Kopftuchverbot für Referendarinnen
9. Mai 2023
29 Kommentare
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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Rechtsreferendarin R trägt aus Glaubensüberzeugung ein Kopftuch. Das Gericht weist darauf hin, dass sie das Kopftuch nicht tragen dürfe, wenn sie von Bürgern als Repräsentantin des Staates wahrgenommen werden kann, etwa auf der Richterbank. R erhebt Verfassungsbeschwerde.
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Einordnung des Falls
Das Bundesverfassungsgericht hatte 2020 zu entscheiden, ob das Verbot eines Gerichts gegenüber einer Rechtsreferendarin, kein Kopftuch tragen zu dürfen, verfassungswidrig sei. Das Bundesverfassungsgericht sah darin keinen Verfassungsverstoß. Die Regelung zur Neutralitätspflicht (§ 45 HBG) stehe mit dem GG in Einklang, sofern sie verfassungskonform angewendet und die „christlich und humanistisch geprägte abendländische Tradition des Landes Hessen“ nicht gegenüber anderen Glaubensbekundungen privilegiert wird (RdNr. 114ff.). Das Urteil ist umstritten. Beachtlich ist auch das Sondervotum des Richters Maidowski: Er hält das Verbot für unverhältnismäßig - durch den erkennbaren Ausbildungsstatus von Referendarinnen werde das Vertrauen in eine neutrale Rechtspflege nicht im gleichen Maße wie z.B. bei Richterinnen erschüttert.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 16 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Ist die Verfassungsbeschwerde der R (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG) unzulässig, da R ihr Referendariat inzwischen abgeschlossen hat und das Rechtsschutzbedürfnis fehlt?
Nein, das ist nicht der Fall!
Jurastudium und Referendariat.
2. Beruht die Anordnung des Gerichts, in bestimmten Situationen kein Kopftuch tragen zu dürfen, auf der beamtenrechtlichen Neutralitätspflicht (§ 45 Hessisches Beamtengesetz (HBG))?
Ja, in der Tat!
3. Kann sich R trotz ihrer Anstellung als Referendarin im öffentlichen Dienst auf die Grundrechte berufen?
Ja!
4. Schützt die Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) auch die Freiheit, den Glauben nach außen zu bekunden und sein Verhalten daran auszurichten?
Genau, so ist das!
5. Ist das Tragen eines Kopftuchs von der individuellen Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) umfasst? Liegt damit hier ein Eingriff in dieses Grundrecht vor?
Ja, in der Tat!
6. Scheidet die Rechtfertigung eines Eingriffs in das schrankenlose Grundrecht der Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) von vornherein aus?
Nein!
7. Kommt als verfassungsimmanente Schranke der Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates in Betracht?
Genau, so ist das!
8. Ist das Tragen eines islamischen Kopftuchs durch eine Referendarin während der Gerichtsverhandlung dem Staat zurechenbar und somit grundsätzlich geeignet, die Neutralitätspflicht zu verletzen?
Ja, in der Tat!
9. Ist eine weitere verfassungsimmanente Schranke vorliegend die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege?
Ja!
10. Ist vorliegend auch die negative Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG) von anderen Verfahrensbeteiligten als verfassungsimmanente Schranke anzuführen?
Genau, so ist das!
11. Steht auch die Garantie der richterlichen Unparteilichkeit (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) der Glaubensfreiheit der R als verfassungsimmanente Schranke gegenüber?
Nein, das trifft nicht zu!
12. Überwiegt bei Abwägung der widerstreitenden Rechtsgüter die Freiheit der R zum öffentlichen religiösen Bekenntnis die entgegenstehenden Verfassungsgüter?
Nein!
13. Stellt das gegen R ausgesprochene Verbot, im Referendariat auf der Richterbank ein Kopftuch zu tragen, auch einen Eingriff in ihre Ausbildungsfreiheit dar (Art. 12 Abs. 1 GG) vor?
Genau, so ist das!
14. Führt die Neutralitätspflicht zu einer mittelbaren Benachteiligung der R aufgrund ihres Geschlechts (Art. 3 Abs. 2, 3 GG)?
Nein, das trifft nicht zu!
15. Ist die Verfassungsbeschwerde der R nach Ansicht des BVerfG unbegründet?
Ja, in der Tat!
16. Dürfen, im Gegensatz zur Referendarin R, muslimische Lehrerinnen an staatlichen Schulen grundsätzlich ein Kopftuch tragen?
Ja!
Fundstellen
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
🦊LEXDEROGANS
10.5.2020, 00:14:14
Eine „größere Beeinträchtigungswirkung“ ist für sich m. E. erst mal kein tragfähiges Argument. Auch umgekehrt lässt sich sagen, dass gerade weil im Gerichtssaal der Staat den Bürgern auf befehlende Weise sehr nahe tritt, der Grundsatz der Pluralität dort am meisten gefördert werden muss, um Bürger zu Toleranz anzuhalten indem man ihnen zeigt, dass sich selbst die Justiz - wie jeder andere Teil des Staates auch - aus Menschen unterschiedlicher Kulturen zusammensetzt.

