Bei versuchter Unterlassung 1.2

22. November 2024

4,8(13.444 mal geöffnet in Jurafuchs)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
Tags
Klassisches Klausurproblem

T fährt versehentlich ihren Sohn S an, welcher dadurch in eine Grube fällt. T hört S danach schreien und weiß, dass S nicht schwer verletzt ist. T möchte sich jedoch die Geburtstagsgeschenke sparen und S in der Grube verhungern lassen. Sie fährt weiter und geht davon aus, dass S nur mit ihrer Hilfe aus der Grube kommt. S entkommt von selbst.

Diesen Fall lösen 80,6 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

Einordnung des Falls

Bei versuchter Unterlassung 1.2

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der versuchte Totschlag durch Unterlassen ist strafbar (§§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB).

Genau, so ist das!

Der Versuch durch Unterlassen ist dann strafbar, wenn es sich um ein Delikt handelt, bei dem der Versuch auch durch Handlung strafbar ist. Rechtsfolge des § 13 Abs. 1 StGB ist die Gleichstellung des Unterlassens mit einer Handlung im engeren Sinne. Dabei ist wie sonst auch der Versuch eines Verbrechens stets strafbar, der Versuch eines Vergehens nur dann, wenn das Gesetz es ausdrücklich bestimmt (§ 23 Abs. 1 StGB). Totschlag ist ein Verbrechen, da die angedrohte Mindestfreiheitsstrafe 5 Jahre beträgt (§§ 12 Abs. 1, 212 Abs. 1 StGB). Es kommt auch ein Mord aus niederen Beweggründen (§ 211 Abs. 2 Gr. 1 Var. 4 StGB) oder Grausamkeit (§ 211 Abs. 2 Gr. 2 Var. 2 StGB) in Betracht, da Verhungernlassen eine besonders qualvolle Art zu sterben ist.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. T hatte „Tatentschluss“ bezüglich der objektiven Merkmale des Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB).

Ja, in der Tat!

Es gelten die Maßstäbe, die auch sonst für den Versuch gelten, wobei der Täter die Merkmale der unechten Unterlassungstat ebenfalls in den Vorsatz aufnehmen muss. T hatte Vorsatz in Bezug auf die objektiven Merkmale des Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB), also die Tötung eines Menschen. Die hier vorliegende Zweiteilung dient der Verständlichkeit.

3. T hatte „Tatentschluss“, den Totschlag durch Unterlassen zu begehen.

Ja!

T hat eine Rettungsmöglichkeit erkannt und diese unterlassen, wobei sie billigend in Kauf nahm, dass durch die Handlungsmöglichkeit der Tod von S ausbleiben könnte (Quasi-Kausalität). T wusste auch, dass sie als Mutter von S eine besondere Verantwortungsposition innehatte. Auch erkannte T, dass sie die Gefährdung durch das fahrlässige Anfahren verursacht hat und daher für diese verantwortlich ist. Damit hat T Vorsatz bezüglich ihrer Beschützergarantenposition und ihrer Garantenposition durch Ingerenz in Form der Parallelwertung in ihrer Laiensphäre. Die Entsprechungsklausel ist bei § 212 StGB nach herrschender Meinung nicht relevant, da die Entsprechung bei einem Erfolgsdelikt durch die Garantenstellung hergestellt wird und die Art der Handlung nicht relevant ist.

4. Das unmittelbare Ansetzen beim Unterlassungsdelikt gleicht dem unmittelbaren Ansetzen durch Tätigkeit.

Nein, das ist nicht der Fall!

Das unmittelbare Ansetzen beim Unterlassungsdelikt weicht vom unmittelbaren Ansetzen beim Handlungsdelikt ab, da beim Handlungsdelikt am Vorgehen des Täters angeknüpft wird. Zwar lässt sich die gleiche Definition anwenden, allerdings sind die Kriterien beim Unterlassungsdelikt noch weniger greifbar, da regelmäßig nur an einen Zeitablauf angeknüpft wird und nicht an eine vom Täter vorgestellte Handlungskette.

5. T hat nach herrschender Meinung unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt, als sie weggefahren ist.

Nein, das trifft nicht zu!

Die herrschende Meinung geht daher von einem unmittelbaren Ansetzen (§ 22 StGB) aus, wenn die erste mögliche Rettungshandlung nicht vorgenommen wird (also das Geschen aus den Händen gegeben wird) und eine unmittelbare Gefahr für das geschützte Rechtsgut entsteht. T hat zwar die erste Rettungsmöglichkeit verstreichen lassen, doch bedarf es für das Verhungern einer gewissen Zeit. Eine unmittelbare Gefahr für das Leben von S lag daher noch nicht vor. Ein unmittelbares Ansetzen ist daher zum Zeitpunkt des Wegfahrens noch nicht gegeben.
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen
Jurafuchs
Eine Besprechung von:
Jurafuchs Brand
facebook
facebook
facebook
instagram

Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Larzed

Larzed

11.6.2022, 16:22:14

Aber T ging doch davon aus, dass S nur mit seiner Hilfe rauskommt. In dem Fall würde ich deshalb annehmen, dass die Rechtsgutsgefährdung schon hinreichend konkret nach der Vorstellung des T eingetreten ist. Um den Wertungen des § 22 StGB gerecht zu werden, müsste doch die Vorstellung des T auch beim Unterlassen relevant sein. Wenn sich T nur über das Verhungern Gedanken gemacht hätte und nicht, dass S nur mit seiner Hilfe rauskäme, würde ich das unmittelbare Ansetzen wie im Fall ablehnen. Oder liege ich falsch?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

16.6.2022, 14:25:19

Hallo Larzed, hier geht es ja um die Frage, ob T hier bereits zum Totschlag durch Unterlassen (§§ 212 Abs. 1, 13 StGB) angesetzt hat. Dazu müsste bereits durch das Wegfahren eine unmittelbare Todesgefahr für S eingetreten sein. Diese lag aber noch nicht vor, als T davongefahren ist, da der Mensch eine ganze Weile ohne Essen auskommen kann. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

FF0815

FF0815

22.7.2022, 00:15:37

Also beim Versuch/ Begehungsdelikt habt ihr andersrum argumentiert. Und da war auch eine a.M. vertretbar. Bin also hier eurer früheren Argumentation gefolgt und es war wieder falsch. (Einsperren, Fernbedienung ohne Batterien, verhungern lassen.)

Anwalp

Anwalp

10.11.2022, 14:42:56

Also würde ein

unmittelbares Ansetzen

etwa bei 2-3 Tagen beginnen oder? Da ist die Grenze doch viel zu schwammig oder nicht?

DIAA

Diaa

9.8.2023, 20:19:37

Müsste es sich bei der Gefährdung um körperliche Verletzungen handeln? Werden z.B. psychische Gefährdungen nicht umfasst? Wenn ein Kind in eine Grobe fällt, welche auch dunkel ist, würde das Kind sicherlich ein Trauma erleben, das ihn über jahrelang begleiten würde, zumindest psychisch..

LELEE

Leo Lee

11.8.2023, 12:45:13

Hallo Diaa, wenn das Kind lediglich Angst hat aber nichts weiter "pathologisch Objektivierbares" passiert, so liegt keine "Körper"Verletzung vor (aber sehr wohl §

225 StGB

). Wenn das Kind jedoch hierdurch jahrelang körperliche Symptome kriegt (z.B. dass er stumm wird), wird man wohl eine Körperverletzung annehmen können. Hierzu kann ich die Lektüre von Fischer StGB, 69. Auflage, § 223 Rn. 12 sehr empfehlen :). Liebe Grüße - für das Jurafuchsteam - Leo

nullumcrimen

nullumcrimen

26.4.2024, 17:58:44

Wie will man in so einem Fall eine klare Grenze ziehen? Kommt es auf die subjektive oder objektive Sicht an? Anders gefragt: beginnt der Versuch, sobald T denkt, dass das Kind nun jeden Augenblick verhungern könnte oder beginnt er, sobald das Kind tatsächlich in Lebensgefahr ist?

TI

Timurso

27.4.2024, 00:37:03

Es kommt auf die subjektive Sicht an. Wie bei nahezu allem im Rahmen des Versuchs. Das folgt unter anderem daraus, dass § 23 III ausdrücklich den untauglichen Versuch als strafbar deklariert. Dieser kann jedoch nur erfüllt werden, wenn es auf die Sicht des Täter ankommt, zu einer objektiven Gefahr kommt es beim untauglichen Versuch ja nie.

LELEE

Leo Lee

28.4.2024, 10:17:41

Hallo nullumcrimen, vielen Dank für die sehr gute Frage! Wie Timurso zu Recht angemerkt hat, ist bei Versuch immer aus subj. Sicht zu prüfen. Dies liegt daran, dass der Versuch eine reine

Vorsatz

prüfung ist (der Täter wollte etwas machen, hat es aber nicht geschafft). Deshalb prüfen wir die Tat von der Warte des Täters aus und konzentrieren uns auf das, was hätten passieren SOLLEN und nicht, was passiert IST. Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre vom MüKo-StGB 4. Auflage, Hoffmann-Holland § 22 Rn. 4 ff. sehr empfehlen :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

LELEE

Leo Lee

28.4.2024, 11:12:12

Hallo Timurso, vielen Dank auch hier für dein Feedback! In der Tat hat noch der teil mit „aus der Hand geben“ gefehlt bei der h.M., weshalb wir das als Klammerzusatz ergänzt haben. Beachte i.Ü., dass die konkrete Gefahr auch als „unmittelbare“ Gefahr umschrieben werden kann (hier unterscheiden sich etwa je nach Autor die Formulierungen) :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

TI

Timurso

27.4.2024, 00:43:45

Auch hier ist die h.M. im Maßstab der letzten Frage falsch wiedergegeben. H.M. ist nicht das unmittelbare Ansetzen beim Verstreichenlassen der ersten Handlungsmöglichkeit, sondern das aus der Hand Geben des Geschehens bzw. der Eintritt einer konkreten Gefahr.

G0D0FM

G0d0fMischief

29.10.2024, 16:48:15

Reicht es hier auf die Garantenstellung aus §§ 1626, 1629 BGB abzustellen oder wäre es sinnvoll zusätzlich noch auf die Ingerenz abzustellen?

LELEE

Leo Lee

16.11.2024, 04:11:07

Hallo G0d0fMischief, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! In den Fällen, in denen sowohl ein Fall des Beschützer- als auch ein Fall des Überwachergaranten einschlägig ist, ist es empfehlenswert, alle Möglichkeiten zu nennen und darunter zu subsumieren. Deshalb würden wir empfehlen, sich hier kurz (Strafrecht = Zeitmangel) zu halten, aber gleichzeitig alle Möglichkeiten zu erwähnen :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo


Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und mit 15.000+ Nutzer austauschen.
Kläre Deine Fragen zu dieser und 15.000+ anderen Aufgaben mit den 15.000+ Nutzern der Jurafuchs-Community
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen