+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Die Polizei (P) ermittelt gegen A wegen Sachbeschädigung (§ 303 Abs. 2 StGB). Fingerabdrücke hat A nicht hinterlassen, er wurde aber von Z am Tatort gesehen. Z erklärt, in der Lage zu sein, den Täter wiederzuerkennen. Zur Sachverhaltsaufklärung ordnet P gemäß § 81b Abs. 1 Alt. 1 StPO Fotoaufnahmen, Finger- und Handabdrücke von A an.
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Einordnung des Falls
Verhältnismäßige Beschränkung bei mehreren erkennungsdienstlichen Maßnahmen (BVerfG, Beschl. v. 29.07.2022 - 2 BvR 54/22)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. A sieht sich durch diese Maßnahmen in seinem Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG) verletzt. Einfacher Rechtsschutz bleibt erfolglos. Kann er zulässige Verfassungsbeschwerde erheben?
Ja, in der Tat!
Der Rechtsweg der Verfassungsbeschwerde richtet sich nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90ff BVerfGG. A ist als natürliche Person beschwerdebefugt. Die Anordnung im Ermittlungsverfahren ist eine Maßnahme öffentlicher Gewalt, also ein tauglicher Beschwerdegegenstand. A ist auch beschwerdebefugt: Er kann darlegen, dass er möglicherweise in seiner informationellen Selbstbestimmung verletzt ist, da diese alle persönlichen Daten schützt. Dazu zählen auch Fotos und Fingerabdrücke. As Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
Im Originalfall wurden im Ermittlungsverfahren auch andere Maßnahmen angeordnet (z.B. Personenbeschreibung), gegen die die Verfassungsbeschwerde unzulässig war. Sie wurde nur in dem Umfang zur Entscheidung angenommen, wie sie in diesem Sachverhalt dargestellt ist.
In der Klausur wird von Dir hier eine schulbuchmäßige Prüfung verlangt, aber da die Zulässigkeit keine Probleme aufwirft, solltest Du die Zulässigkeit auch maximal knapp halten. Vermeide hier unbedingt lange Ausführungen, damit gewinnst Du keinen Blumentopf.
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2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit P mit den Anordnungen in As informationelle Selbstbestimmung eingreift und dieser Eingriff nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.
Ja!
Die Prüfung der Begründetheit in der Verfassungsbeschwerde ist dreigeteilt: Zunächst wird der Schutzbereich der einschlägigen Grundrechte bestimmt, dann wird ermittelt, ob der die öffentliche Gewalt in eines dieser Grundrechte eingegriffen hat. Schließlich kommt es darauf an, ob dieser Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Eine Rechtfertigung kommt nur in Betracht, wenn das Grundrecht einschränkbar ist (Schranke) und die Maßnahme die Anforderungen der Schranke erfüllt (Schranken-Schranke). Ist der Eingriff nicht gerechtfertigt, ist der Beschwerdeführer in seinem Grundrecht verletzt. Die Verfassungsbeschwerde ist dann begründet. Du solltest diesen gängigen dreistufigen Aufbau der Begründetheit einer Verfassungsbeschwerde zugrunde legen, aber in der Klausur nie erläutern.
3. Der Schutzbereich müsste eröffnet sein. Schützt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nur besonders sensible und geheime Daten, sodass einfache Fotoaufnahmen nicht unter den Schutzbereich fallen?
Nein, das ist nicht der Fall!
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist eine in der Rechtsprechung anerkannte Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG). Es gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, selbst über die Erhebung, Speicherung und Weitergabe der eigenen persönlichen Daten zu bestimmen. Erfasst sind alle Daten, die Informationen über die betroffene Person liefern. Der Schutzbereich ist nicht auf sensible Daten beschränkt, da jedes personenbezogene Datum unter den Bedingungen automatisierter Datenverarbeitung Rückschlüsse auf die Person zulässt (RdNr. 28).
Die Finger- und Handabdrücke sowie Fotoaufnahmen, die von A angefertigt werden sollen, sind personenbezogene Informationen, die zur Erhebung, Speicherung und Verwendung gedacht sind. Unabhängig davon, ob sie besonders sensibel sind, sind sie von der informationellen Selbstbestimmung geschützt. P hat mit der Anordnung in den Schutzbereich eingegriffen. Es handelt sich um einen klassischen Eingriff.
4. In das Recht auf informationelle Selbstbestimmung kann mit jedem beliebigen Gesetz eingegriffen werden (einfacher Gesetzesvorbehalt).
Nein, das trifft nicht zu!
Das GG enthält für die verschiedenen grundrechtlichen Gewährleistungen verschiedene Gesetzesvorbehalte. Während manche Grundrechte ausdrücklich unter einfachen oder qualifizierten Gesetzesvorbehalt gestellt sind, unterliegen andere Grundrechte nur verfassungsimmanten Schranken. Teilweise hat das BVerfG die Anforderungen dazu für einzelne Grundrechte konkretisiert.
