Öffentliches Recht

Examensrelevante Rechtsprechung ÖR

Entscheidungen von 2020

Auflösung einer Versammlung wegen Störung durch Dritte

Auflösung einer Versammlung wegen Störung durch Dritte

3. Dezember 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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besonders examenstauglich

Bei einer Demo der rechten Partei R tauchen plötzlich linke Gegendemonstranten auf. Es bestehen konkrete tatsächliche Anhaltspunkte für gegen R gerichtete Angriffe. Zeit, um ausreichend polizeiliche Verstärkung anzufordern und bereitzustellen, bleibt nicht, sodass die zuständige Behörde die Versammlung der R auflöst. R hält die Auflösung für rechtswidrig.

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Einordnung des Falls

Auflösung einer Versammlung wegen Störung durch Dritte

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ermächtigungsgrundlage für die Versammlungsauflösung ist § 15 Abs. 3 VersG.

Ja, in der Tat!

Die zuständige Behörde kann eine Versammlung oder einen Aufzug auflösen, wenn sie nicht angemeldet ist, wenn von den Angaben der Anmeldung abgewichen oder den Auflagen zuwidergehandelt wird oder wenn die Voraussetzungen zu einem Versammlungsverbot nach Abs. 1 oder Abs. 2 gegeben sind (§ 15 Abs. 3 VersG). Hier kommt allein eine Auflösung wegen unmittelbarer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit in Betracht (§ 15 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 VersG).
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2. Der Tatbestand (§ 15 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 VersG) ist erfüllt, wenn der Verdacht besteht, dass die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährdet wird.

Nein!

Die unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit (§ 15 Abs. 1 VersG) verlangt eine Gefahrenprognose. Diese enthält zwar stets ein Wahrscheinlichkeitsurteil; ein bloßer Verdacht oder Vermutungen sind dafür jedoch nicht ausreichend. BVerwG: Die Gefahrenprognose müsse auf erkennbaren Umständen beruhen. Erforderlich hierfür seien konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte (RdNr. 7f.).

3. Da mit Angriffen linksgerichteter Gruppen konkret zu rechnen war, liegt eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit vor (§ 15 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 VersG).

Genau, so ist das!

Es bestand nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Denn es lagen hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass die Demo der R auf linke Gegendemonstranten treffen könnte. BVerwG: Die Anhaltspunkte ließen auf eine Gewaltbereitschaft der linksgerichteten Gruppen, die Begehung von Körperverletzungsdelikten (§§ 223ff. StGB) sowie Gefahren für die Schutzgüter des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG schließen (RdNr. 15). Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 15 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 VersG liegen somit vor.

4. Die zuständige Behörde darf eine Versammlung zudem nur dann verbieten bzw. auflösen, wenn Gefahren für elementare Rechtsgüter bestehen.

Ja, in der Tat!

Wegen der konstitutiven Bedeutung des Versammlungsrechts (Art. 8 Abs. 1 GG) für den demokratischen Rechtsstaat des Grundgesetzes ist bei dessen Einschränkung stets Zurückhaltung geboten. Deshalb ist § 15 Abs. 1, Abs. 3 VersG verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass Verbot und Auflösung einer Versammlung nur zur Abwehr von Gefahren für elementare Rechtsgüter in Betracht kommen und dass das mildere Mittel der Auflagenerteilung (§ 15 Abs. 1 VersG) ausgeschöpft ist (ultima ratio) (RdNr. 8).

5. Die Rechtmäßigkeit einer versammlungsrechtlichen Verfügung setzt – wie im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht – eine richtige Störerauswahl voraus.

Ja!

Wie im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht muss die Versammlungsbehörde eine Verfügung an den richtigen Adressaten richten. Adressat einer Versammlungsauflösung ist regelmäßig der Veranstalter als Verhaltensstörer (§ 4 PolG NRW). Denkbar ist aber auch eine Inanspruchnahme des Veranstalters als Zweckveranlasser oder als Nichtstörer (sog. polizeilicher Notstand, § 6 PolG NRW). Problematisch ist hier, dass die Verfügung gegen die nicht-störende Demo der R aufgrund drohender Gewalttaten von Gegendemonstranten ergangen ist.

6. Wird die öffentliche Sicherheit nicht durch die Versammlung, sondern durch Gegendemonstranten oder Dritte unmittelbar gefährdet, müssen sich behördliche Maßnahmen primär gegen die Störer richten.

Genau, so ist das!

Richtig! BVerwG: Wird die öffentliche Sicherheit nicht durch die Versammlung selbst, sondern durch (versammlungsexterne) Dritte gefährdet, müssen behördliche Maßnahmen primär gegen die störenden Dritten gerichtet werden, um die Durchführung der Versammlung zu ermöglichen. Drohen Gewalttaten als Gegenreaktion auf Versammlungen, sei es Aufgabe der Polizei, in unparteiischer Weise auf die Verwirklichung der Versammlungsfreiheit für alle Grundrechtsträger hinzuwirken. (RdNr. 9).

7. R kann vorliegend als Zweckveranlasser und damit als Verhaltensstörer (§ 4 PolG NRW) in Anspruch genommen werden.

Nein, das trifft nicht zu!

BVerwG: Drohen Gewalttaten als Gegenreaktion auf friedliche Versammlungen, dürfe gegen die Versammlung selbst nur unter den besonderen Voraussetzungen des sog. polizeilichen Notstands (vgl. § 6 PolG NRW) eingeschritten werden (RdNr. 9). Eine Störereigenschaft des Veranstalters als Zweckveranlasser ist daneben grundsätzlich denkbar, aber nur in Ausnahmefällen zu bejahen. Voraussetzung dafür sind provokative Begleitumstände, etwa wenn die Versammlung nur Vorwand und die Provokation von Gegengewalt das eigentliche vom Veranstalter bezweckte Ziel ist (vgl. BVerfG, NVwZ 2000, 1406). Eine bloße Kausalität zur Gegengewalt reicht nicht aus.

8. Die Behörde durfte die Verfügung an R als Nichtstörerin richten, da die Voraussetzungen des polizeilichen Notstands (§ 6 PolG NRW) vorlagen.

Ja!

BVerwG: Die Annahme des polizeilichen Notstands setzt voraus, dass die Gefahr auf andere Weise nicht abgewehrt werden kann und die Behörde nicht über ausreichende eigene Mittel und Kräfte verfügt, um die gefährdeten Rechtsgüter zu schützen. Daran seien hohe Anforderungen zu stellen, denn die Auswahl des Adressaten einer versammlungsrechtlichen Verfügung dürfe nicht von bloßen Zweckmäßigkeitserwägungen abhängig gemacht werden. Ein polizeilicher Notstand sei hier zu bejahen. Insbesondere sei es der Behörde aufgrund des schnellen Geschehensablaufs nicht möglich gewesen, effektiv Verstärkung anzufordern und bereitzustellen (RdNr. 10, 13ff.).

9. Die Versammlungsauflösung war rechtmäßig.

Genau, so ist das!

Die Tatbestandsvoraussetzungen (§ 15 Abs. 3, Abs. 1 VersG) sind erfüllt und R ist als Nichtstörer (§ 6 PolG NRW) tauglicher Adressat der Verfügung. Insbesondere war die Auflösung auch verhältnismäßig. Es war kein milderes Mittel ersichtlich, das die Gefahr gewalttätiger Auseinandersetzungen mit den Gegendemonstranten verhindert hätte. Diese Gefahren waren für die zuständige Behörde zum Zeitpunkt der Verfügung absehbar nicht zu beherrschen. Die Versammlungsauflösung war somit rechtmäßig.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

IUS

iustus

19.7.2021, 19:01:53

Als Tipp, der Vlt auch nervig für die Person ist, die es eintragen muss: Vlt die Parallelnormen der anderen Länder in die Beschreibung packen. :)

