"Taggenaue" Berechnung von Schmerzensgeld
9. Mai 2023
11 Kommentare
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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Die unachtsame Passantin G wird vom Pkw der S erfasst. G verbringt 100 Tage auf der Intensivstation, 400 Tage auf der Normalstation und 50 Tage in der Reha-Klinik. Seitdem ist G aufgrund von Dauerschäden um einen Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 60 vermindert erwerbsfähig.
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Einordnung des Falls
"Taggenaue" Berechnung von Schmerzensgeld
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Hat G gegen S dem Grunde nach einen Anspruch auf Schadensersatz (§ 7 Abs. 1 Var. 2 StVG)?
Ja, in der Tat!
Jurastudium und Referendariat.
2. Umfasst der Anspruch der G gegen S auf Schadensersatz auch ein angemessenes Schmerzensgeld (§§ 11 S. 2 StVG, 253 Abs. 2 BGB)?
Ja!
3. Hat der Anspruch auf Schmerzensgeld drei Funktionen, insbesondere eine Abschreckungsfunktion (§§ 11 S. 2 StVG, 253 Abs. 2 BGB)?
Nein, das ist nicht der Fall!
4. Kann das Gericht völlig frei entscheiden (§ 287 Abs. 1 ZPO), was eine „billige“ Höhe des Schmerzensgelds sei (§§ 11 S. 2 StVG, 253 Abs. 2 BGB).
Nein, das trifft nicht zu!
5. Stehen alle Umstände des Einzelfalls bei der Bemessung des Schmerzensgeldes gleichrangig nebeneinander?
Nein!
6. Darf das Gericht für die jeweiligen Behandlungsabschnitte Intensivstation/Normalstation/Reha verletzungsunabhängige Tagessätze für die Behandlungsdauer bilden und diese schlicht addieren?
Nein, das ist nicht der Fall!
7. Darf das Gericht für die erwartete Dauer verbleibender Dauerschäden Tagessätze addieren, deren Höhe sich allein am Grad der Schädigungsfolgen (GdS) orientiert (§ 2 VersMedV)?
Nein, das trifft nicht zu!
8. Darf das Gericht zur Berechnung des Schmerzensgelds wegen der Dauer der Beeinträchtigungen das monatliche Pro-Kopf-Bruttonationaleinkommen als Referenzgröße heranziehen?
Nein!
9. Kann der BGH das Schmerzensgeld selbst festsetzen, wenn den Vorinstanzen bei der Festsetzung Fehler unterlaufen sind?
Nein, das ist nicht der Fall!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Philipp Paasch
9.11.2022, 23:59:38
Ich meine, den Grad der Schädigungsfolgen (GdS) gibt man, wie auch den Grad der Behinderung (GdB) nicht in Prozent an, sondern halt in Grad, also ohne jeden Zusatz.

Nora Mommsen
10.11.2022, 11:19:07
Hallo Philipp Paasch, danke für die Anmerkung. Du hast Recht - auch wenn umgangsprachlich oft von Prozent gesprochen wird, ist es rechtlich "nur" der Grad. Wir haben die Anmerkung nun angepasst. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

Lavendelfee 🪽
17.3.2024, 07:48:07
In wie weit ist hier ein Mitverschulden der „unachtsamen“ Passantin zu berücksichtigen? 😊
Timurso
29.5.2024, 00:32:23
§ 254 BGB findet auf den Anspruch aus § 7 StVG grundsätzlich Anwendung, § 9 StVG. Allerdings wird im Rahmen von § 254 BGB bei Schmerzens
geldansprüchen nach h.M. nicht wie sonst eine Quote nach Verschuldensanteilen gebildet. Vielmehr wird im Rahmen der Abwägung, welche Höhe im Einzelfall als Schmerzens
geldangemessen ist, die Verursachungsbeiträge berücksichtigt. Im Ergebnis wäre der Anspruch also auf jeden Fall höher, wenn die Passantin nicht durch eigene Unachtsamkeit zu dem Unfall beigetragen hätte.
anna.nass
19.8.2024, 11:09:49
Ist § 11 S. 2 StVG lex specialis zu § 253 II BGB?

Tobias Krapp
22.8.2024, 13:04:03
Hallo acdc, danke für deine Nachfrage. Dogmatisch kann man davon sprechen, dass § 11 S. 2 StVG für den § 7 I StVG Anspruch die speziellere Vorschrift ist. Schließlich steht sie im Spezialgesetz, § 253 II BGB im AT Teil des Schuldrechts. Inhaltlich hat sie aber reine Klarstellungsfunktion. Zum Verständnis: Früher befand sich § 253 II BGB nicht im Schuldrecht AT, sondern nur im Deliktsrecht. Für die Gefährdungshaftung in Spezialgesetzen war die Anwendung daher nicht möglich, es befanden sich damals auch noch keine Spezialregelungen in diesen Gesetzen, vielmehr gab es bei der Gefährdungshaftung schlicht keinen immateriellen
Schadensersatz. Als die Regelung in das Schuldrecht AT nach § 253 II BGB überführt wurde, wäre es dogmatisch eigentlich nicht erforderlich gewesen, in die Spezialgesetze wie in das StVG eine Spezialnorm zum immateriellen
Schadensersatzaufzunehmen - schließlich wäre der Rückgriff auf § 253 II BGB nun ohne Weiteres möglich gewesen, da es nun eine AT Regelung war. Der Gesetzgeber wollte ausweislich der Gesetzesbegründung aber dennoch (überflüssigerweise) "klarstellen", dass nun auch in der Gefährdungshaftung immaterieller
Schadensersatzzu leisten ist. Daher exisitieren in allen Spezialgesetzen der Gefährdungshaftung solche Normen wie § 11 S. 2 StVG. Man müsste im Normzitat in der Klausur daher § 253 II BGB (solange man nicht über den § 823 I BGB Anspruch spricht) nicht aufnehmen, da bereits § 11 S. 2 StVG existiert, und dogmatisch wäre dies auch genauer. Aufgrund der reinen Klarstellungsfunktion des § 11 S. 2 StVG wird teils § 253 II BGB aber einfach mitzitiert - so auch vom BGH im zugrundeliegenden Fall. Da die generellen Überlegungen zum Schmerzens
geldhier auf die inhaltsgleichen § 11 S. 2 StVG und § 253 II BGB gleichermaßen Anwendung finden, haben wir dies in der Aufgabe so belassen. Viele Grüße - für das Jurafuchsteam - Tobias

Charles "Chuck" McGill
10.3.2025, 13:57:54
Warum soll das Vermögen des Schädigers bei der Frsge des Verursachten Leids eine Rolle spielen? Das erschließt sich mir nicht.
Aleks_is_Y
13.3.2025, 11:02:04
In der Aufgabe wird von der "unachtsamen Passantin" gesprochen, im folgenden ist diese Information jedoch vollkommen irrelevant und wird nicht mehr für die Lösung verwendet. Insoweit frage ich mich, ob sie dort tatsöchlich gebraucht wird? In unserer autozentrierten Gesellschaft und der daraus resultierenden Gesetzgebung für Straßennutzung und -verkehr sollten zu Fußgehende vll. nicht weiter unnötig diskreditiert werden... möglicherweise war ja der Autofahrer unachtsam, oder beide, oder keiner, wegen der Halterhaftung spielt es jedenfalls keine Rolle; außer die Aufgabe wird um ein Element des Mitverschuldens ergäzt.