"Taggenaue" Berechnung von Schmerzensgeld

9. Mai 2023

4,6(32.319 mal geöffnet in Jurafuchs)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs-Illustration zum Fall zur "Taggenauen" Berechnung von Schmerzensgeld (BGH, Urt. v. 15.02.2022 – VI ZR 937/20): Eine Passantin wird von einem Auto erfasst. Die Passantin sagt "Huch".

Die unachtsame Passantin G wird vom Pkw der S erfasst. G verbringt 100 Tage auf der Intensivstation, 400 Tage auf der Normalstation und 50 Tage in der Reha-Klinik. Seitdem ist G aufgrund von Dauerschäden um einen Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 60 vermindert erwerbsfähig.

Diesen Fall lösen 75,8 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

Einordnung des Falls

"Taggenaue" Berechnung von Schmerzensgeld

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Hat G gegen S dem Grunde nach einen Anspruch auf Schadensersatz (§ 7 Abs. 1 Var. 2 StVG)?

Ja, in der Tat!

Der haftungsbegründende Tatbestand eines Anspruchs auf Schadensersatz nach § 7 Abs. 1 StVG setzt voraus: (1) Verletzung eines Rechtsguts (Abs. 1); (2) bei Betrieb eines Kfz; (3) Haltereigenschaft; (4) kein Haftungsausschluss (§§ 7 Abs. 2, 8, 17 Abs. 3 StVG). Körper und Gesundheit der G (§ 7 Abs. 1 Var. 2 StVG) wurden bei Betrieb des Pkw der Halterin S verletzt.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. Umfasst der Anspruch der G gegen S auf Schadensersatz auch ein angemessenes Schmerzensgeld (§§ 11 S. 2 StVG, 253 Abs. 2 BGB)?

Ja!

Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann eine billige Entschädigung in Geld (Schmerzensgeld) nur in den durch das Gesetz bestimmten Fällen gefordert werden (§ 253 Abs. 1 BGB). Eine solche Bestimmung treffen die §§ 11 S. 2 StVG, 253 Abs. 2 BGB „für den Fall der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit“. S hat Körper und Gesundheit der G verletzt (§ 7 Abs. 1 Var. 2 StVG). Der Anspruch auf Schmerzensgeld besteht ebenso, wenn S neben einer Gefährdungshaftung (§ 7 Abs. 1 StVG) eine Haftung aus vermutetem Verschulden (§ 18 StVG) und/oder eine Haftung nach § 823 BGB trifft.

3. Hat der Anspruch auf Schmerzensgeld drei Funktionen, insbesondere eine Abschreckungsfunktion (§§ 11 S. 2 StVG, 253 Abs. 2 BGB)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Anspruch auf Schmerzensgeld hat im deutschen Recht eine Doppelfunktion: Erstens soll das Schmerzensgeld den Geschädigten befähigen, individuelles immaterielles Leid durch Vorteile auszugleichen, die sein Wohlbefinden steigern (Ausgleichsfunktion). Zweitens soll es dem Geschädigten Genugtuung dafür verschaffen, dass ein Dritter seine Integrität verletzt hat (Genugtuungsfunktion). Eine zusätzliche Abschreckungsfunktion kommt nur dem Anspruch auf Schmerzensgeld wegen Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu. Der Unterschied rührt daher, dass jener Anspruch nicht aus § 253 Abs. 2 BGB, sondern unmittelbar aus Art. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG hergeleitet wird (Oetker, in: MüKoBGB, 9.A. 2022, § 253 RdNr. 10ff.).

4. Kann das Gericht völlig frei entscheiden (§ 287 Abs. 1 ZPO), was eine „billige“ Höhe des Schmerzensgelds sei (§§ 11 S. 2 StVG, 253 Abs. 2 BGB).

Nein, das trifft nicht zu!

Das Gericht kann die Höhe eines Schadens grundsätzlich „nach freier Überzeugung“ schätzen (§ 287 Abs. 1 ZPO). Diese Vorschrift findet auch auf einen Schmerzensgeldanspruch Anwendung. Bei dessen Berechnung muss das Gericht aber (1) alle relevanten Umstände des Einzelfalls berücksichtigen (§ 287 Abs. 1 ZPO), sich um ein (2) angemessenes Verhältnis zwischen Höhe des Schmerzensgelds und Art und Dauer der Verletzungen bemühen und darf (3) nicht willkürlich entscheiden (RdNr. 11). Die relevanten Umstände sind „im Wesentlichen“ (RdNr. 13): (1) Schwere der Verletzungen; (2) verursachtes Leid; (3) Dauer des Leidens; (4) Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Geschädigten; (5) Grad des Verschuldens des Schädigers.

5. Stehen alle Umstände des Einzelfalls bei der Bemessung des Schmerzensgeldes gleichrangig nebeneinander?

Nein!

