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Entscheidungen von 2022
VGH München, Urteil v. 08.03.2022 – 10 B 21.1694 "Augsburger Klimacamp" zählt als Versammlung
VGH München, Urteil v. 08.03.2022 – 10 B 21.1694 "Augsburger Klimacamp" zählt als Versammlung
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
K ist Klimaaktivist. Er zeigte der Stadt A eine mehrtätige Klimaprotestaktion (Camp für Klimagerechtigkeit) ab dem 01.07. an. Er benannte Veranstaltungsort (As Rathausplatz), Kundgebungsmittel und Programmaktionen. Das Bürgeramt von A stellte am 10.07. per Bescheid fest, das Camp stelle keine Versammlung dar.
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Einordnung des Falls
VGH München, Urteil v. 08.03.2022 – 10 B 21.1694 "Augsburger Klimacamp" zählt als Versammlung
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. K hält den negativen Feststellungsbescheid der A für rechtswidrig und möchte vor dem Verwaltungsgericht dagegen vorgehen. Ist die Feststellungsklage die statthafte Klageart?
Nein!
Jurastudium und Referendariat.
2. K ist klagebefugt.
Genau, so ist das!
3. Ks Klage ist begründet, soweit der Bescheid rechtswidrig und K in seinen Rechten verletzt ist. Hat mit dem Bürgeramt von A die zuständige Behörde gehandelt (Art. 24 BayVersG), sodass der Bescheid formell rechtmäßig ist?
Ja, in der Tat!
4. As Bescheid, das Camp sei keine Versammlung, ist materiell rechtswidrig, da es für einen solchen negativen Feststellungsbescheid keine Ermächtigungsgrundlage im Versammlungsgesetz gibt.
Nein!
5. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Bescheides ist die letzte mündliche Verhandlung.
Nein, das ist nicht der Fall!
6. Der Feststellungsbescheid der A ist rechtswidrig, wenn es sich bei Ks Klimacamp um eine Versammlung (Art. 8 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 BayVersG) handelt.
Ja, in der Tat!
7. Zum Programm des Klimacamps zählten auch Nachhilfeunterricht, IT-Workshops, Spiele und Sport. Sprechen diese Aktivitäten für eine kollektive öffentliche Meinungsbildung?
Nein!
8. Das Klimacamp hatte aufgrund seines Veranstaltungsthemas und seiner Protestaktionen auch zahlreiche Elemente, die auf kollektive öffentliche Meinungsbildung gerichtet waren.
Genau, so ist das!
9. Die an den Veranstaltungsort verbrachten Hilfsmittel und Gegenstände wie Sofas, Schränke, Zelte, Autoreifen, Tische und Stühle stehen der Versammlungseigenschaft der Veranstaltung entgegen.
Nein, das trifft nicht zu!
10. Nach dem Gesamtgepräge der Veranstaltung steht der Event- und Spaßcharakter im Vordergrund, sodass das Klimacamp keine Veranstaltung und der negative Feststellungsbescheid rechtmäßig war.
Nein!
Jurastudium und Referendariat.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Daniel (blabab45)
12.12.2023, 08:32:57
In der Antwort zur 4. Frage wird als Maßstab, ob eine Rechtsgrundlage für den VA erforderlich ist die
Wesentlichkeitstheorieherangezogen, mit der Behauptung, diese würde besagten, dass Eingriffe, die für die Ausübung eines Grundrechts wesentlich sind, eine Rechtsgrundlage erfordern. (Ich muss den Text leider aus technischen Gründen aufteilen)
Daniel (blabab45)
12.12.2023, 08:34:43
Das ist nach meinen Verständnis nicht richtig. Der Grundsatz, demnach ein (
belastender) VA einer Rechtsgrunde bedarf ist der Gesetzesvorbehalt. Die
Wesentlichkeitstheorie(insbesondere aus Coronazeiten bekannt) besagt nur, in welchem Umfang der parlamentarische Gesetzgeber den Inhalt nachfolgender, ausführender Rechtsakte bestimmen muss. M.a.W.: Die
Wesentlichkeitstheoriebesagt nur, dass der Gesetzgeber die für die Grundrechtsausübung wesentlichen Entscheidungen selbst treffen muss und sie nicht der Exekutive überlassen darf. Das betrifft aber die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und nicht die Rechtmäßigkeit von VA (außer natürlich die Verfassungsmäßigkeit der RGL des VA wird mit diesem Argument angegriffen)
Lukas_Mengestu
12.12.2023, 13:05:23
Hallo Daniel, vielen Dank für Deinen Hinweis und die Nachfrage. Die
Wesentlichkeitstheorieund Gesetzesvorbehalt schließen sich nicht gegenseitig aus. Vielmehr stellt die Wesentlichkeitslehre eine vom BVerfG entwickelte Konkretisierung des Umfangs und der Grenzen des Gesetzesvorbehaltes dar, der aus Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitet wird. Der Gesetzgeber muss staatliches Handeln in grundlegenden Bereichen durch ein förmliches Gesetz legitimieren UND alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen(vgl. zB BVerfGE 83, 130 - Josefine Mutzenbacher RdNr. 38,https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv083130.html#142). Enthalten sind insoweit zwei Elemente: (1) es muss überhaupt ein förmliches Gesetz vorliegen und (2) muss dieses auch alle wesentlichen Entscheidungen treffen. Du hast aber völlig recht, dass die
Wesentlichkeitstheorievor allem bei der Frage relevant wird, inwieweit die
Ermächtigungsgrundlageverfassungsgemäß ist. Hintergrund dessen ist, dass bei belastenden Maßnahmen unstreitig ist, dass diese auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen müssen. Zum Einsatz gelangt die Wesentlichkeitslehre aber zB auch bei der Frage, ob und inwieweit es für begünstigende
Verwaltungsakte (zB Subventionen) einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage bedarf. Während das Spektrum in der Literatur von nie (=Lehre vom Eingriffsvorbehalt) bis immer (=Lehre vom Totalvorbehalt) reicht, nimmt die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung hier einen vermittelnden Standpunkt ein und lässt idR die Bereitstellung im Haushaltsplan genügen. Nach der Wesentlichkeitslehre kommt es dagegen auf die "Wesentlichkeit" der Subvention an, insb. bei Beeinträchtigung von Rechten Dritter (zB bei staatlicher Förderung politischer Stiftung --> wegen Chancengleichheit politischer Parteien aus Art. 21 abs. 1 S. 1 GG bedarf es hier eines förmlichen Gesetzes, BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 22. Februar 2023 – 2 BvE 3/19 – Ls. 1.? Finanzierung Desiderius-Erasmus-Stiftung, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2023/02/es20230222_2bve000319.html). Ich hoffe, jetzt ist es noch etwas klarer geworden :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Entenpulli
12.12.2023, 16:46:56
Vielen Dank für diese Aufgaben. Eng damit verbunden und daher sicher auch höchst interessant und relevant wäre die Entscheidung aus Freiburg zum Thema "Klimacamp vs Weihnachtsmarkt". Wäre super, wenn ihr dazu auch Fragen machen könntet :)
Lukas_Mengestu
13.12.2023, 20:09:13
Vielen Dank, Entenpulli! Schauen wir uns gerne an :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Johannes Nebe
12.12.2023, 19:48:36
Danke für den interessanten Fall! Bei Frage 1 geht die Subsumtion etwas am Thema vorbei. Die ersten beiden Sätze gehören eher zum Maßstab. Dann ist entscheidend für die Unterscheidung von Anfechtungsklage und
Feststellungsklagenicht, ob der Bescheid ein
Verwaltungsaktist. Entscheidend für die Statthaftigkeit der
Feststellungsklageist, ob der
Verwaltungsaktsich bereits erledigt hat. Das müsste in der Subsumtion untersucht und nicht erst in der Vertiefung erwähnt werden.
kithorx
28.2.2024, 13:43:19
Verwechselst du am Ende die FK mit der FFK? Wenn das Klägerbegehren darauf gerichtet ist, eine Maßnahme wegzuschaffen, und diese einen VA darstellt, ist die AK oder FFK statthaft, aber doch in keinem Fall die FK, oder?
Whale
12.7.2024, 10:37:53
Die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines VA ist ja im Prinzip sowieso nicht direkt von der FK erfasst. Jedenfalls spricht der § 43 II Satz 2 VwGO nur von einer Nichtanwendung der Subsidiaritätsregelung bei der Feststellung der Nichtigkeit eines VA, sodass geschlussfolgert werden kann, dass - sollte die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines VA relevant werden - sowieso immer die AK Vorrang hat und das innerhalb der Statthaftigkeit der FK nicht diskutiert zu werden braucht.
QuiGonTim
13.12.2023, 00:30:24
Liebe Jurafuchs-Team, vielen Dank für die ansprechende und verständliche Aufbereitung der Entscheidung. Für mich ergeben sich daraus zwei Fragen sind zwei Fragen: (1) Ihr schreibt bezüglich der statthaften Klageart, dass die
Feststellungsklagenicht statthaft sei, da sich der VA noch nicht erledigt habe. Hatte K geklagt, während das Protestcamp noch stattfand, oder warum hat sich der VA noch nicht erledigt? (2) In der Entscheidung hat der VGH das mehrtägige Campieren auf einem öffentlichen Platz als Versammlung angesehen. Ist der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit überhaupt zeitlichen (Ober-)Grenzen unterworfen?
kithorx
28.2.2024, 13:39:40
(1) Ja, das nehme ich an. (2) Grundsätzlich nein, jedenfalls dürfte es keine festen Grenzen geben. Die Dauer wird aber das Gesamtgepräge einer Veranstaltung beeinflussen können.
Linne_Karlotta_
23.8.2024, 16:32:05
Hallo, danke für die Nachfrage. Hier noch eine kurze Ergänzung: Die
FESTSTELLUNGSKLAGE, war hier nicht statthaft, weil es um die Aufhebung eines
Verwaltungsakts ging und somit die Subsidiaritätsklausel aus § 43 Abs. 2 VwGO greift. Im zweiten Schritt stellt sich dann die Frage: Ist der
Verwaltungsaktnoch wirksam (= Anfechtungsklage) oder hat er sich erledigt (= Fortsetzungs
feststellungsklage)? Hier ist mangels anderer Angaben im Sachverhalt davon auszugehen, dass sich der
Verwaltungsaktnicht erledigt hat. :) Viele Grüße - Linne, für das Jurafuchs-Team
flaschenmaster
15.1.2024, 23:09:54
Für die Beantwortung einiger Fragen, fehlten mE manche Sachverhaltsinformationen. So war es gerade bei den Fragen zur Gesamtbewertung eher ein wildes Raten. Die gegebenen Erklärungen waren aber durchaus hilfreich.
Lukas_Mengestu
15.3.2024, 12:27:25
Hallo flaschenmaster, vielen Dank für Deine Rückmeldung! Um den Sachverhalt nicht zu überfrachten, haben wir die weiteren Informationen in die Fragen integriert, sodass dadurch dann auch die Gesamtbewertung möglich sein soll. Zumindest in der Klausur ist das Ergebnis aber auch von untergeordneter Bedeutung. Im Fokus steht die strukturierte Vorgehensweise sowie die Auswertung aller wesentlichen Sachverhaltsinformationen. Ich hoffe, dass der Fall Dir hierfür geholfen hat :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
suessmaus
13.3.2024, 19:24:56
ich verstehe nicht, wieso das eine Minusmaßnahme sein soll. Das würde doch voraussetzen, dass ein Versammlungsverbot grds. möglich wäre.
Merle_Breckwoldt
15.3.2024, 11:50:55
@[Lukas_Mengestu](136780) Hallo suessmaus, die Ausführungen zur Minusmaßnahme betreffen ganz abstrakt die Frage "Existiert eine
Ermächtigungsgrundlagefür einen negativen Feststellungsbescheid, wie er hier vorliegt?" (erster Prüfungspunkt bei der materiellen Rechtmäßigkeit). Die Antwort darauf ist: Ja, denn aus der eingriffsintensiveren EGL Art. 15 BayVersG (Versammlungsverbot) kann geschlossen werden, dass allgemein erst recht eine Befugnis der Behörde bestehen muss, niedrigschwelliger festzustellen, dass es sich bei einer Veranstaltung gar nicht um eine Versammlung handelt (sog. Minusmaßnahme gegenüber dem Verbot). Erst danach kommt es darauf an, ob konkret die Voraussetzungen dieser (durch Auslegung ermittelten) EGL vorliegen, nämlich: "Liegt tatsächlich keine (!) Versammlung vor?". Das war hier zu verneinen, daher war die Feststellung rechtswidrig. Von dem Tatbestand eines Versammlungsverbots (Art. 15 BayVersG) ist diese weitere Prüfung unabhängig. Ich hoffe, ich konnte Dir helfen! Beste Grüße, Merle für das Jurafuchs-Team
Joshua
6.4.2024, 20:38:16
Aber nach meinem Verständnis ist eine Minusmaßnahme doch nur zulässig, wenn die “Plusmaßnahme” also die Auflösung zulässig wäre, da ja erst dann der Erst-Recht Schluss greift, dass es verhältnismäßiger ist Minusmaßnahmen zu ergreifen, statt die Versammlung aufzulösen. Ob die Auflösung rechtmäßig wäre, wird hier allerdings gar nicht angesprochen…
cann1311
26.4.2024, 23:45:57
Das würde ich so pauschal nicht sagen. Minusmaßnahme ist etwas unglücklich formuliert. Ein anderes Beispiel aus dem Versammlungsrecht ist der kamerawagen. Diesen aufzustellen reicht schon als Eingriff (mögliche Aufzeichnung = Eingriff ist ein Klassiker) es gibt aber nur eine EGL fürs Filmen, nicht zum aufstellen. Es ist aber klar dass wenn das Filmen schon erlaubt sein kann (!) (Bei der prüfung der EGL geht's ja erstmal nicht um RW + oder -) das aufstellen *erst recht* erlaubt sein muss. So hier: Wenn es erlaubt ist eine rechtswidrige Versammlung aufzulösen, dann muss es erst recht möglich sein, die Rechtswidrigkeit der Versammlung zu prüfen (und diese dem Veranstaltungsleiter mitzuteilen)
Whale
16.8.2024, 14:19:26
Am Ende wird in die Gewichtung (Gesamtschau) miteinbezogen, dass einige der Spiel- und Spaßaktionen abgesagt worden sind, obwohl weiter vorne festgestellt wird, dass trotz Absage dieser Veranstaltungsinhalte der nach außen tretende Charakter (es wurde ja nicht kundgegeben, dass diese Inhalte nun nicht mehr stattfinden) maßgeblich ist. Dies erweckt den Eindruck, dass man dann in der Gewichtung dieses Argument der Absage nicht heranziehen darf. Widerspricht sich hier die Lösung?
Bioshock Energy
11.9.2024, 15:12:09
-Gemeinden unter 7.500 Einwohnern: Landrat als Kreisordnungsbehörde gem. § 1 S. 1 Nr. 2 HSOG-DVO i.V.m. § 85 I Nr. 3 HSOG -Gemeinden ab 7.500 Einwohnern: Bürgermeister/OB als örtliche Ordungsbehörde gem. § 1 S. 1 Nr. 2 HSOG-DVO i.V.m. §§ 85 I Nr. 4, 89 II 1 HSOG