Isabell
11.5.2020, 14:23:45
Sehr spannendes Argument. Eines der wenigen Urteile unseres BVerfGs, dass mich tatsächlich entsetzt hat. Die Aufbereitung ist euch toll gelungen!
Eda
15.6.2020, 19:21:18
Und was ist wenn z. B. Der Typ der in Hanau jagt auf Muslime gemacht hat im Gerichtssaal mit einer Richterin mit Kopftuch konfrontiert wird? Oder mit jemandem der offensichtlich aus einem hauptsächlich muslimisch bevölkerten Land und kein Kopftuch trägt? Was ist wenn die Richterin dann den Angeklagten eigennützig zur Rede stellt?

The1Lawyer
6.9.2020, 13:34:46
Dann kommt dem Mörder aus Hanau eine gleiche Strafe zu, wie wenn es ein Muslim wäre. Eigentlich würden Muslime anderen Muslime idR eine härtere Strafe ansetzen, weil Muslime eine doppelte Verpflichtung haben Gesetze und Gebote einzuhalten. Einmal die göttlichen Gebote und dann die des Grundgesetzes. Daher mach dir darum mal keine Gedanken, dass es hier zu unparteiischen Entscheidungen kommt. Wozu gehen die Studenten in die Uni und später ins Referendariat? Um diese Neutralität vermittelt zu bekommen 😉
Alex1892
20.9.2020, 08:21:40
Das Argument im Bezug auf den Vergleich zur Schule liegt auch so wie ich es verstanden habe eher darin , dass bereits das Vorliegen einer abstrakten Gefahr für die Neutralität des Staates vor Gericht ausreichend ist für die Anordnung . Dies folgt daraus ,dass das Staatliche Neutralitätsgebot vor Gericht besonders gewichtig ist und so bereits bei Zweifeln in seinem Kernbereich betroffen wäre .Denn anders als in der Schule kann dort nicht bei auftretenden Zweifeln ( Schwelle zur konkreten Gefahr überschritten ) an der Neutralität des Staates diese bspw in einem Gespräch oder durch Diskussionen ausgeräumt werden. Diese Diskussionen sind in der Schule geradezu gewollt da der Grundsatz der Pluralität in der Schule dadurch gefördert werden soll, vor Gericht eben logischerweise nicht.

Foxtrot Bravo
28.12.2020, 14:48:30
Gibt es eigentlich auch schon eine Entscheidung des BVerfGs zu den Kruzifixen, die in jedem bayerischen Gerichtssaal hängen?

Isabell
12.2.2021, 16:13:09
Nur weil der Mensch kein Kopftuch trägt, kann er sehr wohl religiös sein. Das Kopftuchverbot schützt doch nicht vor Konfrontationen mit religiösen Personen. Außer natürlich man unterstellt, dass es keine Muslima gibt, die glaubt ohne ein Kopfttuch tragen zu dürfen. Dieses Urteil ignoriert, dass sich die Menschen, die hinter diesen Rollen stecken, durch ihre Leistungen bereits gezeigt haben, dass sie auch als bekennender Gläubiger rechtlich belastbare Entscheidungen treffen können. Wer dieses Vorurteil auslebt, kann ja gerne den Befangenheitsantrag stellen. Generalverdacht war noch nie zu etwas gut. Wahnsinn, dieses Urteil ist nun schon ein Weilchen her und ich werde immer noch wütend, wenn ich mich damit befasse. Dabei trage ich nicht einmal ein Kopftuch oder bin besonders religiös.