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

20.7.2021, 10:01:11

Hallo iustus, wir hatten das in der Redaktion tatsächlich einmal diskutiert, uns aber letztlich dagegen entschieden. Grund dafür ist weniger der dahinterstehende Aufwand, als vielmehr der Umstand, dass die Hinweistexte durch die Nennung der übrigen Landesnormen schnell sehr unübersichtlich werden. Wir bemühen uns aber bei der Auswahl der Landesnormen abzuwechseln, damit alle mal Bundesländer mal an die Reihe kommen. Wir haben hier die Landesnormen nun auch verlinkt, sodass man sie leichter mit den eigenen Landesnormen abgleichen kann. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Cocos.lawstudy

Cocos.lawstudy

16.12.2021, 19:49:19

Ich würde das auch sinnvoll finden. Idee: Vielleicht ganz unten ein extra Kästchen machen. So wie ihr manchmal eins für Klausur Hinweise habt.

medoLaw

medoLaw

19.5.2022, 12:10:50

Das mit der Unübersichtlichkeit kann ich verstehen. Vorschlag : Vielleicht kann man in seinem Profil ein Bundesland auswählen und entsprechend dieser Auswahl bekommt man dann immer die gewünschten Landesnormen angezeigt :)

CLA

chuck lawris

6.10.2021, 08:38:22

Mir leuchtet nicht ganz ein, wieso Gegendemonstranten in einem solchen Fall kein

Platzverweis

ausgesprochen werden kann, wenn denn Anhaltspunkte für Angriffe bestehen. Gegendemonstranten hätten es doch so regelmäßig in der Hand, ob andere Demonstranten das VersR wahrnehmen können - sie müssten nur aggressiv auftreten und genügend Personen sein, um die Polizei zu überfordern.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

6.10.2021, 10:52:10

Hi chuck lawrris, in der Tat ist einem Vorgehen gegen Störer einer angemeldeten Versammlung grundsätzlich der Vorzug zu einer Versammlungsauflösung zu geben. Die Polizei ist insoweit bereits im Vorfeld gehalten bei Anzeichen von Gegendemonstrationen ausreichend Schutzmaßnahmen zu ergreifen und genügend Einsatzkräfte einzusetzen. Kann aber im

Einzelfall

ausnahmsweise die Sicherheit einer Versammlung nicht mehr gewährleistet werden, so kann als ultima ratio die Auflösung der Versammlung als Nichtstörer zum Zwecke der Gefahrenabwehr durchaus rechtmäßig sein (vgl. § 20 Abs. 1 Nr. 2 BPolG bzw. die entsprechenden Vorschriften in den einzelnen Landesgesetzen). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

CLA

chuck lawris

6.10.2021, 11:08:41

Gracias :)

STE

StellaChiara

31.7.2023, 16:10:36

mir ist nicht ganz klar, wieso nicht die Gegendemonstration aufgelöst wurde?

LELEE

Leo Lee

2.8.2023, 16:28:18

Hi StellaChiara, wie du richtigerweise anmerkst ist natürlich zuerst die Gegendemonstration aufzulösen, zumal sie die Verhaltensstörerin ist. Allerdings gilt zu beachten, dass vorliegend als Begründung aufgeführt wurde, dass die Polizei aufgrund der Unübersichtlichkeit nicht genau einschätzen konnte, wie viele gewaltbereite Gegendemonstranten vorhanden waren. Deswegen war es der Polizei nicht möglich, die Demo durch R nicht hinreichend zu schützen aufgrund mangelnder Polizeikräfte. Dies ist auch der Grund, weshalb die Polizei als "Notlösung" die Demo der R - zu ihrer eigenen Sicherheit - aufgelöst hat, obwohl sie eben "nichts getan" hat. Hierzu kann nicht dir die Lektüre der Entscheidung (BVerwG 6 B 1.20, Rn. 16 f.) empfehlen :) Liebe Grüße Leo @

Lukas Mengestu
LELEE

Leo Lee

2.8.2023, 16:38:08

@[Lukas_Mengestu](136780)

falktghl

falktghl

5.1.2024, 08:38:35

Im Ergebnis kann das Bundesland, welches stets zu wenig Polizisten absendet selbst entscheiden, wen es schützt.

EN

Entenpulli

8.2.2024, 11:36:19

Aber auch nur, wenn es gleichzeitig eine Gegendemo gibt, die eine konkrete Gefahr für elementare

Rechtsgüter

darstellt


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