Versäumnisurteil trotz Prozessunfähigkeit

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
Tags
Assessorexamen

Berufungsbeklagte B beruft sich auf ihre Prozessunfähigkeit. Ein Sachverständiger kann ihre Prozessfähigkeit mangels Befundes nicht endgültig feststellen. B erscheint nicht vor Gericht und es ergeht ein Versäumnisurteil. B legt Einspruch ein. Beim Termin fehlt sie wieder. Es ergeht ein zweites Versäumnisurteil.

Diesen Fall lösen 76,9 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

Einordnung des Falls

Versäumnisurteil trotz Prozessunfähigkeit

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Revision ist als unzulässig abzuweisen, da B ja nach eigener Aussage prozessunfähig ist.

Nein, das trifft nicht zu!

Bis zur Klärung der Prozess(un)fähigkeit ist die Partei als prozessfähig anzusehen. Ist auch nach Ausschöpfung jeglicher Erkenntnisquellen die Prozessfähigkeit nicht mit Sicherheit feststellbar, ist die Partei als prozessunfähig anzusehen (Weth, in Musielak/Voit, ZPO, 18.A. 2021, § 52 Rdnr. 6). Bs Behauptung, prozessunfähig zu sein, steht der Zulässigkeit ihrer Revision nicht entgegen.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. Die Revision ist begründet, wenn keine Säumnis vorlag. Ist eine Partei prozessunfähig, kann sie auch nicht säumig sein.

Ja!

Es liegt keine Säumnis im Rechtssinne vor, wenn die in den §§ 335, 337 ZPO genannten Voraussetzungen nicht vorliegen. Denn ohne diese Voraussetzungen darf kein Versäumnisurteil ergehen. Dazu gehört gemäß § 335 Abs. 1 Nr. 1 ZPO der Fall, dass die erschienene Partei einen vom Gericht von Amts wegen zu berücksichtigenden Umstand nicht nachweisen kann. Diese Voraussetzung gilt im erstinstanzlichen Verfahren ebenso wie in der Berufung, § 525 ZPO. Die Prozessfähigkeit ist gemäß § 56 ZPO eine von Amts wegen zu prüfende Prozessvoraussetzung. Ohne ihr Vorliegen kann eine Säumnis im Rechtsinne nicht bestehen, auch wenn die Partei vor Gericht nicht erscheint. Ein Versäumnisurteil darf dann nicht ergehen.

3. Bei der Prüfung der Prozessfähigkeit ist das Gericht an die in der ZPO geregelten Beweismittel gebunden (Strengbeweis).

Nein, das ist nicht der Fall!

Bei von Amts wegen zu prüfenden Prozessvoraussetzungen gilt der Grundsatz des Freibeweises. Das Gericht ist somit nicht an die förmlichen Beweismittel der ZPO (Sachverständiger, Augenschein, Partei, Urkunde, Zeuge) gebunden. Vielmehr kann das Gericht alle ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen nutzen, wobei das Verfahren und die Beweismittel im Ermessen des Gerichts stehen (Seiler, in: Thomas/Putzo, ZPO, 41.A.2020, Vor § 284, Rdnr. 6). Beispiele für die Beweiserhebung im Freibeweis sind etwa telefonisch eingeholte Auskünfte durch den Richter oder die Richterin oder das Nutzen von Urkunden oder Sachverständigengutachten ohne Einhaltung der Formalitäten.

4. Da der Sachverständige im vorliegenden Fall die Prozessunfähigkeit nicht endgültig feststellen konnte, ist das Gericht gehalten, weitere Nachforschungen zu tätigen. Scheitern diese, gilt B als prozessunfähig.

Ja, in der Tat!

Das Gericht muss sämtliche Erkenntnisquellen ausnutzen, die zur Beurteilung der Prozessfähigkeit zur Verfügung stehen. Bleiben danach immer noch Zweifel an der Prozessfähigkeit, ist die betroffene Partei als prozessunfähig anzusehen. Im vorliegenden Fall hat das Berufungsgericht nicht sämtliche Erkenntnisquellen ausgenutzt, sondern sich mit dem Sachverständigengutachten zufrieden gegeben, das zu keinem finalen Ergebnis kam. Der BGH hat den Rechtsstreit wegen des fehlerhaften Freibeweises des Gerichts über die Prozessfähigkeit der B für eine erneute Beweiserhebung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

5. Ist die beklagte Partei prozessunfähig, ergeht ein klageabweisendes Sachurteil.

Nein!

Liegt eine Prozessvoraussetzung bis zur letzten mündlichen Verhandlung nicht vor, kann kein Sachurteil (d.h. auch kein Versäumnisurteil), sondern nur ein Prozessurteil ergehen. So liegt es bei der Prozessunfähigkeit. Über den von der Klägerin geltend gemachte Anspruch wird somit nicht materiell entschieden, sodass sich auch die Rechtskraft nicht auf die (Un)Begründetheit des Anspruchs erstreckt, §§ 322 Abs. 1, 325 Abs. 1 ZPO. Vielmehr wird die Klage als unzulässig abgewiesen. Bevor das Prozessurteil ergeht, kann das Verfahren vertagt werden, um die Behebung der Prozessunfähigkeit zu ermöglichen (Weth, in: Musielak/Voit, ZPO, 18.A.2021, § 57 ZPO Rdnr. 2). Um auch gegen eine prozessunfähige Partei ein Sachurteil erlangen zu können, muss die Partei entweder durch einen rechtlichen Betreuer gemäß § 1814 BGB vertreten werden oder gemäß § 57 ZPO ein Prozesspfleger bestellt werden.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

Jurafuchs kostenlos testen


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

PPAA

Philipp Paasch

28.6.2022, 23:53:22

Wird ja auch Zeit, dass einer dem Grudge-Mädchen mal den Prozess macht. 😅

QUIG

QuiGonTim

21.9.2023, 07:12:27

Warum ist § 335 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hier einschlägig? Die Norm sieht als Voraussetzung das Erscheinen der Partei vor. B ist vorliegend doch gar nicht erschienen.

DO

Doli

2.11.2023, 18:48:16

Die ERSCHIENENE Partei -> die den den Antrag auf Erlass eines VU gegen B gestellt hat


© Jurafuchs 2024