Strafrecht

Examensrelevante Rechtsprechung SR

Entscheidungen von 2019

Ausschluss des Angeklagten von einer Urkundenverlesung

Ausschluss des Angeklagten von einer Urkundenverlesung

13. Mai 2023

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration: Angeklagter A sieht über eine Videoübertragung zu, wie eine Urkunde ohne seine Anwesenheit in der Hauptverhandlung vorgelesen wird.

A ist wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt. Für die Vernehmung des Opfers O wird A von der Hauptverhandlung ausgeschlossen und verfolgt die Vernehmung mittels Übertragung in einem Nebenraum. Während der Vernehmung wird ein Brief der O an ihre Mutter verlesen und ihr vorgelegt. Nach Abschluss der Vernehmung kehrt A in den Sitzungssaal zurück und erklärt, keine Fragen an O zu haben. A wird verurteilt. Er legt Revision ein.

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Einordnung des Falls

Gem. § 230 Abs. 1 StPO ist der Angeklagte zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung berechtigt und verpflichtet. Für dieses Recht ist aber auch eine Ausnahme für Zeugenvernehmungen vorgesehen. Diese Ausnahme ist allerdings eng auszulegen. Für jeden einzelnen Schritt der Zeugenvernehmung (Vereidigung, Aussage, Befragung, Entlassung) ist die Notwendigkeit des Ausschlusses zu prüfen. Dasselbe gilt, wenn mehrere Beweismethoden miteinander verbunden werden. So ist im vorliegenden Fall der Ausschluss des Angeklagten fehlerhaft, da im Rahmen einer Zeugenvernehmung auch ein Brief der Zeugin vorgelesen wurde. Auf diese Urkundenverlesung erstrecke sich der Ausschluss des Angeklagten nicht.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Wird das Urteil aufgehoben, wenn die Revision des A zulässig und begründet ist?

Ja, in der Tat!

Die Prüfung der Revision wird in Zulässigkeit und Begründetheit getrennt. Im Rahmen der Zulässigkeit ist zu prüfen: (1) Statthaftigkeit (§ 333 StPO), (2) Revisionsberechtigung, (3) Beschwer, (4) frist- und formgerechte Einlegung (§ 341 StPO), (5) frist- und formgerechte Revisionsbegründung (§ 344 StPO). A ist als Angeklagter nach § 296 Abs. 1 StPO grundsätzlich revisionsberechtigt. Die Beschwer besteht in seiner Verurteilung.
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2. Ist die Revision unzulässig, weil A nach Rückkehr in den Saal erklärt hat, keine Fragen an O zu haben?

Nein!

Die Revision ist nicht zulässig, wenn der Angeklagte einen Rüge- oder Rechtsmittelverzicht erklärt hat (§ 302 StPO). Ein Verzicht setzt allerdings eine eindeutige, vorbehaltlose und ausdrückliche Erklärung voraus. BGH: Die Erklärung des A, keine Fragen an O zu haben, betreffe nicht das Verlesen des Briefes, sondern nur den Zeugenbeweis durch O und enthalte daher auch keinen Rügeverzicht (RdNr. 10).

3. Ist die Revision des A begründet, wenn das Urteil eine Gesetzesverletzung enthält und auf diesem Fehler beruht?

Genau, so ist das!

Die Begründetheit der Revision hat folgende Voraussetzungen: (1) Gesetzesverletzung, (2) Beruhen des Urteils auf dieser Gesetzesverletzung, (3) Beweis des Rechtsfehlers, (4) Revisibilität. Im Rahmen der Gesetzesverletzung wird unterschieden zwischen Verfahrensfehlern und materiell-rechtlichen Fehlern. Eine Gesetzesverletzung liegt vor, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet wurde (§ 337 Abs. 2 StPO).

4. Ist die Verlesung des Briefes in Abwesenheit des A ein Verfahrensfehler?

Ja, in der Tat!

§ 230 Abs. 1 StPO enthält das Recht und die Pflicht des Angeklagten zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung. Unter Anwesenheit des Angeklagten ist dessen geistige und körperliche Präsenz am Verhandlungsort zu verstehen. § 247 S. 1 StPO lässt für Zeugenvernehmungen eine Ausnahme zu. Danach kann der Angeklagte aus dem Sitzungssaal zeitweise entfernt werden. BGH: Die Norm sei eng auszulegen. Bei Anwendung der Norm sei die Entfernung des A auf die Vernehmung beschränkt. Eine andere Beweiserhebung, wie die Verlesung des Briefes, also einer Urkunde, gehöre nicht dazu. Für die Urkundenverlesung müsse A wieder anwesend sein (RdNr. 16).

5. Beruht das Urteil auf diesem Verfahrensfehler?

Ja!

Nach § 337 Abs. 1 StPO reicht es nicht aus, dass es im Prozess zu einem Fehler gekommen ist. Das Urteil muss vielmehr auch auf diesem Fehler beruhen. Ein Beruhen wird bei einer vorschriftswidrigen Abwesenheit aber gemäß § 338 Nr. 5 StPO unwiderlegbar vermutet. Nach ständiger Rechtsprechung greift § 338 Nr. 5 StPO aber nicht ein, wenn die Abwesenheit des Angeklagten keinen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung betrifft. BGH: Dies sei hier nicht der Fall. Eine Beweiserhebung sei grundsätzlich ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung. Ein Beruhen des Urteils werde daher unwiderlegbar vermutet und müsse nicht geprüft werden (RdNr. 20).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

AL

AliDaei24

12.4.2021, 20:39:16

Die Frage der Rüge des konkreten Verfahrensfehlers durch den Angeklagten ist doch keine Frage der Zulässigkeit der Revision!

Sue

Sue

12.6.2021, 23:15:25

Ich kann mir vorstellen, dass das evtl. missverständlich wirken kann. Da hier aber der Frage nachgegangen wird, OB diese Rüge einen Rechtsmittelverzicht darstellt, ist man damit in der Zulässigkeit schon richtig. Im Ergebnis wird dies aber ja zu Recht verneint, was schlussendlich auch aus dem Antworttext hervorgeht. In der Klausur ist das wohl ein typisches Beispiel für ‘Ansprechen und ablehnen, um zu zeigen, dass man das Problem kennt’

Sue

Sue

12.6.2021, 23:20:16

Oben müsste es heißen ...ob diese ‘Nicht-Rüge’... sorry, das macht es jetzt wahrscheinlich nur noch unübersichtlicher


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