Jurafüchsin_BT
3.5.2021, 12:03:27
Die Antworten hier zeigen mir, dass ich mit meinem enormen Störgefühl in der Vorlesung und der anschließenden Diskussion darüber nicht alleine war. Danke dafür!
Cecilie
11.6.2021, 10:49:03
@isabell: das BVerfG hat doch in seiner Entscheidung extra hervorgehoben dass es nicht an einer möglichen Befangenheit des Richters liegt
Christopher Göbel
11.1.2022, 15:37:14
@[Isabell](58926) Wer hat denn behauptet, dass dieses Verbot vor der Konfrontation mit streng religiösen Menschen schützen soll? Es soll nur dafür sorgen, dass die betroffenden Menschen ihren Glauben nicht im Gerichtssaal der Öffentlichkeit in ihrer Funktion als Richter/Richterin präsentieren. Ob ein muslimischer Richter zu Hause fünf Mal betet ist für dieses Urteil völlig irrelevant und es war nie die Intention dieses Urteils dies zu unterbinden. Außerdem ist das Urteil weder islam- noch frauenfeindlich, da ein männlicher Christ mit ziemlicher Sicherheit auch keine Halskette mit einem Kreuz, welches klar als religiöses Zeichen zu erkennen wäre, tragen dürfte.
Philipp Paasch
16.6.2022, 22:45:55
@[Eda ](111085) wirklich guter Einwand. Zu bedenken ist aber, dass der Attentäter von Hanau kein Rechtsterrorist war.

Tobias Rexler
2.9.2022, 15:28:14
Das Thema zeigt schön den Konflikt zwischen religiösem Recht und irdischem Recht. Wenn jemand seine religiösen Belange über die staatlichen Rechte stellt, was privat erstmal keine Rolle spielt und somit grundsätzlich unbedenklich ist, kann das im Richteramt tatsächlich bedenklich sein. So ist es plausibel, dass zumindest die Gefahr besteht, dass jemand, der ein Richteramt führt und sich weigert das Kopftuch oder sonstige religiöse Symbole, wie auch zB Kreuze, abzulegen, weil er die religiösen Belange über die staatlichen stellt, auch die Urteilsfindung von dessen religiösen Werten beeinflusst werden kann.

Isabell
2.9.2022, 15:38:53
Das wird ja gerne behauptet. Aber wieso soll das plausibel sein? Woher die dahinter stehende Gewissheit, dass der Richter, der seine Religiosität nicht offen zeigt, sich nicht in bedenklichem Maße von dieser bei seiner Urteilsfindung leiten lässt?

Tobias Rexler
2.9.2022, 15:49:04
Nun ja, es geht ja gerade darum, dass die Gefahr bei jemanden, der sich gegen staatliche Vorgaben im Richteramt aufgrund der Religion stemmt, zumindest >höher< sein kann, als bei jemandem, der es nicht tut und dennoch religiös ist.

Isabell
2.9.2022, 15:58:39
Man darf also bestehende Regeln, die ganz massiv in die Religionsfreiheit eingreifen, nicht kritisieren und keine Reform anstoßen? Selbst dann nicht, wenn es für die hinter der Regelung stehende Vermutung keine Belege gibt? Weil man damit angeblich die dahinter stehende Vermutung bestätigt. Steile These.
Florian
16.11.2022, 15:52:30
Ich finde das BVerfG hat hier die einzig richtige Entscheidung getroffen. Es ist ganz klar, dass die Werte die das Kopftuch weltanschaulich vermittelt unseren freiheitlichen und toleranten Werten des Staates diametral zuwiderläuft und deswegen die Neutralitätspflicht verletzt. Verstehe die Diskussion und auch den Vergleich mit dem Kreuz in bayerischen Gerichtssäälen nicht. Das Kreuz ist ein in vielen Religionen verwendetes, weltanschaulich neutrales, Symbol, dass Mitgefühl und Barmherzigkeit ausdrückt. (Zumindest in der Verwendung ohne Corpus ist es neutral)
Jael
31.3.2023, 16:10:48
Ich frage mich, wieso man nicht einfach Kopftücher, Turbane oder sonstige religiös zwingend sichtbare Kleidung in der angepassten Farbe zur Robe stellt. Nur diese ist im Saal zulässig. Allein dadurch ist doch ganz klar, dass die Person gerade staatlich handelt. Naja...
Doli
9.7.2023, 11:01:28
@[Foxtrot Bravo ](126029) es gibt nur eine Entscheidung vom BayVGH zu den Kreuzen im Durchgangsbereich. Diese sollen eben gerade deshalb erlaubt sein weil man sie nur flüchtig passiert. Dass aber auch in den meisten Sälen noch Kreuze hängen finde ich skandalös
Melanie 🐝
12.9.2021, 12:07:59
Würde mir hier nochmal eine Zusammenfassung am Ende wünschen, damit man auch behält, was letztendlich alles in einer Klausur geprüft werden sollte. Sind ja schließlich schon einige Punkte

