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Fall zur "Taggenauen" Berechnung von Schmerzensgeld (BGH, Urt. v. 15.02.2022 – VI ZR 937/20): examensrelevante Rechtsprechung | Jurafuchs

Fall zur "Taggenauen" Berechnung von Schmerzensgeld (BGH, Urt. v. 15.02.2022 – VI ZR 937/20): examensrelevante Rechtsprechung | Jurafuchs

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs-Illustration zum Fall zur "Taggenauen" Berechnung von Schmerzensgeld (BGH, Urt. v. 15.02.2022 – VI ZR 937/20): Eine Passantin wird von einem Auto erfasst. Die Passantin sagt "Huch".

Die unachtsame Passantin G wird vom Pkw der S erfasst. G verbringt 100 Tage auf der Intensivstation, 400 Tage auf der Normalstation und 50 Tage in der Reha-Klinik. Seitdem ist G aufgrund von Dauerschäden um einen Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 60 vermindert erwerbsfähig.

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Einordnung des Falls

"Taggenaue" Berechnung von Schmerzensgeld

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Hat G gegen S dem Grunde nach einen Anspruch auf Schadensersatz (§ 7 Abs. 1 Var. 2 StVG)?

Ja, in der Tat!

Der haftungsbegründende Tatbestand eines Anspruchs auf Schadensersatz nach § 7 Abs. 1 StVG setzt voraus: (1) Verletzung eines Rechtsguts (Abs. 1); (2) bei Betrieb eines Kfz; (3) Haltereigenschaft; (4) kein Haftungsausschluss (§§ 7 Abs. 2, 8, 17 Abs. 3 StVG). Körper und Gesundheit der G (§ 7 Abs. 1 Var. 2 StVG) wurden bei Betrieb des Pkw der Halterin S verletzt.
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2. Umfasst der Anspruch der G gegen S auf Schadensersatz auch ein angemessenes Schmerzensgeld (§§ 11 S. 2 StVG, 253 Abs. 2 BGB)?

Ja!

Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann eine billige Entschädigung in Geld (Schmerzensgeld) nur in den durch das Gesetz bestimmten Fällen gefordert werden (§ 253 Abs. 1 BGB). Eine solche Bestimmung treffen die §§ 11 S. 2 StVG, 253 Abs. 2 BGB „für den Fall der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit“. S hat Körper und Gesundheit der G verletzt (§ 7 Abs. 1 Var. 2 StVG). Der Anspruch auf Schmerzensgeld besteht ebenso, wenn S neben einer Gefährdungshaftung (§ 7 Abs. 1 StVG) eine Haftung aus vermutetem Verschulden (§ 18 StVG) und/oder eine Haftung nach § 823 BGB trifft.

3. Hat der Anspruch auf Schmerzensgeld drei Funktionen, insbesondere eine Abschreckungsfunktion (§§ 11 S. 2 StVG, 253 Abs. 2 BGB)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Anspruch auf Schmerzensgeld hat im deutschen Recht eine Doppelfunktion: Erstens soll das Schmerzensgeld den Geschädigten befähigen, individuelles immaterielles Leid durch Vorteile auszugleichen, die sein Wohlbefinden steigern (Ausgleichsfunktion). Zweitens soll es dem Geschädigten Genugtuung dafür verschaffen, dass ein Dritter seine Integrität verletzt hat (Genugtuungsfunktion). Eine zusätzliche Abschreckungsfunktion kommt nur dem Anspruch auf Schmerzensgeld wegen Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu. Der Unterschied rührt daher, dass jener Anspruch nicht aus § 253 Abs. 2 BGB, sondern unmittelbar aus Art. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG hergeleitet wird (Oetker, in: MüKoBGB, 9.A. 2022, § 253 RdNr. 10ff.).

4. Kann das Gericht völlig frei entscheiden (§ 287 Abs. 1 ZPO), was eine „billige“ Höhe des Schmerzensgelds sei (§§ 11 S. 2 StVG, 253 Abs. 2 BGB).

Nein, das trifft nicht zu!

Das Gericht kann die Höhe eines Schadens grundsätzlich „nach freier Überzeugung“ schätzen (§ 287 Abs. 1 ZPO). Diese Vorschrift findet auch auf einen Schmerzensgeldanspruch Anwendung. Bei dessen Berechnung muss das Gericht aber (1) alle relevanten Umstände des Einzelfalls berücksichtigen (§ 287 Abs. 1 ZPO), sich um ein (2) angemessenes Verhältnis zwischen Höhe des Schmerzensgelds und Art und Dauer der Verletzungen bemühen und darf (3) nicht willkürlich entscheiden (RdNr. 11). Die relevanten Umstände sind „im Wesentlichen“ (RdNr. 13): (1) Schwere der Verletzungen; (2) verursachtes Leid; (3) Dauer des Leidens; (4) Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Geschädigten; (5) Grad des Verschuldens des Schädigers.

5. Stehen alle Umstände des Einzelfalls bei der Bemessung des Schmerzensgeldes gleichrangig nebeneinander?

Nein!

BGH: Auf Grundlage einer Gesamtbetrachtung und Gewichtung aller Umstände des Einzelfalls sei ein einheitliches Schmerzensgeld festzulegen. Eine isolierte Betrachtung einzelner Umstände verbiete sich. Das Gericht müsse das Schwergewicht seiner Gesamtbetrachtung aber auf das Ausmaß der individuellen Lebensbeeinträchtigung legen (RdNr. 13, 17, 21, 24). Nachrangig sei demgegenüber etwa der Grad des Verschuldens des Schädigers (BGHZ 212, 48 RdNr. 54f.). Geprägt wird die individuelle Lebensbeeinträchtigung durch: (1) Schwere der Verletzungen; (2) verursachtes Leid; (3) Dauer des Leidens; (4) Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Geschädigten.

6. Darf das Gericht für die jeweiligen Behandlungsabschnitte Intensivstation/Normalstation/Reha verletzungsunabhängige Tagessätze für die Behandlungsdauer bilden und diese schlicht addieren?

Nein, das ist nicht der Fall!

Das Berufungsgericht hatte in einem ersten Schritt zunächst unabhängig von der konkreten Verletzung Tagessätze für Behandlungsabschnitte festgelegt (zB €150 für die Behandlung auf der Intensivstation). BGH: Eine Berechnung nach Tagessätzen für unterschiedliche Behandlungsabschnitte betrachte isoliert nur die Dauer und Art eines Stationsaufenthalts. Die Art und Schwere der Verletzung werde dabei in unzulässiger Weise ausgeblendet (RdNr. 18). Selbst objektiv gleichartige, auf gleiche Weise behandelte Verletzungen könnten aber zu individuell sehr unterschiedlich empfundenem Leid führen (RdNr. 19).

7. Darf das Gericht für die erwartete Dauer verbleibender Dauerschäden Tagessätze addieren, deren Höhe sich allein am Grad der Schädigungsfolgen (GdS) orientiert (§ 2 VersMedV)?

Nein, das trifft nicht zu!

BGH: Der Grad der Schädigungsfolgen (§ 2 VersMedV) betrachte isoliert nur die physischen/psychischen Schädigungsfolgen. Eine Addition darf gestützter Tagessätze blende den Umfang des individuellen Leidens unzulässiger Weise völlig aus (RdNr. 20). Diesen Bewertungsfehler könne selbst eine wertende Ergebniskorrektur auf zweiter Stufe nicht heilen. Der BGH führt als Beispiel den Verlust des Unterschenkels an, der für den Leistungssportler gravierender sei, als für jemanden mit Bürotätigkeit.

8. Darf das Gericht zur Berechnung des Schmerzensgelds wegen der Dauer der Beeinträchtigungen das monatliche Pro-Kopf-Bruttonationaleinkommen als Referenzgröße heranziehen?

Nein!

Das Gericht muss aufgrund einer Gesamtbetrachtung und Gewichtung aller Umstände des Einzelfalls ein einheitliches Schmerzensgeld für das gesamte Schadensbild festlegen. Das Schwergewicht seiner Gesamtbetrachtung muss auf dem Ausmaß der individuellen Lebensbeeinträchtigung liegen (RdNr. 13, 17, 21, 24). BGH: Das monatliche Pro-Kopf-Bruttonationaleinkommen habe als Referenzgröße keinerlei systematischen Bezug zum auszugleichenden individuellen immateriellen Schaden (Ausgleichsfunktion). Allerdings könnten die konkreten wirtschaftlichen Verhältnisse des Geschädigten und des Schädigers über das Ausmaß der individuellen Lebensbeeinträchtigung mitbestimmen (RdNr. 24).

9. Kann der BGH das Schmerzensgeld selbst festsetzen, wenn den Vorinstanzen bei der Festsetzung Fehler unterlaufen sind?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Bemessung des Schmerzensgeldes der Höhe nach obliegt im Wesentlichen dem Tatrichter, dem hierbei ein weites Ermessen eingeräumt wird („freie Überzeugung“, § 287 ZPO). Die Kontrolle des Revisionsgerichts ist deshalb auf eine Rechtskontrolle beschränkt. Stellt es Rechtsfehler fest, so kann es sich nicht an die Stelle des Tatrichters setzen. Vielmehr ist der Fall dann noch nicht zur Endentscheidung reif und muss zurückverwiesen werden (vgl. § 563 Abs. 3 ZPO).Im zugrundeliegenden Fall hat der BGH deshalb die Entscheidung der Vorinstanz (OLG Frankfurt, VersR 2021, 127) hinsichtlich des Schmerzensgeldausspruches aufgehoben und zurückverwiesen.
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