Zivilrecht

Examensrelevante Rechtsprechung ZR

Entscheidungen von 2021

Sekundäre Darlegungslast von VW in Bezug auf unzulässige Abschalteinrichtungen

Sekundäre Darlegungslast von VW in Bezug auf unzulässige Abschalteinrichtungen

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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Diesel-Abgasskandal

K kauft von D einen VW Eos. Das Fahrzeug verfügt über die „Dieselskandal-Software“ und hält deshalb im Prüfbetrieb, nicht aber im Normalbetrieb die Abgasnorm Euro 5 ein. K behauptet, frühere Vorstände von VW hätten den Einsatz der Software gebilligt. Sie klagt gegen VW auf Schadensersatz.

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Einordnung des Falls

Sekundäre Darlegungslast von VW in Bezug auf unzulässige Abschalteinrichtungen

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Da K das Fahrzeug nicht von VW, sondern von einem Dritten gekauft hat, kommen als Anspruchsgrundlage nur deliktische Ansprüche in Betracht.

Ja, in der Tat!

Vertragliche Ansprüche aus dem Mängelgewährleistungsrecht bestehen nur gegen den Verkäufer, nicht aber gegen den Hersteller. Gegenüber dem Hersteller (VW) können K deshalb nur deliktische Ansprüche zustehen. Der Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB erfordert (1) ein sittenwidriges Verhalten des Schädigers, (2) einen kausalen Schaden und (3) Vorsatz des Schädigers.In Betracht kommt zudem eine Haftung des Herstellers aus § 823 Abs. 2 BGB iVm § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV. Der BGH hatte sich bislang skeptisch gezeigt, ob diese Vorschriften Schutzgesetze darstellen. Entsprechend der jüngsten Rechtsprechung des EuGH dürfte dies nunmehr allerdings zu bejahen sein.
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2. Das Inverkehrbringen des mit der Abschalt-Software ausgestatteten Fahrzeugs ist ein sittenwidriges Verhalten gemäß § 826 BGB.

Ja!

Sittenwidrig ist ein Verhalten, das dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden widerspricht (vgl. BGH NJW 1991, 914) BGH: VW habe aus reinem Gewinnstreben Fahrzeuge mit unzulässigen Abschalteinrichtungen unter bewusster Ausnutzung der Arglosigkeit der Erwerber und unter Inkaufnahme von Umweltbelastungen sowie Betriebsuntersagungen durch das Kraftfahrt-Bundesamt in den Verkehr gebracht. Dies verstoße gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden (RdNr. 13).

3. Das sittenwidrige Verhalten muss VW auch zurechenbar sein.

Genau, so ist das!

Die Volkswagen AG kann als juristische Person (§ 1 Abs. 1 S. 1 AktG) keine eigenen Handlungen ausführen, sondern handelt durch ihre Organe. Deren Verhalten wird VW analog § 31 BGB zugerechnet. Das sittenwidrige Verhalten muss also von einem verfassungsmäßig berufenen Vertreter der Volkswagen AG ausgehen (vgl. RdNr. 15).

4. VW trägt die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass sich jemand anderes als ein verfassungsmäßig berufener Vertreter sittenwidrig verhalten hat.

Nein, das trifft nicht zu!

Im zivilgerichtlichen Verfahren muss grundsätzlich die Partei, die sich auf eine für sie günstige Rechtsnorm beruft, darlegen und beweisen, dass die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Norm erfüllt sind. Abweichungen von diesem Grundsatz macht das Gesetz vor allem durch negative Formulierungen deutlich (etwa in § 280 Abs. 1 S. 2 BGB). §§ 826, 31 BGB enthalten keine negativen Formulierungen, die auf eine Umkehr der Darlegungs- und Beweislast hindeuten. K trägt deshalb die Darlegungs- und Beweislast für sämtliche anspruchsbegründenden Tatsachen (RdNr. 15).

5. Die Rechtsfigur der sekundären Darlegungslast modifiziert in bestimmten Fällen die Grundsätze zur Darlegungs- und Beweislast.

Ja!

Die nicht darlegungsbelastete Partei kann eine sekundäre Darlegungslast treffen. Sie muss dann substantiiert zu dem streitigen Tatbestandsmerkmal vortragen. Erst wenn dieser Vortrag erfolgt ist, greift die volle Darlegungs- und Beweislast derjenigen Partei, zu deren Gunsten sich die Tatbestandsmerkmale auswirken. Unterbleibt er, gilt der gegnerische Vortrag als zugestanden (§ 138 Abs. 3 ZPO) (RdNr. 16). Voraussetzung ist, dass die primär darlegungsbelastete Partei die maßgeblichen Umstände weder kennt, noch im Rahmen ihrer Möglichkeiten in Erfahrung bringen kann und andererseits die andere Partei über entsprechende Kenntnisse verfügt bzw. sich diese Kenntnisse durch zumutbare Nachforschungen aneignen kann.

6. Vorliegend trifft VW eine sekundäre Darlegungslast hinsichtlich der Frage, ob und, falls ja, welche Vorstandsmitglieder den Einsatz der Software angeordnet oder gebilligt haben.

Genau, so ist das!

BGH: K stehe außerhalb des maßgeblichen Geschehensablaufs und könne den Sachverhalt nicht von sich aus ermitteln (RdNr. 18). Die streitgegenständlichen Umstände beträfen unternehmensinterne Abläufe und Entscheidungsprozesse. Deshalb sei es andererseits VW möglich und zumutbar, hierzu vorzutragen und gegebenenfalls Nachforschungen anzustellen.

7. Sofern VW seiner sekundären Darlegungslast nicht genügt, kann K gemäß § 826 BGB Schadensersatz verlangen.

Ja, in der Tat!

Der Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB erfordert (1) ein zurechenbares sittenwidriges Verhalten, (2) einen kausalen Schaden und (3) Vorsatz des Schädigers. Das Inverkehrbringen des mit einer unzulässigen Abschalt-Software ausgestatteten Fahrzeugs ist ein sittenwidriges Verhalten. Infolgedessen hat K einen Fahrzeugkauf getätigt, von dem sie ohne das sittenwidrige Verhalten abgesehen hätte, sodass ihr auch ein kausaler Schaden entstanden ist. Vorsatz und Zurechenbarkeit (§ 31 BGB) des Verhaltens gelten nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast als zugestanden, solange VW substantiierten Vortrag hierzu unterlässt. Weitere Problemkreise des VW-Dieselskandals haben wir zusammen mit den entsprechenden Entscheidungen gesondert für Dich aufbereitet (z.B. BGH NJW 2020, 1962 zu Sittenwidrigkeit und Schaden; BGH MDR 2021, 230 zur Verjährung).
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