Regelungsvorbehalt aus Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG erstreckt sich nicht in der gleichen Intensität auf die Berufswahl und die Berufsausübung. Denn es bleibt der im Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 GG deutlich zum Ausdruck kommende Wille des Verfassungsgebers zu berücksichtigen, "dass die Berufswahl "frei" sein soll, die Berufsausübung geregelt werden darf" (RdNr. 77). Somit ist die Regelungsbefugnis des Gesetzgebers inhaltlich umso freier, je mehr sie eine Ausübungsregelung darstellt, umso begrenzter, je mehr sie auch die Berufswahl berührt. Dabei ist der Regelungsvorbehalt in Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG als normaler Gesetzesvorbehalt zu verstehen.

9. Im Apotheker-Urteil hat das BVerfG aus diesen Grundsätzen die sogenannte Drei-Stufen-Theorie entwickelt.

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Ja, in der Tat!

Die Drei-Stufen-Theorie geht davon aus, dass für Gesetze unterschiedliche Anforderungen gelten, je nachdem, welcher Bereich von Art. 12 GG betroffen ist. Auf der ersten Stufe stehen dabei Regeln der Berufsausübung, also Regeln, die das "Wie" der Tätigkeit betreffen. Nachfolgend stehen auf der zweiten und dritten Stufe solche Regelungen, die die Berufswahl einschränken. Diese Regeln betreffen daher das "Ob" der beruflichen Betätigung und werden daher auch Zulassungsvoraussetzungen genannt. Auf der zweiten Stufe stehen subjektive Zulassungsvoraussetzungen, auf der dritten Stufe hingegen objektive Zulassungsvoraussetzungen. An Einschränkungen auf der zweiten und dritten Stufe sind insgesamt strikte Anforderungen zu stellen. Die Drei-Stufen-Theorie gewinnt im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung Bedeutung. Hierbei modifiziert sie, je nach Eingriffsintensität, die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit. Die Drei-Stufen-Theorie stellt einen spezifischen Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dar, weil sie typisierte Fälle abgestufter Eingriffsintensität mit entsprechend abgestuften Anforderungen verknüpft.

10. Auf der ersten Stufe befinden sich Berufsausübungsregeln. Ein Eingriff in diese kann durch jede vernünftige Erwägung des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden.

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Ja!

Am freiesten ist der Gesetzgeber auf der ersten Stufe. Denn bei Berufsausübungsregeln enthält Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG schon seinem Wortlaut nach einen Gesetzesvorbehalt. Beschränkungen auf der ersten Stufe sind gerechtfertigt, soweit vernünftige Erwägung des Allgemeinwohls diese zweckmäßig erscheinen lassen. Ein Beispiel der ersten Stufe aus der späteren Rechtsprechung sind Ladenschlussregeln.

11. Auf der zweiten Stufe befinden sich subjektive Zulassungsvoraussetzungen. Ein Eingriff in diese kann durch den Schutz eines gewichtigen Gemeinschaftsgutes gerechtfertigt werden.

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Genau, so ist das!

Unter subjektiven Zulassungsvoraussetzungen versteht man solche Voraussetzungen, die in der Person des Grundrechtsberechtigten liegende Eigenschaften berühren. Insbesondere sind die persönlichen Fähigkeiten oder formalen Ausbildungen zu berücksichtigen, die für die Aufnahme eines Berufes erforderlich sind. Dabei hat der Bewerber in der Regel Einfluss auf diese Eigenschaften. Beispiele hierfür sind bestimmte Qualifikationen, das Lebensalter oder das frühere Verhalten des Grundrechtsberechtigten. Einschränkungen auf dieser Stufe können nur durch den Schutz eines gewichtigen Gemeinschaftsgutes gerechtfertigt werden. Beispiele der zweiten Stufe aus der späteren Rechtsprechung sind Altersgrenzen für Vertragsärzte oder Befähigungsnachweise im Handwerk.

12. Auf der dritten Stufe befinden sich objektive Zulassungsvoraussetzungen. Diese können durch die Abwehr schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut gerechtfertigt werden.

