Kopftuchverbot für Referendarinnen

9. Mai 2023

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration zum Kopftuchverbot für Referendarinnen (BVerfG, 14.01.2020 - 2 BvR 1333/17): Das Gericht weist eine Rechtsreferendarin darauf hin, dass sie das Kopftuch nicht tragen dürfe, wenn sie von Bürgern als Repräsentantin des Staates wahrgenommen werden kann, etwa auf der Richterbank.
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Rechtsreferendarin R trägt aus Glaubensüberzeugung ein Kopftuch. Das Gericht weist darauf hin, dass sie das Kopftuch nicht tragen dürfe, wenn sie von Bürgern als Repräsentantin des Staates wahrgenommen werden kann, etwa auf der Richterbank. R erhebt Verfassungsbeschwerde.

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Einordnung des Falls

Das Bundesverfassungsgericht hatte 2020 zu entscheiden, ob das Verbot eines Gerichts gegenüber einer Rechtsreferendarin, kein Kopftuch tragen zu dürfen, verfassungswidrig sei. Das Bundesverfassungsgericht sah darin keinen Verfassungsverstoß. Die Regelung zur Neutralitätspflicht (§ 45 HBG) stehe mit dem GG in Einklang, sofern sie verfassungskonform angewendet und die „christlich und humanistisch geprägte abendländische Tradition des Landes Hessen“ nicht gegenüber anderen Glaubensbekundungen privilegiert wird (RdNr. 114ff.). Das Urteil ist umstritten. Beachtlich ist auch das Sondervotum des Richters Maidowski: Er hält das Verbot für unverhältnismäßig - durch den erkennbaren Ausbildungsstatus von Referendarinnen werde das Vertrauen in eine neutrale Rechtspflege nicht im gleichen Maße wie z.B. bei Richterinnen erschüttert.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 16 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ist die Verfassungsbeschwerde der R (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG) unzulässig, da R ihr Referendariat inzwischen abgeschlossen hat und das Rechtsschutzbedürfnis fehlt?

Nein, das ist nicht der Fall!

BVerfG: Das Rechtsschutzbedürfnis bestehe auch nach Abschluss der praxisbezogenen Abschnitte des Referendariats, in denen die streitgegenständliche Anordnung Wirkung entfaltete, fort. Die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt habe sich hier auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher die R nach dem regelmäßigen Geschäftsgang eine Entscheidung des BVerfG kaum erlangen konnte. Ein Rechtsschutzbedürfnis bestehe weiterhin, andernfalls würde der Grundrechtsschutz der R in unzumutbarer Weise verkürzt (RdNr. 75).
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2. Beruht die Anordnung des Gerichts, in bestimmten Situationen kein Kopftuch tragen zu dürfen, auf der beamtenrechtlichen Neutralitätspflicht (§ 45 Hessisches Beamtengesetz (HBG))?

Ja, in der Tat!

Das Ausbildungsgericht stützt die Anordnung auf die beamtenrechtliche Neutralitätspflicht (§ 45 HBG). Danach haben Beamtinnen und Beamte sich im Dienst politisch, weltanschaulich und religiös neutral zu verhalten und dürfen u.a. keine Kleidungsstücke tragen, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen. Für Rechtsreferendarinnen und Referendare gelten die Bestimmungen entsprechend (§ 27 Abs. 1 S. 2 JAG Hessen). Mit ihrer gegen das letztinstanzliche Urteil des VGH Kassel gerichteten Verfassungsbeschwerde zweifelt R die Verfassungsmäßigkeit dieser Neutralitätspflicht an (RdNr. 76).

3. Kann sich R trotz ihrer Anstellung als Referendarin im öffentlichen Dienst auf die Grundrechte berufen?

Ja!

R steht als Referendarin in einem öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis und ist somit in den staatlichen Aufgabenbereich eingegliedert (vgl. § 26 Abs. 2 S. 1 JAG). Laut BVerfG werde ihre Grundrechtsberechtigung dadurch aber „nicht von vornherein oder grundsätzlich in Frage gestellt“ (RdNr. 79). R kann sich somit auf den Schutz der Grundrechte berufen.

4. Schützt die Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) auch die Freiheit, den Glauben nach außen zu bekunden und sein Verhalten daran auszurichten?

Genau, so ist das!

Das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG schützt als einheitliches Grundrecht nicht nur die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben (forum internum), sondern auch die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten (forum externum). Dazu gehört auch das Recht der Einzelnen, ihr Verhalten an den Lehren ihres Glaubens auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln und zu leben. Was im Einzelfall als Religionsausübung zu betrachten ist, richtet sich nicht nach imperativen Glaubenssätzen, sondern nach dem Selbstverständnis der betroffenen Religionsgemeinschaft und des einzelnen Grundrechtsträgers (RdNr. 78).

5. Ist das Tragen eines Kopftuchs von der individuellen Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) umfasst? Liegt damit hier ein Eingriff in dieses Grundrecht vor?

Ja, in der Tat!

BVerfG: Musliminnen, die ein in der für ihren Glauben typischen Weise gebundenes Kopftuch tragen, können sich im Rahmen des juristischen Vorbereitungsdienstes auf den Schutz der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) berufen. Die religiöse Fundierung der Bekleidungswahl sei „jedenfalls hinreichend plausibel“, sodass es auf die unterschiedlichen Auffassungen des Islam zum sog. Bedeckungsverbot nicht ankomme (RdNr. 80). Ein Eingriff liegt damit vor, denn die Anordnung stelle R vor die Wahl „entweder die angestrebte Tätigkeit auszuüben oder dem von ihr als verpflichtend angesehenen religiösen Bekleidungsgebot Folge zu leisten“ (RdNr. 77).

6. Scheidet die Rechtfertigung eines Eingriffs in das schrankenlose Grundrecht der Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) von vornherein aus?

Nein!

Auch Grundrechte, die keine Gesetzesvorbehalte enthalten, können durch verfassungsimmanente Schranken beschränkt werden. Dazu zählen die Grundrechte Dritter sowie Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang (RdNr. 82). Allerdings setzt auch ein Eingriff in ein schrankenloses Grundrecht eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage voraus. Laut BVerfG bestehen vorliegend keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen, § 27 Abs. 1 S. 2 JAG i.V.m. § 45 HBG heranzuziehen – dies reiche als Ermächtigungsgrundlage aus und sei überdies auch hinreichend bestimmt (RdNr. 83, 85).

7. Kommt als verfassungsimmanente Schranke der Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates in Betracht?

Genau, so ist das!

BVerfG: Das GG begründe für den Staat als „Heimstatt aller Staatsbürger“ die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität (Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 GG sowie Art. 136 Abs. 1 und 4, Art. 137 Abs. 1 WRV i.V.m. Art. 140 GG). Danach dürfe der Staat keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten Richtung betreiben oder sich durch von ihm ausgehende oder ihm zurechenbare Maßnahmen mit einem bestimmten Glauben identifizieren. Daraus folge zwingend auch eine Verpflichtung der Amtsträger auf Neutralität, deren abweichendes Verhalten dem Staat im Einzelfall aber zurechenbar sein müsse (RdNr. 87f.).

8. Ist das Tragen eines islamischen Kopftuchs durch eine Referendarin während der Gerichtsverhandlung dem Staat zurechenbar und somit grundsätzlich geeignet, die Neutralitätspflicht zu verletzen?

Ja, in der Tat!

BVerfG: Je mehr der Staat auf das äußere Gepräge einer Amtshandlung Einfluss nimmt, desto eher seien ihm abweichende Verhaltensweisen einzelner Amtsträger zurechenbar. Vor Gericht bestehe insbesondere durch die Verpflichtung zum Tragen einer Amtstracht eine „formalisierte Situation“, die den Amtsträgern in ihrem äußeren Auftreten eine „klar definierte, Distanz und Gleichmaß betonende Rolle“ zuweist. Somit könne das Tragen eines Kopftuchs durch eine Richterin, Staatsanwältin oder Referendarin als Beeinträchtigung des Neutralitätsgebots dem Staat zugerechnet werden (RdNr. 90).

9. Ist eine weitere verfassungsimmanente Schranke vorliegend die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege?

Ja!

BVerfG: Die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege sei Grundbedingung des Rechtsstaats und im Wertesystem des GG fest verankert (Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3, Art. 92 GG). Ein Rechtsstaat setze voraus, dass gesellschaftliches Vertrauen in die Justiz insgesamt existiert. Dazu dürfe der Staat „Optimierungsmaßnahmen“ ergreifen, „die die Neutralität der Justiz aus der Sichtweise eines objektiven Dritten unterstreichen sollen“. Die Distanzierung einer individuellen Richterin/Referendarin von individuellen religiösen Überzeugungen könne zu einer solchen Stärkung des Vertrauens in die Neutralität der Justiz beitragen (RdNr. 91f.).

10. Ist vorliegend auch die negative Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) von anderen Verfahrensbeteiligten als verfassungsimmanente Schranke anzuführen?

Genau, so ist das!

Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG beinhaltet auch die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben. In einer pluralistischen Gesellschaft gibt es zwar kein Recht, von fremden Glaubensüberzeugungen gänzlich verschont zu bleiben. BVerfG: Davon zu unterscheiden sei aber die „vom Staat geschaffene Lage“, in der der Einzelne dem Einfluss eines bestimmten Glaubens und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist. Der Gerichtssaal stelle einen solchen Raum dar; nur der Staat besitze die Möglichkeit, dort die „ansonsten unausweichliche Konfrontation mit dem Kopftuch als religiösem Symbol“ zu verhindern (RdNr. 94f.).

11. Steht auch die Garantie der richterlichen Unparteilichkeit (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) der Glaubensfreiheit der R als verfassungsimmanente Schranke gegenüber?

Nein, das trifft nicht zu!

BVerfG: „Das Verwenden eines religiösen Symbols im richterlichen Dienst ist für sich genommen […] nicht geeignet, Zweifel an der Objektivität der betreffenden Richter zu begründen“. Soweit die religiöse Einstellung im konkreten Streitfall ausnahmsweise doch die Besorgnis der Befangenheit begründet, könne das Institut der Richterablehnung den Anspruch des Rechtssuchenden auf eine objektive Richterpersönlichkeit gewährleisten (RdNr. 99).

12. Überwiegt bei Abwägung der widerstreitenden Rechtsgüter die Freiheit der R zum öffentlichen religiösen Bekenntnis die entgegenstehenden Verfassungsgüter?

Nein!

BVerfG: Keinem der kollidierenden Verfassungsgüter komme ein „derart überwiegendes Gewicht zu, das verfassungsrechtlich dazu zwänge, […] das Tragen religiöser Symbole im Gerichtssaal zu verbieten oder zu erlauben“. Die Entscheidung des Gesetzgebers für eine Pflicht, sich im Referendariat religiös neutral zu verhalten, sei aufgrund seiner Einschätzungsprärogative „aus verfassungsrechtlicher Sicht zu respektieren“. Das Verbot sei vorliegend auf wenige einzelne Tätigkeiten beschränkt, auf deren Wahrnehmung im Übrigen auch kein Rechtsanspruch bestehe. Die Ableistung eines vollwertigen Referendariats werde R weiterhin ermöglicht (RdNr. 101ff.).

13. Stellt das gegen R ausgesprochene Verbot, im Referendariat auf der Richterbank ein Kopftuch zu tragen, auch einen Eingriff in ihre Ausbildungsfreiheit dar (Art. 12 Abs. 1 GG) vor?

Genau, so ist das!

BVerfG: Über das Recht auf Zugang zu einer Ausbildungsstätte hinaus schütze Art. 12 Abs. 1 GG auch „die im Rahmen der Ausbildung notwendigen Tätigkeiten“. Dazu zähle auch die Wahrnehmung sitzungsdienstlicher Aufgaben bei Gericht, Staatsanwaltschaft und Verwaltung. Das gegen R ausgesprochene Verbot stellt somit einen Eingriff dar. Die Ausbildungsfreiheit garantiere aber keinen weitergehenden Schutz als die schrankenlos gewährleistete Religionsfreiheit, demnach ist der Eingriff hierin aus denselben Gründen gerechtfertigt. Gleiches gelte auch für den Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) der R (RdNr. 107ff.).

14. Führt die Neutralitätspflicht zu einer mittelbaren Benachteiligung der R aufgrund ihres Geschlechts (Art. 3 Abs. 2, 3 GG)?

Nein, das trifft nicht zu!

BVerfG: Das in § 45 HBG normierte Verbot religiös konnotierter Kleidungsstücke dürfte faktisch ganz überwiegend muslimische Frauen treffen, die aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen. Zielrichtung und Regelungssystematik von § 45 HBG, der die Neutralitätspflicht nicht auf das Tragen von Kleidungsstücken beschränkt, ließen sich eine Diskriminierung indes nicht erkennen. Beamtinnen und Beamte würden gleichermaßen zu politisch, weltanschaulich und religiös neutralem Verhalten verpflichtet. Selbst bei mittelbar diskriminierender Wirkung wäre diese jedenfalls gerechtfertigt - aus den zu Art. 4 GG angeführten Gründen (RdNr. 113).

15. Ist die Verfassungsbeschwerde der R nach Ansicht des BVerfG unbegründet?

Ja, in der Tat!

BVerfG: Das Urteil des VGH Kassel sei nicht zu beanstanden (RdNr. 102). Die Regelung zur Neutralitätspflicht (§ 45 HBG) stehe mit dem GG in Einklang, sofern sie verfassungskonform angewendet und die „christlich und humanistisch geprägte abendländische Tradition des Landes Hessen“ nicht gegenüber anderen Glaubensbekundungen privilegiert wird (RdNr. 114ff.). Das Urteil ist umstritten. Beachtlich ist auch das Sondervotum des Richters Maidowski: Er hält das Verbot für unverhältnismäßig - durch den erkennbaren Ausbildungsstatus von Referendarinnen werde das Vertrauen in eine neutrale Rechtspflege nicht im gleichen Maße wie z.B. bei Richterinnen erschüttert.

16. Dürfen, im Gegensatz zur Referendarin R, muslimische Lehrerinnen an staatlichen Schulen grundsätzlich ein Kopftuch tragen?

Ja!

Richtig – dies hat das BVerfG im Jahr 2015 entschieden (BVerfGE 138, 296). Die Unterscheidung sei aus Sicht des BVerfG erforderlich bzw. gerechtfertigt, denn vor Gericht bestehe eine „formalisierte Situation“, wohingegen der pädagogische Bereich in der staatlichen Schule „auf Offenheit und Pluralität angelegt“ sei (RdNr. 90). Anders als in der Schule trete der Staat dem Bürger in der Justiz „klassisch-hoheitlich“ und daher mit größerer Beeinträchtigungswirkung gegenüber (RdNr. 95).
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