+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
A veranstaltet in B einen Dauerprotest unter dem Motto „Die Klimakrise nicht verschlafen“. 30 Teilnehmende sollen zwei Wochen an einem zentralen Platz zelten und auf die Klimakrise aufmerksam machen. B untersagt den Aufbau von Zelten und ordnete die sofortige Vollziehung an.
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Einordnung des Falls
Infrastruktur zur Verwirklichung des Versammlungszwecks (OVG Bremen, Beschl. v. 04.05.2021 - 1 B 215/21)
Dieser Fall lief bereits im 1./2. Juristischen Staatsexamen in folgenden Kampagnen
Examenstreffer Bremen 2022
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. A hatte gegen die Verfügung der B geklagt und Eilrechtsschutz beantragt. Das VG stellte die aufschiebende Wirkung der Klage wieder her. Richtet sich das nach § 123 Abs. 1 VwGO?
Nein, das ist nicht der Fall!
Zu unterscheiden ist zwischen drei Arten einstweiligen Rechtsschutzes: § 80 Abs. 5 VwGO, § 80a VwGO und § 123 Abs. 1 VwGO. § 80a VwGO ist anwendbar im Fall von Drittanfechtung von drittbelastenden Verwaltungsakten. § 80 Abs. 5 VwGO gewährt Rechtsschutz gegen adressatenbelastende Verwaltungsakte, entweder durch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1-3a VwGO) oder durch die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO). § 123 Abs. 1 VwGO ist gemäß § 123 Abs. 5 VwGO nachrangig und erfasst Eilrechtsschutz in allen anderen Fällen als §§ 80, 80a VwGO (also in Verpflichtungs-, Feststellungs- und Leistungskonstellationen).
B hatte gegenüber A die Aufstellung von Schlafzelten unter einer Vollziehungsanordnung verboten. Das bedeutet, Widerspruch und Anfechtungsklage der A gegen die Versammlungsauflage haben keine aufschiebende Wirkung, § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO. Das Gericht hatte die aufschiebende Wirkung wiederhergestellt. Dies richtet sich nicht nach § 123 Abs. 1 VwGO, sondern nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO.
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2. B beantragt daraufhin, den Beschluss des VG, der die aufschiebende Wirkung wiederherstellt und A vorerst das Aufstellen von Zelten erlaubt, aufzuheben. Muss das OVG nun erneut den Fall umfassend prüfen?
Nein, das trifft nicht zu!
Die Beteiligten eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens können gemäß § 146 Abs. 1 VwGO Beschwerde gegen Beschlüsse des VG beim OVG einreichen. In der Beschwerde muss begründet werden, warum die gerichtliche Entscheidung aufzuheben oder abzuändern ist, § 146 Abs. 4 S. 3 VwGO. Das OVG überprüft den Beschluss des VG nur in dem Umfang, wie er in der Beschwerdebegründung dargelegt ist, § 146 Abs. 4 S. 6 VwGO. Eine umfassende Überprüfung des Falles auf alle rechtlichen Fragen findet nicht statt (RdNr. 4).
B argumentierte in seiner Beschwerdebegründung, die Zelte seien keine notwendige Infrastruktur für die Versammlung. Das Zelten falle schon nicht in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit, Art. 8 GG. Stattdessen gehe die Inanspruchnahme des öffentlichen Raums zulasten anderer Bürger. Deren kulturellen, wirtschaftlichen und beruflichen Interessen seien zu berücksichtigen (RdNr. 2).
3. B hat in der Beschwerdebegründung neue Argumente vorgebracht. Muss das OVG aufgrund von Bs Beschwerdebegründung eine neue Interessenabwägung nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO vornehmen?
Ja!
Innerhalb der Prüfung eines Eilantrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO muss das Gericht eine Interessenabwägung vornehmen. Das staatliche Vollziehungsinteresse überwiegt gegenüber dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers, wenn der Hauptverwaltungsakt voraussichtlich rechtmäßig ist. Das Aussetzungsinteresse des Bürgers überwiegt gegenüber dem staatlichen Vollziehungsinteresse, wenn der Verwaltungsakt voraussichtlich rechtswidrig ist und suspendiert werden muss. Da B in der Beschwerdebegründung neue Argumente vorbrachte, die in die Interessenabwägung einfließen müssen und den voraussichtlichen Ausgang des Hauptverfahrens betreffen können, muss das Beschwerdegericht eine erneute Interessenabwägung vornehmen und entscheiden, ob der Beschluss des Verwaltungsgerichts aufzuheben ist (RdNr. 6).
4. Die Versammlungsauflage, die das Aufstellen der Zelte verbietet, ist voraussichtlich rechtmäßig, wenn das Zelten nicht unter den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit fällt. Schließt Art. 8 GG schließt den Schutz eines Zeltlagers von vornherein aus?
Nein, das ist nicht der Fall!
Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass auch ein Zeltlager von der Versammlungsfreiheit geschützt ist! Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft von mindestens zwei Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (enger Versammlungsbegriff des BVerfG). Unter den Schutzbereich der Versammlung fallen alle Aktivitäten, die der öffentlichen Meinungskundgabe und der Verfolgung des Versammlungszwecks und nicht bloß der Versammlungsorganisation dienen.
Infrastruktureinrichtungen eines Dauerprotests können zwar der organisatorischen Durchführung der Versammlung dienen, aber auch symbolisch oder konzeptionell versammlungswesentlich sein. Entscheidend ist, ob die Zelte in erster Linie dem Schlafen oder dem Versammlungszweck dienen (RdNr. 8).
Im Originalfall dienten die Zelte nicht nur der organisatorischen Durchführung, sondern waren Teil der Meinungskundgabe (RdNr. 9). Sie fügten sich auch unmittelbar in das Versammlungskonzept ein („die Klimakrise nicht verschlafen“). Wegen der inhaltlichen und konzeptionellen Verknüpfung fallen As Zelte unter den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit. In Deiner Klausur läge hier ein Schwerpunkt Deiner Ausarbeitung!
5. A hatte das Dauercamp inklusive Zelte schon ein halbes Jahr im Voraus bei B angezeigt, das Motto „die Klimakrise nicht verschlafen“ aber erst drei Tage vor Beginn des Protests. Sind die Zelte trotzdem versammlungswesentlich?
Ja, in der Tat!
Die versammlungsspezifische Nutzung des Camps und seine symbolische oder konzeptionelle Wesentlichkeit darf nicht erst nachträglich erfolgen, sondern muss bereits zu Beginn der Versammlung feststehen.
Zwar hatte A die Versammlung schon lang geplant und bei B angezeigt, das Motto „die Klimakrise nicht verschlafen“ aber erst deutlich später ergänzt. Trotzdem hatte A bereits von Beginn an eine durchgehende Präsenz der Teilnehmenden an dem Versammlungsort mitgeteilt und geplant. Da A das Motto immer noch mehr als 48 Stunden vor Beginn der Versammlung angezeigt hatte, hat er sogar die Frist des § 14 Abs. 1 VersG eingehalten. Also erfolgte die Qualifizierung der Zelte als versammlungswesentlich nicht nachträglich, sondern hinreichend frühzeitig (RdNr. 11). Die Zelte fallen trotz der späteren Anzeige des Versammlungsmottos unter den Schutzbereich des Art. 8 GG.
6. Zur Zeit des von A geplanten Dauerprotests herrschten in B coronabedingt Ausgangsbeschränkungen. Fehlt es dem Camp deshalb an der öffentlichen Meinungsbildung und am Versammlungscharakter?
Nein!
Eine Versammlung erfordert das Zusammenkommen mehrerer Personen, die an einer gemeinsamen öffentlichen Meinungsbildung und -äußerung teilnehmen. Folglich müsste das Übernachten in Zelten einerseits überhaupt eine Meinungskundgabe darstellen, auf der anderen Seite müsste der Protest trotz Corona-Ausgangsbeschränkungen auf die öffentliche Meinungsbildung gerichtet sein.
Das Übernachten am Ort des Protests hat symbolischen Charakter: die Teilnehmenden symbolisieren entsprechend des Versammlungsmottos die politischen Entscheidungsträger, die den Klimawandel verschlafen. Dies stellt eine eigenständige Meinungskundgabe dar, die auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung zur Klimakrise gerichtet ist (RdNr. 12f). Schließlich ist aufgrund der zentralen Lage des Protestcamps trotz der Ausgangsbeschränkungen eine Wahrnehmung der Versammlung durch Dritte und die Politik möglich (RdNr. 12f). Daher dient das Camp der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung.
Es handelt sich mithin bei dem Protestcamp – einschließlich der Zelte – insgesamt um eine Versammlung, die von Art. 8 Abs. 1 GG geschützt ist.
7. Da das Protestcamp von Art. 8 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich geschützt ist, stellt die Nutzung des öffentlichen Platzes und der Straße erlaubnisfreien Gemeingebrauch dar.
Nein, das ist nicht der Fall!
Gemeingebrauch ist die Straßennutzung im Rahmen der Widmung, insbesondere zum Zwecke des fließenden und kommunikativen Verkehrs. Sondernutzung ist die Nutzung einer Straße über den Gemeingebrauch hinaus.
Eine Versammlung fällt grundsätzlich unter den erlaubnisfreien kommunikativen Gemeingebrauch der Straßen. Das gilt jedoch nur, soweit (1) die Nutzung der Straße für die Durchführung der Versammlung notwendig ist und (2) wenn durch die Versammlung kein straßenrechtlicher Regulierungsbedarf entsteht (RdNr. 17). Zwar ist die Nutzung der Straße für das Protestcamp notwendig, allerdings entsteht dadurch auch Regulierungsbedarf, insb. hinsichtlich der Umleitung des Verkehrs. Das Camp stellt eine erlaubnispflichtige Sondernutzung dar.
OVG: Obwohl Versammlungsleitungen grundsätzlich davon verschont werden sollen, für Versammlungen Sondernutzungserlaubnisse einzuholen – diese Freiheit wird durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützt –, ist das Einholen der Sondernutzungserlaubnis im konkreten Fall verfassungsrechtlich unbedenklich. Der Dauerprotest stelle eine erhebliche Behinderung für einen langen Zeitraum dar, die Belastung der Einholung einer Erlaubnis sei dagegen nur gering (RdNr. 17). Angesichts des langen zeitlichen Vorlaufs der Versammlung – halbes Jahr – sei dies auch zumutbar.
8. Die Versammlungsauflage, die das Zelten verbietet, ist voraussichtlich rechtmäßig, wenn das Zelten eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt. Besteht wegen der Sondernutzung eine solche Gefahr?
Nein, das trifft nicht zu!
Gemäß § 15 Abs. 1 Alt. 2 VersG kann die zuständige Behörde die Versammlung von Auflagen abhängig machen, wenn die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet ist. Die öffentliche Sicherheit erfasst unter anderem das Schutzgut der gesamten Rechtsordnung. Sie ist unmittelbar gefährdet, wenn aufgrund einer gesicherten Gefahrenprognose eine hohe Wahrscheinlichkeit für den konkreten Schadenseintritts besteht (RdNr. 17).
OVG: Das Straßen- und Wegerecht ist Teil der geschriebenen Rechtsordnung, also Schutzgut der öffentlichen Sicherheit. Bei der Errichtung und Unterhaltung eines Protestcamps entsteht eine intensive Sondernutzung, der Verkehr also für die Öffentlichkeit beeinträchtigt. Das straßenrechtliche Regulierungsbedürfnis steigt mit der Intensität der Beeinträchtigungen. Aber: Da As Camp nur für zwei Wochen geplant ist, zusätzlich während Corona-Ausgangsbeschränkungen, liegt eine solche intensive Beeinträchtigung noch nicht vor. Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit besteht nicht (RdNr. 17).
9. Folglich überwiegt As Aussetzungsinteresse gegenüber dem staatlichen Vollziehungsinteresse, mit der Folge, dass die aufschiebende Wirkung von As Klage wiederhergestellt bleibt.
Ja!
Bs Beschwerde hat nur dann Erfolg, wenn das OVG nach einer Interessenabwägung zu einem anderen Ergebnis gelangt als das VG. Es müsste also das Interesse der B, die Versammlungsauflage sofort zu vollziehen, dem Interesse des A, die Auflage auszusetzen, überwiegen. Gelangt das OVG nicht zu dieser Erkenntnis, ist Bs Beschwerde erfolglos und es bleibt bei dem Ergebnis des VG: die aufschiebende Wirkung von As Klage gegen die Auflage bleibt nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO wiederhergestellt.
B ist es nicht gelungen, neue Argumente vorzutragen, die in einer Abwägung überwiegend für die Vollziehung der Versammlungsauflage sprechen würden. Das OVG gelangt – ebenso wie das VG – zu der Einsicht, dass As Aussetzungsinteresse vorgeht. Bs Beschwerde ist erfolglos.
Insbesondere im Assessorexamen ist der Einstieg in Deine Klausur über eine Beschwerde nach § 146 VwGO gut möglich. Durch den eher ungewöhnlichen Einstieg steigt der Schwierigkeitsgrad. Aber kein Grund zur Panik: Die maßgeblichen prozessualen und materiellen Rechtsfragen sind – wie Du an diesem Fall gesehen hast – bekannt und lassen sich gut in den Griff bekommen.