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung leitet sich her aus einem Zusammenspiel von allgemeiner Handlungsfreiheit (Art 2 Abs. 1 GG, einfacher Gesetzesvorbehalt) und Menschenwürde (Art 1 Abs. 1 GG, unantastbar). Der einfache Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 1 GG ist dabei nicht anwendbar. Das BVerfG hat in st.Rspr. herausgearbeitet, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nur eingeschränkt werden kann durch formelles Parlamentsgesetz im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit. Das Gesetz muss also dem Schutz besonders wichtiger Allgemeinrechtsgüter dienen. Zudem muss die Einschränkung die Verhältnismäßigkeit wahren und darf nicht weitergehen, als es zum Schutz des öffentlichen Interesses unerlässlich ist (RdNr. 29). Dabei muss das Gesetz bereichsspezifisch und präzise den Zweck der Datenerfassung benennen und die Voraussetzungen und den Umfang von Erhebung, Speicherung und Weitergabe konkretisieren
5. § 81b Abs. 1 StPO genügt diesen Anforderungen an die Schranke.
Ja!
BVerfG: § 81b Abs. 1 StPO dient der Identifizierung des Täters und der Führung des rechtssicheren Tatnachweises, also dem wichtigen Allgemeininteresse der Strafverfolgung. Die Norm präzisiert den Kreis zulässiger Maßnahmen sowie ihres Zwecks und ihrer Voraussetzungen. Sowohl die Strafverfolgungsbehörden als auch die betroffenen Bürger erhalten durch die Norm ausreichende Rechtssicherheit, da sie mit Bestimmtheit sagen können, ob bestimmte Maßnahmen zulässig sind oder nicht. § 81b Abs. 1 StPO erfüllt die Anforderungen an die Schranke (RdNr. 29).
Staatliche Stellen müssen § 81b Abs. 1 StPO außerdem im Lichte der informationellen Selbstbestimmung auslegen und anwenden (RdNr. 30). Voraussetzung für die Durchführung der entsprechenden Maßnahmen sind daher immer (1) ein Anfangsverdacht, (2) die Notwendigkeit der Maßnahme, sowie (3) die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.
6. Gegen A bestand ein Anfangsverdacht. Die Anfertigung von Fünfseiten- und Ganzkörperbildern von A diente zur Identifizierung des A durch Z. War diese Maßnahme angemessen?
Nein, das ist nicht der Fall!
Die Angemessenheit einer Maßnahme ist nur dann gegeben, wenn nach einer umfassenden Interessenabwägung das Interesse an der wirksamen Strafverfolgung gegenüber dem Interesse des Beschwerdeführers, selbst über die Erhebung und Weitergabe seiner Daten zu entscheiden, überwiegt (RdNr. 33).
Die informationellen Selbstbestimmung ist angesichts ihres Menschenwürdebezugs ein besonders hochrangiges Grundrecht. Ausgehend hiervon musste P sich umfassend mit der Verhältnismäßigkeit der Durchführung der Maßnahme im Lichte des Grundrechts auseinandersetzen. Daran fehlte es: P beachtete nicht, dass Z den A am Tatort gesehen hatte und A daher auch bei der Beweisaufnahme im Rahmen der Hauptverhandlung identifizieren könnte, ohne dass es dafür der Fünfseiten- und Ganzkörperbilder bedürfte (RdNr. 33).
Im Originalfall hatte Z zudem selbst den A bei der Sachbeschädigung fotografiert und gefilmt. Es war also P auch ohne Anfertigung von polizeilichen Lichtbildern möglich, den A unter Heranziehung von Zs Fotos und Videos zu identifizieren. Überdies hatte P im Originalfall keine umfassende Auseinandersetzung mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung vorgenommen.
Du kannst diesen Aspekt in Deiner Klausur auch schon unter dem Prüfungspunkt der Erforderlichkeit thematisieren. Das BVerfG prüft ihn unter der Angemessenheit (in der Entscheidung etwas missverständlich formuliert als „Notwendigkeit“).
7. Auch die Anfertigung von Hand- und Fingerabdrücken müsste verfassungsgemäß, insbesondere verhältnismäßig sein. Verfolgt die Maßnahme einen legitimen Zweck und ist sie dafür geeignet?
Nein, das trifft nicht zu!
Eine Maßnahme verfolgt einen legitimen Zweck, wenn sie dem Allgemeinwohl dient. Sie ist dann geeignet, wenn sie die Zweckerreichung zumindest fördern kann.
Das Ziel der Anfertigung von Finger- und Handabdrücken ist die Ermöglichung der Täterfeststellung und die Durchführung des Strafverfahrens. Dis ist ein Anliegen der Allgemeinheit, also ein legitimer Zweck. Hand- und Fingerabdrücke von A zu nehmen konnte aber die Zweckerreichung nicht fördern, weil A keine Fingerabdrücke am Tatort hinterlassen hatte (RdNr. 32). Die Maßnahme war bereits nicht geeignet und damit unverhältnismäßig. Ergebnis: As Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die Sache wird an das zuständige Landgericht zurückverwiesen (RdNr. 35).
P hätte sich noch angeben können, die Abdrücke für die Aufklärung möglicher zukünftiger Taten zu benötigen (§ 81b Abs. 1 Alt. 2 StPO, erkennungsdienstliche Maßnahmen). Dies hatte P aber in ihrer Anordnung nicht ausreichend begründet. § 81b Abs. 1 Alt. 2 StPO kann nicht für eine defizitär begründete Anordnung nach § 81b Abs. 1 Alt. 1 StPO herangezogen werden (RdNr. 32).
Der Fall eignet sich gut für die Klausur, u.a. weil Du mehrere Maßnahmen prüfen und unterscheiden musst. Auch entscheidet sich die Rechtswidrigkeit der verschiedenen Maßnahmen an unterschiedlichen Prüfungspunkten der Verhältnismäßigkeit.