BGH: Auf Grundlage einer Gesamtbetrachtung und Gewichtung aller Umstände des Einzelfalls sei ein einheitliches Schmerzensgeld festzulegen. Eine isolierte Betrachtung einzelner Umstände verbiete sich. Das Gericht müsse das Schwergewicht seiner Gesamtbetrachtung aber auf das Ausmaß der individuellen Lebensbeeinträchtigung legen (RdNr. 13, 17, 21, 24). Nachrangig sei demgegenüber etwa der Grad des Verschuldens des Schädigers (BGHZ 212, 48 RdNr. 54f.). Geprägt wird die individuelle Lebensbeeinträchtigung durch: (1) Schwere der Verletzungen; (2) verursachtes Leid; (3) Dauer des Leidens; (4) Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Geschädigten.

6. Darf das Gericht für die jeweiligen Behandlungsabschnitte Intensivstation/Normalstation/Reha verletzungsunabhängige Tagessätze für die Behandlungsdauer bilden und diese schlicht addieren?

Nein, das ist nicht der Fall!

Das Berufungsgericht hatte in einem ersten Schritt zunächst unabhängig von der konkreten Verletzung Tagessätze für Behandlungsabschnitte festgelegt (zB €150 für die Behandlung auf der Intensivstation). BGH: Eine Berechnung nach Tagessätzen für unterschiedliche Behandlungsabschnitte betrachte isoliert nur die Dauer und Art eines Stationsaufenthalts. Die Art und Schwere der Verletzung werde dabei in unzulässiger Weise ausgeblendet (RdNr. 18). Selbst objektiv gleichartige, auf gleiche Weise behandelte Verletzungen könnten aber zu individuell sehr unterschiedlich empfundenem Leid führen (RdNr. 19).

7. Darf das Gericht für die erwartete Dauer verbleibender Dauerschäden Tagessätze addieren, deren Höhe sich allein am Grad der Schädigungsfolgen (GdS) orientiert (§ 2 VersMedV)?

Nein, das trifft nicht zu!

BGH: Der Grad der Schädigungsfolgen (§ 2 VersMedV) betrachte isoliert nur die physischen/psychischen Schädigungsfolgen. Eine Addition darf gestützter Tagessätze blende den Umfang des individuellen Leidens unzulässiger Weise völlig aus (RdNr. 20). Diesen Bewertungsfehler könne selbst eine wertende Ergebniskorrektur auf zweiter Stufe nicht heilen. Der BGH führt als Beispiel den Verlust des Unterschenkels an, der für den Leistungssportler gravierender sei, als für jemanden mit Bürotätigkeit.

8. Darf das Gericht zur Berechnung des Schmerzensgelds wegen der Dauer der Beeinträchtigungen das monatliche Pro-Kopf-Bruttonationaleinkommen als Referenzgröße heranziehen?

Nein!

Das Gericht muss aufgrund einer Gesamtbetrachtung und Gewichtung aller Umstände des Einzelfalls ein einheitliches Schmerzensgeld für das gesamte Schadensbild festlegen. Das Schwergewicht seiner Gesamtbetrachtung muss auf dem Ausmaß der individuellen Lebensbeeinträchtigung liegen (RdNr. 13, 17, 21, 24). BGH: Das monatliche Pro-Kopf-Bruttonationaleinkommen habe als Referenzgröße keinerlei systematischen Bezug zum auszugleichenden individuellen immateriellen Schaden (Ausgleichsfunktion). Allerdings könnten die konkreten wirtschaftlichen Verhältnisse des Geschädigten und des Schädigers über das Ausmaß der individuellen Lebensbeeinträchtigung mitbestimmen (RdNr. 24).

9. Kann der BGH das Schmerzensgeld selbst festsetzen, wenn den Vorinstanzen bei der Festsetzung Fehler unterlaufen sind?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Bemessung des Schmerzensgeldes der Höhe nach obliegt im Wesentlichen dem Tatrichter, dem hierbei ein weites Ermessen eingeräumt wird („freie Überzeugung“, § 287 ZPO). Die Kontrolle des Revisionsgerichts ist deshalb auf eine Rechtskontrolle beschränkt. Stellt es Rechtsfehler fest, so kann es sich nicht an die Stelle des Tatrichters setzen. Vielmehr ist der Fall dann noch nicht zur Endentscheidung reif und muss zurückverwiesen werden (vgl. § 563 Abs. 3 ZPO).Im zugrundeliegenden Fall hat der BGH deshalb die Entscheidung der Vorinstanz (OLG Frankfurt, VersR 2021, 127) hinsichtlich des Schmerzensgeldausspruches aufgehoben und zurückverwiesen.
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen
Jurafuchs
Eine Besprechung von:
Jurafuchs Brand
facebook
facebook
facebook
instagram

Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

PPAA

Philipp Paasch

9.11.2022, 23:59:38

Ich meine, den Grad der Schädigungsfolgen (GdS) gibt man, wie auch den Grad der Behinderung (GdB) nicht in Prozent an, sondern halt in Grad, also ohne jeden Zusatz.

Nora Mommsen

Nora Mommsen

10.11.2022, 11:19:07

Hallo Philipp Paasch, danke für die Anmerkung. Du hast Recht - auch wenn umgangsprachlich oft von Prozent gesprochen wird, ist es rechtlich "nur" der Grad. Wir haben die Anmerkung nun angepasst. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

Lavendelfee 🪽

Lavendelfee 🪽

17.3.2024, 07:48:07

In wie weit ist hier ein Mitverschulden der „unachtsamen“ Passantin zu berücksichtigen? 😊

TI

Timurso

29.5.2024, 00:32:23

§ 254 BGB findet auf den Anspruch aus §

7 StVG

grundsätzlich Anwendung, § 9 StVG. Allerdings wird im Rahmen von § 254 BGB bei Schmerzensgeldansprüchen nach h.M. nicht wie sonst eine Quote nach Verschuldensanteilen gebildet. Vielmehr wird im Rahmen der Abwägung, welche Höhe im Einzelfall als Schmerzensgeld angemessen ist, die Verursachungsbeiträge berücksichtigt. Im Ergebnis wäre der Anspruch also auf jeden Fall höher, wenn die Passantin nicht durch eigene Unachtsamkeit zu dem Unfall beigetragen hätte.

ACDC

acdc

19.8.2024, 11:09:49

Ist § 11 S. 2 StVG lex specialis zu § 253 II BGB?

Tobias Krapp

Tobias Krapp

22.8.2024, 13:04:03

Hallo acdc, danke für deine Nachfrage. Dogmatisch kann man davon sprechen, dass § 11 S. 2 StVG für den § 7 I StVG Anspruch die speziellere Vorschrift ist. Schließlich steht sie im Spezialgesetz, § 253 II BGB im AT Teil des Schuldrechts. Inhaltlich hat sie aber reine Klarstellungsfunktion. Zum Verständnis: Früher befand sich § 253 II BGB nicht im Schuldrecht AT, sondern nur im Deliktsrecht. Für die Gefährdungshaftung in Spezialgesetzen war die Anwendung daher nicht möglich, es befanden sich damals auch noch keine Spezialregelungen in diesen Gesetzen, vielmehr gab es bei der Gefährdungshaftung schlicht keinen immateriellen Schadensersatz. Als die Regelung in das Schuldrecht AT nach § 253 II BGB überführt wurde, wäre es dogmatisch eigentlich nicht erforderlich gewesen, in die Spezialgesetze wie in das StVG eine Spezialnorm zum immateriellen Schadensersatz aufzunehmen - schließlich wäre der Rückgriff auf § 253 II BGB nun ohne Weiteres möglich gewesen, da es nun eine AT Regelung war. Der Gesetzgeber wollte ausweislich der Gesetzesbegründung aber dennoch (überflüssigerweise) "klarstellen", dass nun auch in der Gefährdungshaftung immaterieller Schadensersatz zu leisten ist. Daher exisitieren in allen Spezialgesetzen der Gefährdungshaftung solche Normen wie § 11 S. 2 StVG. Man müsste im Normzitat in der Klausur daher § 253 II BGB (solange man nicht über den § 823 I BGB Anspruch spricht) nicht aufnehmen, da bereits § 11 S. 2 StVG existiert, und dogmatisch wäre dies auch genauer. Aufgrund der reinen Klarstellungsfunktion des § 11 S. 2 StVG wird teils § 253 II BGB aber einfach mitzitiert - so auch vom BGH im zugrundeliegenden Fall. Da die generellen Überlegungen zum Schmerzensgeld hier auf die inhaltsgleichen § 11 S. 2 StVG und § 253 II BGB gleichermaßen Anwendung finden, haben wir dies in der Aufgabe so belassen. Viele Grüße - für das Jurafuchsteam - Tobias

Trowa Barton

Trowa Barton

25.10.2024, 13:03:25

Bei der Frage nach der Berechnung der Tagessätze sind wohl einige Sätze amalgamiert worden. Für präzisere Bestimmung gebt die Möglichkeit bereits in dem Punkt einen Kommentar abzugeben.

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

25.10.2024, 14:41:44

Hallo Trowa Barton, vielen Dank für Deinen Hinweis! Wir haben den Fehler auf unsere Liste gesetzt und werden ihn im nächsten Korrekturgang beheben. Deine Aufmerksamkeit hilft uns, die Qualität unserer Inhalte hochzuhalten. Wir werden diesen Thread als erledigt markieren, sobald wir den Fehler behoben haben. Beste Grüße, Linne_Karlotta_, für das Jurafuchs-Team


Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und mit 15.000+ Nutzer austauschen.
Kläre Deine Fragen zu dieser und 15.000+ anderen Aufgaben mit den 15.000+ Nutzern der Jurafuchs-Community
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen