Versammlungsrechtliches Verbot des Zeigens der Reichskriegsflagge


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Nach einem Erlass des Innensenators von B soll das Zeigen von Reichskriegsfahnen in der Öffentlichkeit als Ordnungswidrigkeit geahndet werden. Die N meldet eine Versammlung an. Dabei sollen als Protest entsprechende Fahnen gezeigt werden. Dies wird mit einer Auflage verboten.

Einordnung des Falls

Versammlungsrechtliches Verbot des Zeigens der Reichskriegsflagge

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die N muss gegen die für sofort vollziehbar erklärte Auflage den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO beantragen, um die Versammlung wie geplant durchführen zu können.

Nein!

Maßgeblich für die statthafte Antragsart im Eilrechtsschutz ist die Hauptsache. Richtet sich diese gegen einen Verwaltungsakt, ist ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft. Dieser hat gemäß § 123 Abs. 5 VwGO Vorrang. Eine Auflage für eine Versammlung stellt einen eigenständigen Verwaltungsakt dar. Ein dagegen gerichteter Widerspruch bzw. eine Anfechtungsklage haben aufgrund der Anordnung der sofortigen Vollziehung keine aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO). Daher ist ein Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO) statthaft.

2. Der Antrag ist begründet, soweit nach freier richterlicher Interessenabwägung das Aussetzungsinteresse der N das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt.

Genau, so ist das!

Bei einer formell rechtmäßigen Anordnung der sofortigen Vollziehung ist der Antrag (§ 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO) begründet, soweit das Interesse der N an der Aussetzung des Verwaltungsakts das öffentliche Interesse an dessen Vollzug überwiegt. Hierbei trifft das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung anhand einer umfassenden Interessenabwägung. Dafür sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache maßgeblich. Das Aussetzungsinteresse überwiegt, wenn der VA nach summarischer Prüfung offensichtlich rechtswidrig ist (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). An dem sofortigen Vollzug eines rechtswidrigen VA kann kein öffentliches Interesse bestehen.

3. Ermächtigungsgrundlage für die Auflage ist § 15 Abs. 1 Alt. 2 VersG.

Ja, in der Tat!

Die zuständige Behörde kann die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist. Die Polizei wollte lediglich die Verwendung der Flaggen unterbinden, daher kommt nur die Auflage nach § 15 Abs. 1 Alt. 2 VersG in Betracht.

4. Der Tatbestand ist erfüllt, wenn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung vorliegt.

Ja!

Eine Maßnahme nach § 15 Abs. 1 VersG setzt eine unmittelbare Gefahr voraus. Eine solche liegt bei einer hohen Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts für ein geschütztes Rechtsgut vor. Die Versammlungsbehörde muss eine auf konkreten Tatsachen beruhende Gefahrenprognose erstellen. Bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen genügen nicht.

5. Das Zeigen der Flaggen stellt eine Form der Meinungsäußerung dar, sodass die Beschränkungen der Versammlung Art. 5 Abs. 2 GG berücksichtigen müssen.

Genau, so ist das!

Aufgrund ihres Stellenwertes für die freiheitlich-demokratische Grundordnung muss bei Beschränkungen von Versammlungen wegen des Inhalts von Meinungsäußerungen neben Art. 8 Abs. 1 GG auch die Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG berücksichtigt werden. Sie kann durch allgemeine Gesetze, die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und durch das Recht der persönliche Ehre beschränkt werden (Art. 5 Abs. 2 GG). OVG: Das Zeigen der genannten Flaggen stellt im Kontext der Versammlung nicht nur eine begleitende Nebenhandlung zur Meinungsgabe dar, sondern ist selbst maßgeblicher Bestandteil des Versammlungsmottos.

6. Wenn das Zeigen der Reichskriegsflagge gegen ein Strafgesetz verstößt, liegt eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit vor.

Ja, in der Tat!

Die öffentliche Sicherheit umfasst (1) die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung, (2) der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des einzelnen (3) sowie die Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates oder sonstiger Träger der Hoheitsgewalt.

7. Das Zeigen der Reichskriegsflaggen allein erfüllt die Straftatbestände der §§ 86a Abs. 1 Nr. 1, 130 StGB.

Nein!

