Gewalt durch Unterlassen

12. April 2025

13 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

Die 20-jährige T ist im Rahmen ihres freiwilligen sozialen Jahres allein für die Versorgung des größtenteils bewegungsunfähigen und ans Bett gefesselten O zuständig. T unterlässt es, den O zu versorgen, um ihn zur Unterschreibung eines Schecks zu veranlassen, da sie der Meinung ist, chronisch unterbezahlt zu sein. Mit Erfolg.

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Einordnung des Falls

Gewalt durch Unterlassen

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. T hat gegen O Gewalt durch aktives Tun ausgeübt (§§ 240 Abs. 1, 13 StGB), indem sie ihn nicht versorgt hat.

Nein, das trifft nicht zu!

T hat O nicht versorgt. Sie hat also gerade nichts aktiv getan. Eine Strafbarkeit nach § 240 Abs. 1 StGB durch aktives Tun scheidet damit aus. In Betracht kommt aber eine Strafbarkeit nach §§ 240 Abs. 1, 13 StGB (Nötigung durch Unterlassen).
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2. Könnte auch im Unterlassen der Versorgung eine Gewaltanwendung im Sinne des §§ 240 Abs. 1, 13 StGB liegen?

Ja!

Der klassische Gewaltbegriff setzt voraus, dass der Täter (1) durch körperliche Kraftentfaltung (2) Zwang ausübt, indem er auf den Körper eines anderen einwirkt (3) um geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden.Nach den allgemeinen Voraussetzungen des § 13 StGB kann der Täter die Gewalt auch durch Unterlassen begehen.Durch das Unterlassen der Versorgung löst T bei O physisch wirkender Zwang (Hunger, Durst, Schmerzen, …) aus. Ts Unterlassen fällt damit unter den Begriff der Gewalt i.S.v. §§ 240 Abs. 1, 13 StGB.Zwar handelt T hier gerade nicht aktiv. Mithin entfaltet sie auch keine körperliche Kraft. Die st.Rspr. bejaht dennoch die Möglichkeit der Gewalt durch Unterlassen. Grund dafür ist der Telos der Norm: Bestraft werden soll die Einwirkung auf den Körper eines anderen, um dessen freie Willensentschließung zu beeinträchtigen. Auch bei einem Unterlassen könne körperliche Zwangswirkung auf Seiten des Opfers entstehen.

3. Wegen einer unterlassenen Handlung kann sich nach § 13 Abs. 1 StGB nur strafbar machen, wer eine Garantenstellung inne hat. Scheidet eine Strafbarkeit von T deswegen aus?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die nach § 13 StGB erforderliche Garantenstellung meint die rechtliche Pflicht zur Überwachung einer Gefahr (Überwachergarant) oder zur Bewahrung eines bestimmten Gutes vor beliebigen Gefahren (Beschützergarant).T befindet sich im freiwilligen sozialen Jahr und hat in diesem Zuge freiwillig die Versorgung des größtenteils bewegungsunfähigen O übernommen. Diese tatsächliche Übernahme begründet eine Beschützergarantenpflicht.Das Unterlassen der Versorgung entspricht auch einem aktiven Tun (Entsprechungsklausel, § 13 Abs. 1 Hs. 2 StGB).

4. Es fehlt ein Nötigungserfolg i.S.v. § 240 Abs. 1 StGB.

Nein, das ist nicht der Fall!

§ 240 StGB ist ein Erfolgsdelikt. Der Täter muss ein Opferverhalten, das in einer Handlung, Duldung oder Unterlassung liegen kann, herbeigeführt haben (Nötigungserfolg). Handlung meint dabei ein positives Tun.O hat den Scheck unterschrieben. Ein Nötigungserfolg ist somit gegeben.O hat den Scheck auch gerade deshalb unterschrieben, weil T ihm die Versorgung verweigert hat. Auch der nötigungsspezifische Zusammenhang liegt damit vor.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Burumar🐸

Burumar🐸

23.6.2022, 21:14:43

Müsste man in einer Klausur auch den 225 (v3 böswillige Vernachlässigung) anprüfen?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

24.6.2022, 10:52:47

Hallo Burumar, anprüfen könntest Du es natürlich. Allerdings gibt der Sachverhalt hier letztlich nicht genügend Hinweise dafür, dass hier eine

Gesundheitsschädigung

infolge der Vernachlässigung eingetreten ist. Im Ergebnis müsstet Du dies deshalb ablehnen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

MO

Momme

30.6.2023, 21:39:33

Wie sieht es hier mit §§ 253, 255 StGB aus?

DO

Dominic

27.7.2023, 08:52:12

Wo liegt denn hier die körperliche Kraftentfaltung? Praktisch wird darauf abgestellt, dass die T sich nicht bewegt. Wer sich nicht bewegt, bewirkt doch auch keine körperliche Kraftentfaltung. Dass auf der Opferseite körperlicher Zwang entsteht sehe ich auch so. Aber auf Täterseite liegt doch hier keine Körperlichkeit vor. Das ist doch Element der Definition des

Gewaltbegriff

s

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

31.7.2023, 19:19:21

Hallo Dominic, in der Tat passt die klassische Definition der aktiven Gewalt nur bedingt auf "

Gewalt durch Unterlassen

". Dass Gewalt aber auch durch bloßes Unterlassen möglich ist, entspricht der ständigen Rechtsprechung, die noch auf das Reichsgericht zurückgeht (vgl. RG, Urteil vom 30. Oktober 1885 – 2317/85 –, RGSt 13, 49-52). Maßgeblich wird hierbei auf den Gesetzeszweck abgestellt. Verhindert werden soll durch die

Nötigung

jede unmittelbare bzw. mittelbare Einwirkung auf den Körper eines anderen, welche geeignet ist und darauf abzielt, die freie Willensentschließung desselben zu beeinträchtigen und ihn hierdurch zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu bewegen. Unerheblich soll hierfür sein, ob die Einwirkung durch

aktives Tun

oder Unterlassen bewirkt wird. Maßgeblich ist also weniger die körperliche Kraftentfaltung auf Täterseite als vielmehr die körperliche Zwangswirkung auf Seiten des Opfers (rein psychische Zwänge genügen indes nicht, vgl. Sitzblockadeentscheidung des BVerfG & Zweite-Reihe-Rechtsprechung des BGH). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Natze

Natze

13.1.2024, 10:36:27

Also prüft man es als unechtes Unterlassungsdelikt? 🙈

L.G

L.Goldstyn

31.7.2024, 11:45:39

Hallo Natze, genau so ist es, §§ 240 Abs. 1, 13 StGB. Das wird in den Fragen leider nicht hinreichend deutlich.

Natze

Natze

31.7.2024, 12:23:46

Merci :)

sy

sy

4.10.2024, 23:15:18

gut dass man erst die feads lesen muss um die aufgabe zu verstehen..

JO

JohnnyLbd

21.6.2024, 10:01:50

Hey ich hab ne frage bzgl. des

nötigung

sspezifischen Zusammenhangs von Mittel und Erfolg. Dieser geht ja nach den Regeln der Obj. Zurechenbarkeit. Dennoch ist immer wie ich gesehen habe auch von Kausalität gesprochen. Geht der Zusammenhang dann nach den Regeln der Obj. Zurechenbarkeit aber hat noch ein Kausalitätselement zusätzlich mit drinne ?


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