Kopftuchverbot für Referendarinnen

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration zum Kopftuchverbot für Referendarinnen (BVerfG, 14.01.2020 - 2 BvR 1333/17): Das Gericht weist eine Rechtsreferendarin darauf hin, dass sie das Kopftuch nicht tragen dürfe, wenn sie von Bürgern als Repräsentantin des Staates wahrgenommen werden kann, etwa auf der Richterbank.
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Rechtsreferendarin R trägt aus Glaubensüberzeugung ein Kopftuch. Das Gericht weist darauf hin, dass sie das Kopftuch nicht tragen dürfe, wenn sie von Bürgern als Repräsentantin des Staates wahrgenommen werden kann, etwa auf der Richterbank. R erhebt Verfassungsbeschwerde.

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Einordnung des Falls

Das Bundesverfassungsgericht hatte 2020 zu entscheiden, ob das Verbot eines Gerichts gegenüber einer Rechtsreferendarin, kein Kopftuch tragen zu dürfen, verfassungswidrig sei. Das Bundesverfassungsgericht sah darin keinen Verfassungsverstoß. Die Regelung zur Neutralitätspflicht (§ 45 HBG) stehe mit dem GG in Einklang, sofern sie verfassungskonform angewendet und die „christlich und humanistisch geprägte abendländische Tradition des Landes Hessen“ nicht gegenüber anderen Glaubensbekundungen privilegiert wird (RdNr. 114ff.). Das Urteil ist umstritten. Beachtlich ist auch das Sondervotum des Richters Maidowski: Er hält das Verbot für unverhältnismäßig - durch den erkennbaren Ausbildungsstatus von Referendarinnen werde das Vertrauen in eine neutrale Rechtspflege nicht im gleichen Maße wie z.B. bei Richterinnen erschüttert.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 16 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ist die Verfassungsbeschwerde der R (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG) unzulässig, da R ihr Referendariat inzwischen abgeschlossen hat und das Rechtsschutzbedürfnis fehlt?

Nein, das ist nicht der Fall!

BVerfG: Das Rechtsschutzbedürfnis bestehe auch nach Abschluss der praxisbezogenen Abschnitte des Referendariats, in denen die streitgegenständliche Anordnung Wirkung entfaltete, fort. Die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt habe sich hier auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher die R nach dem regelmäßigen Geschäftsgang eine Entscheidung des BVerfG kaum erlangen konnte. Ein Rechtsschutzbedürfnis bestehe weiterhin, andernfalls würde der Grundrechtsschutz der R in unzumutbarer Weise verkürzt (RdNr. 75).
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2. Beruht die Anordnung des Gerichts, in bestimmten Situationen kein Kopftuch tragen zu dürfen, auf der beamtenrechtlichen Neutralitätspflicht (§ 45 Hessisches Beamtengesetz (HBG))?

Ja, in der Tat!

Das Ausbildungsgericht stützt die Anordnung auf die beamtenrechtliche Neutralitätspflicht (§ 45 HBG). Danach haben Beamtinnen und Beamte sich im Dienst politisch, weltanschaulich und religiös neutral zu verhalten und dürfen u.a. keine Kleidungsstücke tragen, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen. Für Rechtsreferendarinnen und Referendare gelten die Bestimmungen entsprechend (§ 27 Abs. 1 S. 2 JAG Hessen). Mit ihrer gegen das letztinstanzliche Urteil des VGH Kassel gerichteten Verfassungsbeschwerde zweifelt R die Verfassungsmäßigkeit dieser Neutralitätspflicht an (RdNr. 76).

3. Kann sich R trotz ihrer Anstellung als Referendarin im öffentlichen Dienst auf die Grundrechte berufen?

Ja!

R steht als Referendarin in einem öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis und ist somit in den staatlichen Aufgabenbereich eingegliedert (vgl. § 26 Abs. 2 S. 1 JAG). Laut BVerfG werde ihre Grundrechtsberechtigung dadurch aber „nicht von vornherein oder grundsätzlich in Frage gestellt“ (RdNr. 79). R kann sich somit auf den Schutz der Grundrechte berufen.

4. Schützt die Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) auch die Freiheit, den Glauben nach außen zu bekunden und sein Verhalten daran auszurichten?

Genau, so ist das!

Das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG schützt als einheitliches Grundrecht nicht nur die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben (forum internum), sondern auch die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten (forum externum). Dazu gehört auch das Recht der Einzelnen, ihr Verhalten an den Lehren ihres Glaubens auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln und zu leben. Was im Einzelfall als Religionsausübung zu betrachten ist, richtet sich nicht nach imperativen Glaubenssätzen, sondern nach dem Selbstverständnis der betroffenen Religionsgemeinschaft und des einzelnen Grundrechtsträgers (RdNr. 78).

5. Ist das Tragen eines Kopftuchs von der individuellen Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) umfasst? Liegt damit hier ein Eingriff in dieses Grundrecht vor?

Ja, in der Tat!

BVerfG: Musliminnen, die ein in der für ihren Glauben typischen Weise gebundenes Kopftuch tragen, können sich im Rahmen des juristischen Vorbereitungsdienstes auf den Schutz der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) berufen. Die religiöse Fundierung der Bekleidungswahl sei „jedenfalls hinreichend plausibel“, sodass es auf die unterschiedlichen Auffassungen des Islam zum sog. Bedeckungsverbot nicht ankomme (RdNr. 80). Ein Eingriff liegt damit vor, denn die Anordnung stelle R vor die Wahl „entweder die angestrebte Tätigkeit auszuüben oder dem von ihr als verpflichtend angesehenen religiösen Bekleidungsgebot Folge zu leisten“ (RdNr. 77).

6. Scheidet die Rechtfertigung eines Eingriffs in das schrankenlose Grundrecht der Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) von vornherein aus?

Nein!

Auch Grundrechte, die keine Gesetzesvorbehalte enthalten, können durch verfassungsimmanente Schranken beschränkt werden. Dazu zählen die Grundrechte Dritter sowie Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang (RdNr. 82). Allerdings setzt auch ein Eingriff in ein schrankenloses Grundrecht eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage voraus. Laut BVerfG bestehen vorliegend keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen, § 27 Abs. 1 S. 2 JAG i.V.m. § 45 HBG heranzuziehen – dies reiche als Ermächtigungsgrundlage aus und sei überdies auch hinreichend bestimmt (RdNr. 83, 85).

7. Kommt als verfassungsimmanente Schranke der Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates in Betracht?

Genau, so ist das!

BVerfG: Das GG begründe für den Staat als „Heimstatt aller Staatsbürger“ die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität (Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 GG sowie Art. 136 Abs. 1 und 4, Art. 137 Abs. 1 WRV i.V.m. Art. 140 GG). Danach dürfe der Staat keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten Richtung betreiben oder sich durch von ihm ausgehende oder ihm zurechenbare Maßnahmen mit einem bestimmten Glauben identifizieren. Daraus folge zwingend auch eine Verpflichtung der Amtsträger auf Neutralität, deren abweichendes Verhalten dem Staat im Einzelfall aber zurechenbar sein müsse (RdNr. 87f.).

8. Ist das Tragen eines islamischen Kopftuchs durch eine Referendarin während der Gerichtsverhandlung dem Staat zurechenbar und somit grundsätzlich geeignet, die Neutralitätspflicht zu verletzen?

Ja, in der Tat!

BVerfG: Je mehr der Staat auf das äußere Gepräge einer Amtshandlung Einfluss nimmt, desto eher seien ihm abweichende Verhaltensweisen einzelner Amtsträger zurechenbar. Vor Gericht bestehe insbesondere durch die Verpflichtung zum Tragen einer Amtstracht eine „formalisierte Situation“, die den Amtsträgern in ihrem äußeren Auftreten eine „klar definierte, Distanz und Gleichmaß betonende Rolle“ zuweist. Somit könne das Tragen eines Kopftuchs durch eine Richterin, Staatsanwältin oder Referendarin als Beeinträchtigung des Neutralitätsgebots dem Staat zugerechnet werden (RdNr. 90).

