Haftung bei „ganzheitlicher Zahnmedizin“

23. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

P hat starke Zahnschmerzen und lässt sich von Zahnarzt Z „ganzheitlich“ behandeln. Z entfernt die oberen Backenzähne und fräst die Kieferknochen „gründlich“ aus. P verliert Kau-, Gebiss- und Implantatfähigkeit. Bei schulmedizinischer Behandlung wäre das nicht passiert.

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Einordnung des Falls

Haftung bei „ganzheitlicher Zahnmedizin

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Anwendung von schulmedizinisch nicht anerkannten Therapieformen stellt eine Pflichtverletzung dar.

Nein!

Die Anwendung von nicht allgemein anerkannten Therapieformen ist rechtlich grundsätzlich erlaubt. BGH: Entscheidend sei, dass jeder Patient, bei dem eine von der Schulmedizin (noch) nicht anerkannte Behandlungsmethode angewendet wird, innerhalb der Grenzen der §§ 138 BGB, 228 StGB „eigenverantwortlich entscheiden kann, welchen Behandlungen er sich unterziehen will“ (RdNr. 6). Die wirksame Einwilligung setzt Einwilligungsfähigkeit sowie eine hinreichende Aufklärung nach § 630a BGB voraus.
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2. Z hat einen Behandlungsfehler begangen, indem er einen hochinvasiven Eingriff vorgenommen hat, der zu Gesundheitsschäden der P geführt hat, die bei schulmedizinischer Behandlung nicht eingetreten wären.

Genau, so ist das!

BGH: Bei der Wahl einer Therapieform sei das dargestellte Prüfprogramm von Indikation, Abwägung und Prognose maßgeblich. Je schwerer der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Patienten, desto höher seien die Anforderungen an die medizinische Vertretbarkeit der gewählten Behandlungsmethode (RdNr. 7). Hier ist besonders zu berücksichtigen, dass es infolge der Behandlung zu irreparablen Schäden bei P kam.

3. Ob eine alternative Behandlungsmethode einen Behandlungsfehler darstellt, kann vor Gericht nur ein Sachverständiger beurteilen, der sich mit der betreffenden alternativen Behandlungsmethode auskennt.

Ja, in der Tat!

Sachverständige müssen über die erforderliche Sachkunde verfügen. Sie dürfen nicht nur in einem Teilbereich sachkundig sein, wenn Sachverständige mit umfassender Sachkunde verfügbar sind. BGH: Der Sachverständige müsse mit der ganzheitlichen Zahnmedizin „in Theorie und Praxis“ vertraut sein [wohl nicht: diese praktizieren]. Dies gelte umso mehr, als der gerichtlich bestellte Sachverständige offengelegt hat, sich selbst nicht ausführlich mit der Alternativmedizin befasst zu haben, und zwei ihm geeignet erscheinende Sachverständige benannt hat (RdNr. 8). Konsequenz: BGH hat zur erneuten Beweisaufnahme zurückverwiesen.

4. Der ärztliche Behandlungsvertrag ist als Werkvertrag (§ 631 BGB) zu qualifizieren.

Nein!

Gegenstand des Werkvertrags ist die Herbeiführung eines bestimmten Erfolgs. Der Gesetzgeber hat durch Einfügung der §§ 630a ff. BGB (im Jahr 2013) zum Ausdruck gebracht, dass der Behandlungsvertrag ein besonderer Dienstvertrag ist. Das ergibt sich aus der Überschrift zu Titel 8 „Dienstvertrag und andere Verträge“. Daher verpflichtet § 630a Abs. 1 BGB den Arzt nicht zur Erzielung eines bestimmten Erfolgs, sondern nur zur Erbringung einer medizinischen Maßnahme, die nach den Regeln der ärztlichen Kunst erforderlich ist, um den gewünschten Heilerfolg zu erreichen.

5. Die Auswahl der richtigen Therapieform steht im freien Ermessen des behandelnden Arztes.

Nein, das ist nicht der Fall!

Voraussetzung für die Wahl einer Therapieform ist eine entsprechende Indikation auf Grundlage der Diagnostik. Ausgehend hiervon muss der Arzt sorgfältig und gewissenhaft abwägen zwischen Risiko und Schwere der Maßnahme auf der einen Seite sowie Zweck und Erfolgsaussichten der Maßnahme auf der anderen Seite. Erforderlich ist zudem eine Prognose des Zustands des Patienten nach Vornahme der Behandlung im Vergleich zu seinem Zustand ohne Behandlung. BGH: Bei der Abwägung dürften die Untersuchungs- und Behandlungsmöglichkeiten der Schulmedizin nicht aus dem Blick verloren werden (RdNr. 7).

6. Wenn Z ein Behandlungsfehler zur Last fällt, hat P einen Schadensersatzanspruch nach § 280 Abs. 1 BGB.

Ja, in der Tat!

Die §§ 630a ff. BGB enthalten keine eigenständigen Regeln zur Schlechterfüllung des Behandlungsvertrags. Es gelten deshalb für Schadensersatzansprüche des Patienten die allgemeinen Regeln. Einzige Ausnahme ist § 630h, der eine Abweichung von der Beweislastverteilung (§ 280 Abs. 1 S. 2 BGB) für das Verhältnis Arzt und Patient enthält.

7. Eine Pflichtverletzung des Z kann neben falscher Diagnose oder fehlerhafter Therapie auch in einer Aufklärungspflichtverletzung bestehen.

Ja!

Das ärztliche Pflichtenspektrum ist umfangreich und hinsichtlich der Pflichtverletzungen stets zu differenzieren. Behandlungsfehler liegen vor allem vor, wenn der Arzt keine umfassende Diagnose oder keine Behandlung „lege artis“ vornimmt. Daneben kommt ein Aufklärungsfehler in Betracht, wenn der Arzt nicht ordnungsgemäß aufklärt (§ 630e BGB). Die Aufklärung ist wichtig, weil sie Grundlage der Einwilligung des Patienten ist (§ 630d BGB).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

ZAV

Zavviny

19.9.2020, 15:21:01

Leider keine Anmerkung wie der Fall zu lösen gewesen wäre. Daher ist der Lerneffekt geringer.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

12.11.2021, 10:58:08

Vielen Dank für den Hinweis. Ziel des Falles ist es, sich mit dem Begriff der Pflichtverletzung beim ärztlichen Behandlungsvertrag näher auseinanderzusetzen und festzustellen, dass nur der Umstand, dass ein Schaden eingetreten ist und dies bei einer anderen Behandlungsmethode nicht passiert wäre, noch nicht ausreichend ist, um hier auch eine Pflichtverletzung zu bejahen. Um in einer Klausur also tatsächlich den Fall komplett zu lösen, müsste der Sachverhalt also noch zusätzlich Auskunft darüber geben, ob hier die alternative Behandlungsmethode aus der ex ante Perspektive gewählt werden durfte oder von vorneherein als zu risikoreich erscheinen musste. Je nachdem würde man dann eine Pflcihtverletzung und wohl auch das Vertretenmüssen bejahen und A einen Schadensersatzanspruch zubilligen (§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB) oder aufgrund fehlender Pflichtverletzung nicht. Auch ein deliktischer Schadensersatzanspruch (§ 823 Abs. 1 BGB) würde aufgrund der Einwilligung der P dann ausscheiden. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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