Wendelin Neubert
7.12.2021, 18:41:00
Liebe Melanie, das ist echt ein super Vorschlag, den wir umsetzen werden, aber das geht leider nicht sofort. Bitte noch etwas Geduld, wir stecken 100% unserer Energie in neue Inhalte. Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team
Jura
1.10.2021, 10:27:47
Ist es noch aktuell, dass Lehrerinnen grundsätzlich ein Kopftuch tragen dürfen? Gab da nicht neulich auch eine Änderung? LG

Lukas_Mengestu
2.10.2021, 12:49:42
Hallo Jura, meines Wissens ist dies noch aktuell. Die Debatte um das Kopftuch am Arbeitsplatz ist nach wie vor im Fluss und wird zudem dadurch erschwert, dass man sich spezifisch den Arbeitsplatz anschauen muss und teilweise auch das jeweilige Landesrecht. Während bei Rechtsreferendarinnen ein Verbot durch das BVerfG für rechtmäßig erachtet wurde, wurde dies bislang mit Blick auf Lehrerinnen häufig abgelehnt (vgl. BVerfG, NJW 2015, 1259; BAG, NZA 2021, 189). Jüngst hat sich der EuGH zudem zum Kopftuch bei privaten Unternehmen geäußert und auch hier die Religionsfreiheit der Arbeitnehmerinnen stark in den Vordergrund gestellt und hohe Hürden für eine Rechtfertigung verlangt (EuGH, Urt. v. 15.7.21 - C-804/18, C-341/19 = NJW 2021, 2715). Das heißt, auch weiterhin ist das Verbot eher die Ausnahme als die Regel. Beste Grüße Lukas - für das Jurafuchs-Team

Jurafüchsin_BT
9.10.2022, 23:36:45
Auf Grund des Berliner Neutralitätsgesetz sieht das Kopftuchtragen für Berliner Lehrerinnen (derzeit noch) anders aus.

CR7
23.5.2023, 13:17:32
Ich verstehe nicht ganz: Art. 4 I, II GG hat
verfassungsimmanente Schranken. Warum darf das Gericht eine einfach gesetzliche Norm als gesetzliche Grundlage heranziehen?
Leonq
1.7.2023, 10:25:30
Auch
verfassungsimmanente Schrankenbedürfen nach dem
Vorbehalt des Gesetzeseiner gesetzlichen Grundlage. Begründet werden kann das mit einem Erst-recht-schluss zu Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt: wenn schon diese (nur) durch den Gesetzgeber beschränkt werden dürfen, so muss dies erst recht für stärker geschützten Grundrechte ohne Vorbehalt gelten.

Johannes Nebe
19.6.2024, 19:04:37
Die mittelbare Benachteiligung aufgrund des Geschlechts müsste bejaht werden. Wie die Erklärung ausführt, zielt § 45 HGB nicht auf eine Diskriminierung muslimischer Frauen. Die religiösen Kleidungsvorschriften treffen Frauen aber stärker als Männer, so dass es ohne Intention zu einer (eben mittelbaren) Benachteiligung kommt. In der Erklärung wird auch gar nicht gegen diese mittelbare Benachteiligung argumentiert, sondern darauf verwiesen, dass sie, wenn sie besteht, jedenfalls gerechtfertigt wäre.