Eine inhaltliche Beschränkung der Meinungsäußerung kommt nur aufgrund allgemeiner Gesetze in Betracht. Das sind Gesetze, die keine bestimmte Meinung als solche verbieten, sondern die dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen. OVG: Das Zeigen der angemeldeten Reichskriegsflaggen des Kaiserreichs ist nicht strafbar. Ohne das Hinzutreten weiterer Umstände wird hierdurch weder der Tatbestand der Volksverhetzung gem. § 130 StGB noch der Straftatbestand des § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB, der die Verwendung von Kennzeichen bestimmter politischer Organisationen unter Strafe stellt, erfüllt.

8. Der Erlass des Innensenators hinsichtlich des Zeigens von Reichskriegsflaggen ist ein allgemeines Gesetz. Daraus kann sich eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit ergeben.

Nein, das ist nicht der Fall!

OVG: „Der Erlass zum Umgang mit dem öffentlichen Zeigen von Reichskriegsflaggen des Senators für Inneres kann schon mangels Gesetzesqualität kein die streitgegenständliche Einschränkung rechtfertigendes allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG darstellen. Hierbei handelt es sich lediglich um eine verwaltungsinterne Anweisung zur Auslegung des § 118 OWiG und zur Vornahme polizeirechtlicher Maßnahmen.“

9. Eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit liegt vor, wenn Verstöße gegen § 118 Abs. 1 OWiG zu erwarten sind.

Ja, in der Tat!

Ordnungswidrig handelt, wer eine grob ungehörige Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen (§ 118 Abs. 1 OWiG). Die öffentliche Ordnung umfasst alle ungeschriebenen Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird.

10. Das Zeigen der Flaggen als Meinungsäußerung stellt keinen Verstoß gegen § 118 Abs. 1 OWiG dar. Eine Beschränkung der Meinungsfreiheit kann darauf nicht gestützt werden.

Ja!

Ein Rückgriff auf die öffentliche Ordnung zur Beschränkung von Versammlungen ist hinsichtlich der Art und Weise denkbar, aber nicht wegen des Inhalts der geäußerten Meinung. Anderenfalls würden Meinungsäußerungen an den herrschenden Auffassungen gemessen werden. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit ist auf die Teilhabe am politischen Willensbildungsprozess gerichtet und schützt dabei auch diejenigen, die diese nicht teilen. Insoweit stellt § 118 Abs. 1 OWiG keine taugliche Schranke für die Meinungsäußerung dar.

11. Es fehlt daher an einer unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Ordnung.

Genau, so ist das!

Beschränkungen einer öffentlichen Versammlung sind zulässig, wenn von der Art der gemeinschaftlichen Kundgabe eine Gefahr für die öffentliche Ordnung auszugehen droht, die nicht auf der bloßen Äußerung der Inhalte beruht, sondern auf besonderen, beispielsweise provokativen oder aggressiven, das Zusammenleben der Bürger konkret beeinträchtigenden Begleitumständen. Anhaltspunkte für ein entsprechendes Vorgehen der N bestehen nicht. Die Flaggen sollen keine Drohkulisse aufbauen. Sie stehen in direktem Bezug zum Motto der Versammlung und dienen der kritischen Auseinandersetzung mit dem Erlass des Innensenators.

12. Der Tatbestand des § 15 Abs. 1 Alt. 2 VersG ist nicht erfüllt. Die Auflage ist rechtswidrig.

Ja, in der Tat!

Nach umfassender Interessenabwägung ist die Auflage offenkundig rechtswidrig. Daher überwiegt das Aussetzungsinteresse der N das öffentliche Vollzugsinteresse. Der Antrag ist begründet und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Auflage ist wiederherzustellen.

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FI

Fischerino

25.1.2024, 11:49:54

Hier scheinen sich ein paar Fehler in die Lösung eingeschlichen zu haben. 1. bei der Frage, ob der Tatbestand eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erfordert, wäre wohl richtigerweise auch darauf hinzuweisen, dass die Gefahr "unmittelbar" sein muss 2. die Begriffe öffentliche Sicherheit und Ordnung werden hier ein bisschen durcheinander gebracht. § 118 Abs. 1 OWiG ist Teil der öffentlichen Sicherheit. Dass mangels Verstoß hiergegen auch kein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung vorliegt, scheint keine ganz logische Konsequenz zu sein. Auch im zitierten Urteil wird dahingehend anders zwischen öffentlicher Sicherheit und öffentlicher Ordnung unterschieden (vgl. Rn. 21 ff und Rn. 27 ff.)

CR7

CR7

24.4.2024, 16:14:14

Yes, ich war auch etwas verwirrt. Die öffentliche Ordnung ist ja insoweit subsidiär zur öffentlichen Sicherheit, § 118 OWiG zählt aber schon zur öffentlichen Sicherheit. :-)


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