9. Ist eine weitere verfassungsimmanente Schranke vorliegend die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege?

Ja!

BVerfG: Die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege sei Grundbedingung des Rechtsstaats und im Wertesystem des GG fest verankert (Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3, Art. 92 GG). Ein Rechtsstaat setze voraus, dass gesellschaftliches Vertrauen in die Justiz insgesamt existiert. Dazu dürfe der Staat „Optimierungsmaßnahmen“ ergreifen, „die die Neutralität der Justiz aus der Sichtweise eines objektiven Dritten unterstreichen sollen“. Die Distanzierung einer individuellen Richterin/Referendarin von individuellen religiösen Überzeugungen könne zu einer solchen Stärkung des Vertrauens in die Neutralität der Justiz beitragen (RdNr. 91f.).

10. Ist vorliegend auch die negative Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) von anderen Verfahrensbeteiligten als verfassungsimmanente Schranke anzuführen?

Genau, so ist das!

Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG beinhaltet auch die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben. In einer pluralistischen Gesellschaft gibt es zwar kein Recht, von fremden Glaubensüberzeugungen gänzlich verschont zu bleiben. BVerfG: Davon zu unterscheiden sei aber die „vom Staat geschaffene Lage“, in der der Einzelne dem Einfluss eines bestimmten Glaubens und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist. Der Gerichtssaal stelle einen solchen Raum dar; nur der Staat besitze die Möglichkeit, dort die „ansonsten unausweichliche Konfrontation mit dem Kopftuch als religiösem Symbol“ zu verhindern (RdNr. 94f.).

11. Steht auch die Garantie der richterlichen Unparteilichkeit (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) der Glaubensfreiheit der R als verfassungsimmanente Schranke gegenüber?

Nein, das trifft nicht zu!

BVerfG: „Das Verwenden eines religiösen Symbols im richterlichen Dienst ist für sich genommen […] nicht geeignet, Zweifel an der Objektivität der betreffenden Richter zu begründen“. Soweit die religiöse Einstellung im konkreten Streitfall ausnahmsweise doch die Besorgnis der Befangenheit begründet, könne das Institut der Richterablehnung den Anspruch des Rechtssuchenden auf eine objektive Richterpersönlichkeit gewährleisten (RdNr. 99).

12. Überwiegt bei Abwägung der widerstreitenden Rechtsgüter die Freiheit der R zum öffentlichen religiösen Bekenntnis die entgegenstehenden Verfassungsgüter?

Nein!

BVerfG: Keinem der kollidierenden Verfassungsgüter komme ein „derart überwiegendes Gewicht zu, das verfassungsrechtlich dazu zwänge, […] das Tragen religiöser Symbole im Gerichtssaal zu verbieten oder zu erlauben“. Die Entscheidung des Gesetzgebers für eine Pflicht, sich im Referendariat religiös neutral zu verhalten, sei aufgrund seiner Einschätzungsprärogative „aus verfassungsrechtlicher Sicht zu respektieren“. Das Verbot sei vorliegend auf wenige einzelne Tätigkeiten beschränkt, auf deren Wahrnehmung im Übrigen auch kein Rechtsanspruch bestehe. Die Ableistung eines vollwertigen Referendariats werde R weiterhin ermöglicht (RdNr. 101ff.).

13. Stellt das gegen R ausgesprochene Verbot, im Referendariat auf der Richterbank ein Kopftuch zu tragen, auch einen Eingriff in ihre Ausbildungsfreiheit dar (Art. 12 Abs. 1 GG) vor?

Genau, so ist das!

BVerfG: Über das Recht auf Zugang zu einer Ausbildungsstätte hinaus schütze Art. 12 Abs. 1 GG auch „die im Rahmen der Ausbildung notwendigen Tätigkeiten“. Dazu zähle auch die Wahrnehmung sitzungsdienstlicher Aufgaben bei Gericht, Staatsanwaltschaft und Verwaltung. Das gegen R ausgesprochene Verbot stellt somit einen Eingriff dar. Die Ausbildungsfreiheit garantiere aber keinen weitergehenden Schutz als die schrankenlos gewährleistete Religionsfreiheit, demnach ist der Eingriff hierin aus denselben Gründen gerechtfertigt. Gleiches gelte auch für den Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) der R (RdNr. 107ff.).

14. Führt die Neutralitätspflicht zu einer mittelbaren Benachteiligung der R aufgrund ihres Geschlechts (Art. 3 Abs. 2, 3 GG)?

Nein, das trifft nicht zu!

BVerfG: Das in § 45 HBG normierte Verbot religiös konnotierter Kleidungsstücke dürfte faktisch ganz überwiegend muslimische Frauen treffen, die aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen. Zielrichtung und Regelungssystematik von § 45 HBG, der die Neutralitätspflicht nicht auf das Tragen von Kleidungsstücken beschränkt, ließen sich eine Diskriminierung indes nicht erkennen. Beamtinnen und Beamte würden gleichermaßen zu politisch, weltanschaulich und religiös neutralem Verhalten verpflichtet. Selbst bei mittelbar diskriminierender Wirkung wäre diese jedenfalls gerechtfertigt - aus den zu Art. 4 GG angeführten Gründen (RdNr. 113).

15. Ist die Verfassungsbeschwerde der R nach Ansicht des BVerfG unbegründet?

Ja, in der Tat!

BVerfG: Das Urteil des VGH Kassel sei nicht zu beanstanden (RdNr. 102). Die Regelung zur Neutralitätspflicht (§ 45 HBG) stehe mit dem GG in Einklang, sofern sie verfassungskonform angewendet und die „christlich und humanistisch geprägte abendländische Tradition des Landes Hessen“ nicht gegenüber anderen Glaubensbekundungen privilegiert wird (RdNr. 114ff.). Das Urteil ist umstritten. Beachtlich ist auch das Sondervotum des Richters Maidowski: Er hält das Verbot für unverhältnismäßig - durch den erkennbaren Ausbildungsstatus von Referendarinnen werde das Vertrauen in eine neutrale Rechtspflege nicht im gleichen Maße wie z.B. bei Richterinnen erschüttert.

16. Dürfen, im Gegensatz zur Referendarin R, muslimische Lehrerinnen an staatlichen Schulen grundsätzlich ein Kopftuch tragen?

Ja!

Richtig – dies hat das BVerfG im Jahr 2015 entschieden (BVerfGE 138, 296). Die Unterscheidung sei aus Sicht des BVerfG erforderlich bzw. gerechtfertigt, denn vor Gericht bestehe eine „formalisierte Situation“, wohingegen der pädagogische Bereich in der staatlichen Schule „auf Offenheit und Pluralität angelegt“ sei (RdNr. 90). Anders als in der Schule trete der Staat dem Bürger in der Justiz „klassisch-hoheitlich“ und daher mit größerer Beeinträchtigungswirkung gegenüber (RdNr. 95).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

🦊LEXD

🦊LEXDEROGANS

10.5.2020, 00:14:14

Eine „größere Beeinträchtigungswirkung“ ist für sich m. E. erst mal kein tragfähiges Argument. Auch umgekehrt lässt sich sagen, dass gerade weil im Gerichtssaal der Staat den Bürgern auf befehlende Weise sehr nahe tritt, der Grundsatz der Pluralität dort am meisten gefördert werden muss, um Bürger zu Toleranz anzuhalten indem man ihnen zeigt, dass sich selbst die Justiz - wie jeder andere Teil des Staates auch - aus Menschen unterschiedlicher Kulturen zusammensetzt.

Isabell

Isabell

11.5.2020, 14:23:45

Sehr spannendes Argument. Eines der wenigen Urteile unseres BVerfGs, dass mich tatsächlich entsetzt hat. Die Aufbereitung ist euch toll gelungen!

EDA

Eda

15.6.2020, 19:21:18

Und was ist wenn z. B. Der Typ der in Hanau jagt auf Muslime gemacht hat im Gerichtssaal mit einer Richterin mit Kopftuch konfrontiert wird? Oder mit jemandem der offensichtlich aus einem hauptsächlich muslimisch bevölkerten Land und kein Kopftuch trägt? Was ist wenn die Richterin dann den Angeklagten eigennützig zur Rede stellt?

The1Lawyer

The1Lawyer

6.9.2020, 13:34:46

Dann kommt dem Mörder aus Hanau eine gleiche Strafe zu, wie wenn es ein Muslim wäre. Eigentlich würden Muslime anderen Muslime idR eine härtere Strafe ansetzen, weil Muslime eine doppelte Verpflichtung haben Gesetze und Gebote einzuhalten. Einmal die göttlichen Gebote und dann die des Grundgesetzes. Daher mach dir darum mal keine Gedanken, dass es hier zu unparteiischen Entscheidungen kommt. Wozu gehen die Studenten in die Uni und später ins Referendariat? Um diese Neutralität vermittelt zu bekommen 😉

ALE

Alex1892

20.9.2020, 08:21:40

Das Argument im Bezug auf den Vergleich zur Schule liegt auch so wie ich es verstanden habe eher darin , dass bereits das Vorliegen einer abstrakten Gefahr für die Neutralität des Staates vor Gericht ausreichend ist für die Anordnung . Dies folgt daraus ,dass das Staatliche Neutralitätsgebot vor Gericht besonders gewichtig ist und so bereits bei Zweifeln in seinem Kernbereich betroffen wäre .Denn anders als in der Schule kann dort nicht bei auftretenden Zweifeln ( Schwelle zur konkreten Gefahr überschritten ) an der Neutralität des Staates diese bspw in einem Gespräch oder durch Diskussionen ausgeräumt werden. Diese Diskussionen sind in der Schule geradezu gewollt da der Grundsatz der Pluralität in der Schule dadurch gefördert werden soll, vor Gericht eben logischerweise nicht.

Foxtrot Bravo

Foxtrot Bravo

28.12.2020, 14:48:30

Gibt es eigentlich auch schon eine Entscheidung des BVerfGs zu den Kruzifixen, die in jedem bayerischen Gerichtssaal hängen?

Isabell

Isabell

12.2.2021, 16:13:09

Nur weil der Mensch kein Kopftuch trägt, kann er sehr wohl religiös sein. Das Kopftuchverbot schützt doch nicht vor Konfrontationen mit religiösen Personen. Außer natürlich man unterstellt, dass es keine Muslima gibt, die glaubt ohne ein Kopfttuch tragen zu dürfen. Dieses Urteil ignoriert, dass sich die Menschen, die hinter diesen Rollen stecken, durch ihre Leistungen bereits gezeigt haben, dass sie auch als bekennender Gläubiger rechtlich belastbare Entscheidungen treffen können. Wer dieses Vorurteil auslebt, kann ja gerne den Befangenheitsantrag stellen. Generalverdacht war noch nie zu etwas gut. Wahnsinn, dieses Urteil ist nun schon ein Weilchen her und ich werde immer noch wütend, wenn ich mich damit befasse. Dabei trage ich nicht einmal ein Kopftuch oder bin besonders religiös.

Finanztante

Finanztante

3.5.2021, 12:03:27

Die Antworten hier zeigen mir, dass ich mit meinem enormen Störgefühl in der Vorlesung und der anschließenden Diskussion darüber nicht alleine war. Danke dafür!

CECI

Cecilie

11.6.2021, 10:49:03

@isabell: das BVerfG hat doch in seiner Entscheidung extra hervorgehoben dass es nicht an einer möglichen Befangenheit des Richters liegt

CG

Christopher Göbel

11.1.2022, 15:37:14

@[Isabell](58926) Wer hat denn behauptet, dass dieses Verbot vor der Konfrontation mit streng religiösen Menschen schützen soll? Es soll nur dafür sorgen, dass die betroffenden Menschen ihren Glauben nicht im Gerichtssaal der Öffentlichkeit in ihrer Funktion als Richter/Richterin präsentieren. Ob ein muslimischer Richter zu Hause fünf Mal betet ist für dieses Urteil völlig irrelevant und es war nie die Intention dieses Urteils dies zu unterbinden. Außerdem ist das Urteil weder islam- noch frauenfeindlich, da ein männlicher Christ mit ziemlicher Sicherheit auch keine Halskette mit einem Kreuz, welches klar als religiöses Zeichen zu erkennen wäre, tragen dürfte.

PPAA

Philipp Paasch

16.6.2022, 22:45:55

@[Eda ](111085) wirklich guter Einwand. Zu bedenken ist aber, dass der Attentäter von Hanau kein Rechtsterrorist war.

Tobias Rexler

Tobias Rexler

2.9.2022, 15:28:14

Das Thema zeigt schön den Konflikt zwischen religiösem Recht und irdischem Recht. Wenn jemand seine religiösen Belange über die staatlichen Rechte stellt, was privat erstmal keine Rolle spielt und somit grundsätzlich unbedenklich ist, kann das im Richteramt tatsächlich bedenklich sein. So ist es plausibel, dass zumindest die Gefahr besteht, dass jemand, der ein Richteramt führt und sich weigert das Kopftuch oder sonstige religiöse Symbole, wie auch zB Kreuze, abzulegen, weil er die religiösen Belange über die staatlichen stellt, auch die Urteilsfindung von dessen religiösen Werten beeinflusst werden kann.

Isabell

Isabell

2.9.2022, 15:38:53

Das wird ja gerne behauptet. Aber wieso soll das plausibel sein? Woher die dahinter stehende Gewissheit, dass der Richter, der seine Religiosität nicht offen zeigt, sich nicht in bedenklichem Maße von dieser bei seiner Urteilsfindung leiten lässt?

Tobias Rexler

Tobias Rexler

2.9.2022, 15:49:04

Nun ja, es geht ja gerade darum, dass die Gefahr bei jemanden, der sich gegen staatliche Vorgaben im Richteramt aufgrund der Religion stemmt, zumindest >höher< sein kann, als bei jemandem, der es nicht tut und dennoch religiös ist.

Isabell

Isabell

2.9.2022, 15:58:39

Man darf also bestehende Regeln, die ganz massiv in die Religionsfreiheit eingreifen, nicht kritisieren und keine Reform anstoßen? Selbst dann nicht, wenn es für die hinter der Regelung stehende Vermutung keine Belege gibt? Weil man damit angeblich die dahinter stehende Vermutung bestätigt. Steile These.

FL

Florian

16.11.2022, 15:52:30

Ich finde das BVerfG hat hier die einzig richtige Entscheidung getroffen. Es ist ganz klar, dass die Werte die das Kopftuch weltanschaulich vermittelt unseren freiheitlichen und toleranten Werten des Staates diametral zuwiderläuft und deswegen die Neutralitätspflicht verletzt. Verstehe die Diskussion und auch den Vergleich mit dem Kreuz in bayerischen Gerichtssäälen nicht. Das Kreuz ist ein in vielen Religionen verwendetes, weltanschaulich neutrales, Symbol, dass Mitgefühl und Barmherzigkeit ausdrückt. (Zumindest in der Verwendung ohne Corpus ist es neutral)

JAEL

Jael

31.3.2023, 16:10:48

Ich frage mich, wieso man nicht einfach Kopftücher, Turbane oder sonstige religiös zwingend sichtbare Kleidung in der angepassten Farbe zur Robe stellt. Nur diese ist im Saal zulässig. Allein dadurch ist doch ganz klar, dass die Person gerade staatlich handelt. Naja...

DO

Doli

9.7.2023, 11:01:28

@[Foxtrot Bravo ](126029) es gibt nur eine Entscheidung vom BayVGH zu den Kreuzen im Durchgangsbereich. Diese sollen eben gerade deshalb erlaubt sein weil man sie nur flüchtig passiert. Dass aber auch in den meisten Sälen noch Kreuze hängen finde ich skandalös

Melanie 🐝

Melanie 🐝

12.9.2021, 12:07:59

Würde mir hier nochmal eine Zusammenfassung am Ende wünschen, damit man auch behält, was letztendlich alles in einer Klausur geprüft werden sollte. Sind ja schließlich schon einige Punkte

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

7.12.2021, 18:41:00

Liebe Melanie, das ist echt ein super Vorschlag, den wir umsetzen werden, aber das geht leider nicht sofort. Bitte noch etwas Geduld, wir stecken 100% unserer Energie in neue Inhalte. Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team

JURA

Jura

1.10.2021, 10:27:47

Ist es noch aktuell, dass Lehrerinnen grundsätzlich ein Kopftuch tragen dürfen? Gab da nicht neulich auch eine Änderung? LG

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

2.10.2021, 12:49:42

Hallo Jura, meines Wissens ist dies noch aktuell. Die Debatte um das Kopftuch am Arbeitsplatz ist nach wie vor im Fluss und wird zudem dadurch erschwert, dass man sich spezifisch den Arbeitsplatz anschauen muss und teilweise auch das jeweilige Landesrecht. Während bei Rechtsreferendarinnen ein Verbot durch das BVerfG für rechtmäßig erachtet wurde, wurde dies bislang mit Blick auf Lehrerinnen häufig abgelehnt (vgl. BVerfG, NJW 2015, 1259; BAG, NZA 2021, 189). Jüngst hat sich der EuGH zudem zum Kopftuch bei privaten Unternehmen geäußert und auch hier die Religionsfreiheit der Arbeitnehmerinnen stark in den Vordergrund gestellt und hohe Hürden für eine Rechtfertigung verlangt (EuGH, Urt. v. 15.7.21 - C-804/18, C-341/19 = NJW 2021, 2715). Das heißt, auch weiterhin ist das Verbot eher die Ausnahme als die Regel. Beste Grüße Lukas - für das Jurafuchs-Team

Finanztante

Finanztante

9.10.2022, 23:36:45

Auf Grund des Berliner Neutralitätsgesetz sieht das Kopftuchtragen für Berliner Lehrerinnen (derzeit noch) anders aus.

CR7

CR7

23.5.2023, 13:17:32

Ich verstehe nicht ganz: Art. 4 I, II GG hat verfassungsimmanente Schranken. Warum darf das Gericht eine einfach gesetzliche Norm als gesetzliche Grundlage heranziehen?

LEO

Leonq

1.7.2023, 10:25:30

Auch verfassungsimmanente Schranken bedürfen nach dem Vorbehalt des Gesetzes einer gesetzlichen Grundlage. Begründet werden kann das mit einem Erst-recht-schluss zu Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt: wenn schon diese (nur) durch den Gesetzgeber beschränkt werden dürfen, so muss dies erst recht für stärker geschützten Grundrechte ohne Vorbehalt gelten.

Johannes Nebe

Johannes Nebe

19.6.2024, 19:04:37

Die mittelbare Benachteiligung aufgrund des Geschlechts müsste bejaht werden. Wie die Erklärung ausführt, zielt § 45 HGB nicht auf eine Diskriminierung muslimischer Frauen. Die religiösen Kleidungsvorschriften treffen Frauen aber stärker als Männer, so dass es ohne Intention zu einer (eben mittelbaren) Benachteiligung kommt. In der Erklärung wird auch gar nicht gegen diese mittelbare Benachteiligung argumentiert, sondern darauf verwiesen, dass sie, wenn sie besteht, jedenfalls gerechtfertigt wäre.


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