Bei versuchter Unterlassung 1.2
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
T fährt versehentlich ihren Sohn S an, welcher dadurch in eine Grube fällt. T hört S danach schreien und weiß, dass S nicht schwer verletzt ist. T möchte sich jedoch die Geburtstagsgeschenke sparen und S in der Grube verhungern lassen. Sie fährt weiter und geht davon aus, dass S nur mit ihrer Hilfe aus der Grube kommt. S entkommt von selbst.
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Einordnung des Falls
Bei versuchter Unterlassung 1.2
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Der versuchte Totschlag durch Unterlassen ist strafbar (§§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB).
Genau, so ist das!
Jurastudium und Referendariat.
2. T hatte „Tatentschluss“ bezüglich der objektiven Merkmale des Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB).
Ja, in der Tat!
3. T hatte „Tatentschluss“, den Totschlag durch Unterlassen zu begehen.
Ja!
4. Das unmittelbare Ansetzen beim Unterlassungsdelikt gleicht dem unmittelbaren Ansetzen durch Tätigkeit.
Nein, das ist nicht der Fall!
5. T hat nach herrschender Meinung unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt, als sie weggefahren ist.
Nein, das trifft nicht zu!
Fundstellen
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Larzed
11.6.2022, 16:22:14
Aber T ging doch davon aus, dass S nur mit seiner Hilfe rauskommt. In dem Fall würde ich deshalb annehmen, dass die Rechtsgutsgefährdung schon hinreichend konkret nach der Vorstellung des T eingetreten ist. Um den Wertungen des § 22 StGB gerecht zu werden, müsste doch die Vorstellung des T auch beim Unterlassen relevant sein. Wenn sich T nur über das Verhungern Gedanken gemacht hätte und nicht, dass S nur mit seiner Hilfe rauskäme, würde ich das unmittelbare Ansetzen wie im Fall ablehnen. Oder liege ich falsch?
Lukas_Mengestu
16.6.2022, 14:25:19
Hallo Larzed, hier geht es ja um die Frage, ob T hier bereits zum Totschlag durch Unterlassen (§§ 212 Abs. 1, 13 StGB) angesetzt hat. Dazu müsste bereits durch das Wegfahren eine unmittelbare Todesgefahr für S eingetreten sein. Diese lag aber noch nicht vor, als T davongefahren ist, da der Mensch eine ganze Weile ohne Essen auskommen kann. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
FF0815
22.7.2022, 00:15:37
Also beim Versuch/ Begehungsdelikt habt ihr andersrum argumentiert. Und da war auch eine a.M. vertretbar. Bin also hier eurer früheren Argumentation gefolgt und es war wieder falsch. (Einsperren, Fernbedienung ohne Batterien, verhungern lassen.)
Anwalp
10.11.2022, 14:42:56
Also würde ein
unmittelbares Ansetzenetwa bei 2-3 Tagen beginnen oder? Da ist die Grenze doch viel zu schwammig oder nicht?
Diaa
9.8.2023, 20:19:37
Müsste es sich bei der Gefährdung um körperliche Verletzungen handeln? Werden z.B. psychische Gefährdungen nicht umfasst? Wenn ein Kind in eine Grobe fällt, welche auch dunkel ist, würde das Kind sicherlich ein Trauma erleben, das ihn über jahrelang begleiten würde, zumindest psychisch..
Leo Lee
11.8.2023, 12:45:13
Hallo Diaa, wenn das Kind lediglich Angst hat aber nichts weiter "pathologisch Objektivierbares" passiert, so liegt keine "Körper"Verletzung vor (aber sehr wohl §
225 StGB). Wenn das Kind jedoch hierdurch jahrelang körperliche Symptome kriegt (z.B. dass er stumm wird), wird man wohl eine Körperverletzung annehmen können. Hierzu kann ich die Lektüre von Fischer StGB, 69. Auflage, § 223 Rn. 12 sehr empfehlen :). Liebe Grüße - für das Jurafuchsteam - Leo
nullumcrimen
26.4.2024, 17:58:44
Wie will man in so einem Fall eine klare Grenze ziehen? Kommt es auf die subjektive oder objektive Sicht an? Anders gefragt: beginnt der Versuch, sobald T denkt, dass das Kind nun jeden Augenblick verhungern könnte oder beginnt er, sobald das Kind tatsächlich in Lebensgefahr ist?
Timurso
27.4.2024, 00:37:03
Es kommt auf die subjektive Sicht an. Wie bei nahezu allem im Rahmen des Versuchs. Das folgt unter anderem daraus, dass § 23 III ausdrücklich den untauglichen Versuch als strafbar deklariert. Dieser kann jedoch nur erfüllt werden, wenn es auf die Sicht des Täter ankommt, zu einer objektiven Gefahr kommt es beim untauglichen Versuch ja nie.
Leo Lee
28.4.2024, 10:17:41
Hallo nullumcrimen, vielen Dank für die sehr gute Frage! Wie Timurso zu Recht angemerkt hat, ist bei Versuch immer aus subj. Sicht zu prüfen. Dies liegt daran, dass der Versuch eine reine
Vorsatzprüfung ist (der Täter wollte etwas machen, hat es aber nicht geschafft). Deshalb prüfen wir die Tat von der Warte des Täters aus und konzentrieren uns auf das, was hätten passieren SOLLEN und nicht, was passiert IST. Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre vom MüKo-StGB 4. Auflage, Hoffmann-Holland § 22 Rn. 4 ff. sehr empfehlen :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo
Leo Lee
28.4.2024, 11:12:12
Hallo Timurso, vielen Dank auch hier für dein Feedback! In der Tat hat noch der teil mit „aus der Hand geben“ gefehlt bei der h.M., weshalb wir das als Klammerzusatz ergänzt haben. Beachte i.Ü., dass die konkrete Gefahr auch als „unmittelbare“ Gefahr umschrieben werden kann (hier unterscheiden sich etwa je nach Autor die Formulierungen) :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo
Timurso
27.4.2024, 00:43:45
Auch hier ist die h.M. im Maßstab der letzten Frage falsch wiedergegeben. H.M. ist nicht das unmittelbare Ansetzen beim Verstreichenlassen der ersten Handlungsmöglichkeit, sondern das aus der Hand Geben des Geschehens bzw. der Eintritt einer konkreten Gefahr.
G0d0fMischief
29.10.2024, 16:48:15
Reicht es hier auf die Garantenstellung aus §§ 1626, 1629 BGB abzustellen oder wäre es sinnvoll zusätzlich noch auf die Ingerenz abzustellen?
Leo Lee
16.11.2024, 04:11:07
Hallo G0d0fMischief, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! In den Fällen, in denen sowohl ein Fall des Beschützer- als auch ein Fall des Überwachergaranten einschlägig ist, ist es empfehlenswert, alle Möglichkeiten zu nennen und darunter zu subsumieren. Deshalb würden wir empfehlen, sich hier kurz (Strafrecht = Zeitmangel) zu halten, aber gleichzeitig alle Möglichkeiten zu erwähnen :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo