Zivilrecht

Examensrelevante Rechtsprechung ZR

Entscheidungen von 2021

Sekundäre Darlegungslast von VW in Bezug auf unzulässige Abschalteinrichtungen

Sekundäre Darlegungslast von VW in Bezug auf unzulässige Abschalteinrichtungen

27. Dezember 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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Diesel-Abgasskandal

K kauft von D einen VW Eos. Das Fahrzeug verfügt über die „Dieselskandal-Software“ und hält deshalb im Prüfbetrieb, nicht aber im Normalbetrieb die Abgasnorm Euro 5 ein. K behauptet, frühere Vorstände von VW hätten den Einsatz der Software gebilligt. Sie klagt gegen VW auf Schadensersatz.

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Einordnung des Falls

Sekundäre Darlegungslast von VW in Bezug auf unzulässige Abschalteinrichtungen

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Da K das Fahrzeug nicht von VW, sondern von einem Dritten gekauft hat, kommen als Anspruchsgrundlage nur deliktische Ansprüche in Betracht.

Ja, in der Tat!

Vertragliche Ansprüche aus dem Mängelgewährleistungsrecht bestehen nur gegen den Verkäufer, nicht aber gegen den Hersteller. Gegenüber dem Hersteller (VW) können K deshalb nur deliktische Ansprüche zustehen. Der Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB erfordert (1) ein sittenwidriges Verhalten des Schädigers, (2) einen kausalen Schaden und (3) Vorsatz des Schädigers.In Betracht kommt zudem eine Haftung des Herstellers aus § 823 Abs. 2 BGB iVm § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV. Der BGH hatte sich bislang skeptisch gezeigt, ob diese Vorschriften Schutzgesetze darstellen. Entsprechend der jüngsten Rechtsprechung des EuGH dürfte dies nunmehr allerdings zu bejahen sein.
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2. Das Inverkehrbringen des mit der Abschalt-Software ausgestatteten Fahrzeugs ist ein sittenwidriges Verhalten gemäß § 826 BGB.

Ja!

Sittenwidrig ist ein Verhalten, das dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden widerspricht (vgl. BGH NJW 1991, 914) BGH: VW habe aus reinem Gewinnstreben Fahrzeuge mit unzulässigen Abschalteinrichtungen unter bewusster Ausnutzung der Arglosigkeit der Erwerber und unter Inkaufnahme von Umweltbelastungen sowie Betriebsuntersagungen durch das Kraftfahrt-Bundesamt in den Verkehr gebracht. Dies verstoße gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden (RdNr. 13).

3. Das sittenwidrige Verhalten muss VW auch zurechenbar sein.

Genau, so ist das!

Die Volkswagen AG kann als juristische Person (§ 1 Abs. 1 S. 1 AktG) keine eigenen Handlungen ausführen, sondern handelt durch ihre Organe. Deren Verhalten wird VW analog § 31 BGB zugerechnet. Das sittenwidrige Verhalten muss also von einem verfassungsmäßig berufenen Vertreter der Volkswagen AG ausgehen (vgl. RdNr. 15).

4. VW trägt die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass sich jemand anderes als ein verfassungsmäßig berufener Vertreter sittenwidrig verhalten hat.

Nein, das trifft nicht zu!

Im zivilgerichtlichen Verfahren muss grundsätzlich die Partei, die sich auf eine für sie günstige Rechtsnorm beruft, darlegen und beweisen, dass die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Norm erfüllt sind. Abweichungen von diesem Grundsatz macht das Gesetz vor allem durch negative Formulierungen deutlich (etwa in § 280 Abs. 1 S. 2 BGB). §§ 826, 31 BGB enthalten keine negativen Formulierungen, die auf eine Umkehr der Darlegungs- und Beweislast hindeuten. K trägt deshalb die Darlegungs- und Beweislast für sämtliche anspruchsbegründenden Tatsachen (RdNr. 15).

5. Die Rechtsfigur der sekundären Darlegungslast modifiziert in bestimmten Fällen die Grundsätze zur Darlegungs- und Beweislast.

Ja!

Die nicht darlegungsbelastete Partei kann eine sekundäre Darlegungslast treffen. Sie muss dann substantiiert zu dem streitigen Tatbestandsmerkmal vortragen. Erst wenn dieser Vortrag erfolgt ist, greift die volle Darlegungs- und Beweislast derjenigen Partei, zu deren Gunsten sich die Tatbestandsmerkmale auswirken. Unterbleibt er, gilt der gegnerische Vortrag als zugestanden (§ 138 Abs. 3 ZPO) (RdNr. 16). Voraussetzung ist, dass die primär darlegungsbelastete Partei die maßgeblichen Umstände weder kennt, noch im Rahmen ihrer Möglichkeiten in Erfahrung bringen kann und andererseits die andere Partei über entsprechende Kenntnisse verfügt bzw. sich diese Kenntnisse durch zumutbare Nachforschungen aneignen kann.

6. Vorliegend trifft VW eine sekundäre Darlegungslast hinsichtlich der Frage, ob und, falls ja, welche Vorstandsmitglieder den Einsatz der Software angeordnet oder gebilligt haben.

Genau, so ist das!

BGH: K stehe außerhalb des maßgeblichen Geschehensablaufs und könne den Sachverhalt nicht von sich aus ermitteln (RdNr. 18). Die streitgegenständlichen Umstände beträfen unternehmensinterne Abläufe und Entscheidungsprozesse. Deshalb sei es andererseits VW möglich und zumutbar, hierzu vorzutragen und gegebenenfalls Nachforschungen anzustellen.

7. Sofern VW seiner sekundären Darlegungslast nicht genügt, kann K gemäß § 826 BGB Schadensersatz verlangen.

Ja, in der Tat!

Der Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB erfordert (1) ein zurechenbares sittenwidriges Verhalten, (2) einen kausalen Schaden und (3) Vorsatz des Schädigers. Das Inverkehrbringen des mit einer unzulässigen Abschalt-Software ausgestatteten Fahrzeugs ist ein sittenwidriges Verhalten. Infolgedessen hat K einen Fahrzeugkauf getätigt, von dem sie ohne das sittenwidrige Verhalten abgesehen hätte, sodass ihr auch ein kausaler Schaden entstanden ist. Vorsatz und Zurechenbarkeit (§ 31 BGB) des Verhaltens gelten nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast als zugestanden, solange VW substantiierten Vortrag hierzu unterlässt. Weitere Problemkreise des VW-Dieselskandals haben wir zusammen mit den entsprechenden Entscheidungen gesondert für Dich aufbereitet (z.B. BGH NJW 2020, 1962 zu Sittenwidrigkeit und Schaden; BGH MDR 2021, 230 zur Verjährung).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

CLA

chuck lawris

3.9.2021, 14:19:56

Hier hätte ich die Prüfung aus KV und mehr dazugehörige Fragen vorangestellt, damit es noch klarer wird, warum der Verkäufer nicht haftet. Schließlich könnte man den Hersteller als

Erfüllungsgehilfe

n sehen; ist er aber nicht, da...

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

1.11.2021, 10:41:39

Vielen Dank für den Hinweis, chuck! Sofern die Fallfrage in einer Klausur lautet: "Welche Ansprüche stehen K zu" bzw. "wie ist die Rechtslage", so müsste man definitiv zunächst mit den kaufvertraglichen Gewährleistungsrechten anfangen und sich damit auseinandersetzen, wie es hier im Verhältnis K und D aussieht. Denn auch wenn VW nicht

Erfüllungsgehilfe

des Händlers ist, so kann die Käuferin zumindest wegen des Mangels vom Vertrag zurücktreten. Hier kommt es nicht auf ein Verschulden des Händlers an. Beim Schadensersatz wäre sodann zu erkennen, dass der Hersteller - wie Du völlig richtig erwähnt hat - gerade nicht für den Händler als

Erfüllungsgehilfe

iSv

§ 278 BGB

tätig ist und sein Verschulden dem Händler nicht zuzurechnen wäre. Um den Fall aber hier nicht übermäßig zu strecken, sondern die Prüfung auf den Kern der Entscheidung zu fokussieren, haben wir auf dieses Vorgeplänkel verzichtet und haben auch den Sachverhalt schon auf einen SE-Anspruch gegen VW fokussiert. In der Praxis hat dies auch den Hintergrund, dass die Mängelgewährleistungsrechte vieler Käufer ohnehin bereits verjährt waren und insoweit nur noch deliktische Ansprüche in Betracht kamen. Die vorgeschalteten Fragen behandeln wir aber in unseren systematischen Kursen ausführlich. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

ri

ri

8.10.2021, 18:11:44

Woran scheitert die Produzentenhaftung und die Haftung nach ProdHaftG?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

12.10.2021, 17:09:36

Hallo ri, sowohl die Produzentenhaftung nach

§ 823

BGB als auch die Haftung nach dem Produkthaftungsgesetz setzt voraus, dass ein anderes Rechtsgut betroffen ist. Im Hinblick auf die Verletzung des Eigentums des K gelten dabei die gleichen Maßstäbe, wie auch in den sog. Fällen des "

Weiterfresserschaden

s" (zB kleines fehlerhaftes Bauteil führt zu Beschädigung an gesamtem Produkt). Hier wurde aber bei K kein anderes Rechtsgut in Mitleidenschaft gezogen, vielmehr erhielt K von Anfang an ein mangelhaftes Fahrzeug. Dies stellt indes keine

Eigentumsverletzung

iSd

§ 823 Abs. 1 BGB

bzw. Sachbeschädigung iSd § 1 Abs. 1 ProdHaftG dar. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

CAR

Carlotta

6.12.2021, 20:08:00

Aber würde nun ein

weiterfresserschaden

vorliegen könnte man 823 I und 1 ProdHaftG bejahen oder ? Und müsste man nicht noch

831 BGB

anprüfen?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

7.12.2021, 09:26:54

Hallo Carlotta, im Hinblick auf die "andere Sache" im Rahmen des Produkthaftungsgesetzes wird der "

Weiterfresserschaden

" von der herrschenden Meinung abgelehnt. Dies hat vor allem den Hintergrund, dass das Gesetz auf einer EU-Richtlinie (Produkthaftungsrichtlinie) beruht, durch die nicht in das Mängelgewährleistungsrecht eingegriffen werden sollte. Der

Weiterfresserschaden

kann also allein bei

§ 823 Abs. 1 BGB

zu einer Haftung führen (zur Vertiefung: Förster, in: BeckOK-BGB, 60.Ed. 1.11.2021, § 1 ProdHaftG). §

831 BGB

setzt voraus, dass ein

Erfüllungsgehilfe

eine Pflichtverletzung begeht. Vorstände sind indes keine Mitarbeiter, sondern die Organe des Unternehmens selbst. Eine Gesellschaft haftet indes nach

§ 31 BGB

(analog) unmittelbar für deren Handeln, weswegen für deren Fehlverhalten direkt auf

§ 823 Abs. 1 BGB

abzustellen ist. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

CAR

Carlotta

7.12.2021, 19:03:48

Alles klar, danke!:)

PPAA

Philipp Paasch

18.6.2022, 23:31:59

Für mich ist es an sich absolut nicht nachvollziehbar, wieso die Software eine "vorsätzliche und sittenwidrige" Schädigung sein soll. Der Mensch darf mit allen verschiedenen Möglichkeiten die Luft verpesten. Es darf nach Belieben gegrillt werden, Öl und Altstoffe werden in Tonnen verbrannt, Kleinfeuerungsanlagen verpesten die Luft und Autos mit Abgasnorm Totenkopf dürfen überall langfahren, ohne Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Dass einige Autos ein bisschen mehr CO2 ausstoßen, kann die Käufer doch nicht wirklich interessieren. Das scheinen mir vorgeschobene Argumente für das Gewinnstreben Einzelner zu sein. Zugleich als Retourkutsche und auf dem Rücken eines teilweise ins Nicht-EU-Ausland emigrierten deutschen Automobilherstellers und für den Kampf gegen den Otto-Motor, unter dem Deckmantel einer neu entdeckten Klimaempfindlichkeit. Und ich sage das, obwohl ich selbst ein Öko-Fanatiker bin. Am liebsten überall Umweltzonen und Tempo 30, und an jeder 2. Ecke eine Radarkontrolle. 🤷‍♂️

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

20.6.2022, 10:53:34

Hallo Phillipp, offene

Tat

bestände wie die vorsätzliche und sittenwidrige Schädigung (

§ 826 BGB

) bergen natürlich immer die Gefahr, dass ihre Anwendung "beliebig" erscheint. Maßgeblicher Grund für die Annahme der sittenwidrigen Schädigung ist aber nicht nur, dass "einige Autos ein bisschen mehr CO2 ausstoßen", sondern, dass den Käufern hierdurch eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung der betroffenen Fahrzeuge drohen kann (vgl. RdNr. 13). Allein der Verweis darauf, dass auch in anderen Bereich einiges im Argen liegt, macht VWs Handeln insoweit weder besser, noch rechtfertigt es dieses. Beste Grüße, Lukas

Dogu

Dogu

28.7.2023, 19:30:58

Wie soll mit einer SE-Vorschrift denn ein "Gewinnstreben" verfolgt werden? Es gilt doch

Naturalrestitution

, d.h. es ist nur ein entstandener Schaden zu ersetzen? In Deutschland gibt es keinen Strafschadensersatz.

JO

JonasRehder

10.5.2023, 12:10:54

Das allein ein Anspruch aus

§ 826

überhaupt in Betracht kommt, halte ich für ein wenig kurz gegriffen. Man könnte der Vollständigkeit halber darüber hinaus auch noch an §

§ 823 II

BGB iVm § 263 StGB denken sowie iVm §§ 6 I, 27 I der EG-Fahrzeugsgenehmigungsverordnung (schutzgesetzcharakter str.). Dabei bleibt natürlich

§ 826

hauptsächlich zu prüfen, aber allein darauf abzustellen fände ich wie gesagt verkürzt.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

16.5.2023, 14:21:17

Hallo Jonas, vielen Dank für den guten Hinweis! Die Frage war hier in der

Tat

sehr scharf formuliert. Wir haben das entsprechend abgeschwächt! Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

FAP

falsus procurator

2.7.2023, 18:47:27

§

§ 823 II

i.V.m 263 kommt doch nicht in Betracht. VW als juristische Person kann sich doch nicht wegen Betruges strafbar gemacht haben. Der Anspruch könnte wenn dann nur gegen die handelnde Person bestehen aber danach ist doch nicht gefragt.


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