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Ja, in der Tat!

Unter objektiven Zulassungsvoraussetzungen versteht man solche Voraussetzungen, auf deren Erfüllung der Grundrechtsberechtigte keinen Einfluss hat. Es sind daher solche Voraussetzungen, die unabhängig von den persönlichen Eigenschaften des Bewerbers sind. Deshalb sind auf dieser Stufe besonders strenge Anforderungen zu stellen. Eingriffe können nur gerechtfertigt sein, wenn sie der "Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut" (RdNr. 88) dienen. Als Beispiel hierfür lassen sich Höchstzahlen für bestimmte Berufe sowie Bedürfnisklauseln für Taxen anzuführen.

13. Der Gesetzgeber kann die nächst höhere oder niedrigere Stufe nach Belieben betreten.

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Nein!

Die Anforderungen an die Zulässigkeit gesetzlicher Eingriffe steigen mit jeder Stufe. Das BVerfG entwickelte im Apotheker-Urteil den Grundsatz, dass der Gesetzgeber Regelungen jeweils auf der Stufe vornehmen muss, die die geringste Eingriffsintensität aufweist. Der Gesetzgeber "darf die nächste "Stufe" erst dann betreten, wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit dargetan werden kann, dass die befürchteten Gefahren mit (verfassungsmäßigen) Mitteln der vorausgehenden "Stufe" nicht wirksam bekämpft werden können" (RdNr. 89).

14. Für A als approbierten Apotheker findet die zweite Stufe Anwendung.

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Nein, das ist nicht der Fall!

Die dritte Stufe erfasst objektive Zulassungsvoraussetzungen. Diese sind unabhängig von den persönlichen Eigenschaften des Bewerbers. Ob die Betriebszulassung der Apotheke des A im öffentlichen Interesse liegt, weil die wirtschaftliche Grundlage gesichert ist, ist dessen Einfluss entzogen. Art. 3 Abs. 1 ApothG stellt Anforderungen auf, die unabhängig von den persönlichen Eigenschaften des A sind. Vielmehr stellt dieser auf die wirtschaftliche Sinnhaftigkeit des Betriebs einer Apotheke ab. Die Betriebszulassung der Apotheke hängt daher nicht von der Qualifikation oder den persönlichen Fähigkeiten des A ab. Es handelt sich daher um objektive Zulassungsvoraussetzungen. In der neueren Rechtsprechung wendet das BVerfG die Drei-Stufen-Theorie nicht mehr streng oder schematisch an. Gleichwohl sollte die Drei-Stufen-Theorie in der Klausur immer geprüft werden, weil sie verfassungsrechtliches Grundwissen ist.

15. Der Eingriff kann nicht gerechtfertigt werden. Das BVerfG erklärte Art. 3 Abs. 1 ApothG für nichtig.

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Ja, in der Tat!

Auf der dritten Stufe können Eingriffe nur gerechtfertigt werden, wenn sie der Abwehr einer nachweisbaren oder höchstwahrscheinlichen schweren Gefahr für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut dienen. Durch das Erfordernis des öffentlichen Interesses verfolgt Art. 3 Abs. 1 ApothG den Zweck, den Apothekerstand vor unkontrollierter Vermehrung zu schützen. Dies dient dem Schutz der "Volksgesundheit" (vgl. RdNr. 106). Nach der Überzeugung des BVerfG stellen diese Werte zwar ein wichtiges Gemeinschaftsgut dar, jedoch sind die dafür bestehenden Gefahren weder nachweisbar noch höchstwahrscheinlich (vgl. RdNr. 107, 115ff., 148). Art. 3 Abs. 1 ApothG ist deshalb verfassungswidrig (RdNr. 160). Neben der Entwicklung der Drei-Stufen-Theorie kommt dem Apotheker-Urteil auch eine gewichtige verfassungsdogmatische Bedeutung zu. So spielt das Urteil auch eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Verfassungsprinzip.

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