Gewalt durch Unterlassen

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

Die 20-jährige T ist im Rahmen ihres freiwilligen sozialen Jahres allein für die Versorgung des größtenteils bewegungsunfähigen und ans Bett gefesselten O zuständig. T unterlässt es, den O zu versorgen, um ihn zur Unterschreibung eines Schecks zu veranlassen, da sie der Meinung ist, chronisch unterbezahlt zu sein. Mit Erfolg.

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Einordnung des Falls

Gewalt durch Unterlassen

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Wenn T "einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt", verwirklicht sie den objektiven Tatbestand der Nötigung (§ 240 Abs. 1 StGB).

Genau, so ist das!

Geschütztes Rechtsgut ist nach h.M. die persönliche Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung. Der objektive Tatbestand der Nötigung (§ 240 Abs. 1 StGB) setzt voraus (1) ein Nötigungsmittel (Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel), (2) einen Nötigungserfolg (Handlung, Duldung oder Unterlassung) und (3) den nötigungsspezifischen Zusammenhang zwischen (1) und (2).
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2. Das Unterlassen der Versorgung ist eine Gewaltanwendung (§ 240 Abs. 1 StGB).

Ja, in der Tat!

Der klassische Gewaltbegriff setzt voraus, dass der Täter (1) durch körperliche Kraftentfaltung (2) Zwang ausübt, indem er auf den Körper eines anderen einwirkt, (3) um geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden. Eine solche Anwendung von Gewalt kann nach den allgemeinen Regeln auch durch ein Unterlassen herbeigeführt werden, wenn eine entsprechende Garantenstellung (§ 13 Abs. 1 StGB) vorliegt. T obliegt aufgrund der freiwilligen Übernahme der Versorgung eine Beschützergarantenpflicht. Das Unterlassen der Versorgung stellt physisch wirkenden Zwang und somit Gewalt dar.

3. T hat O zu einer Handlung genötigt (§ 240 Abs. 1 StGB).

Ja!

Die Nötigung (§ 240 Abs. 1 StGB) ist ein Erfolgsdelikt. Der Täter muss ein Opferverhalten, das in einer Handlung, Duldung oder Unterlassung liegen kann, herbeigeführt haben (Nötigungserfolg). Die Handlung meint ein positives Tun. T hat durch Unterlassen der Versorgung herbeigeführt, dass O den Scheck unterschreibt, mithin ein positives Tun ausgelöst. Ein Nötigungserfolg ist somit gegeben.

4. T hat gerade mit der eingesetzten Gewalt die Handlung des O kausal und objektiv zurechenbar herbeigeführt (nötigungsspezifischer Zusammenhang).

Genau, so ist das!

Zwischen dem Nötigungsmittel und dem Nötigungserfolg muss eine kausale Verknüpfung bestehen, d.h. das abgenötigte Verhalten muss unmittelbare und spezifische Folge des angewandten Zwangsmittels sein. Es finden die allgemeinen Regeln der objektiven Zurechnung Anwendung. Der Zusammenhang fehlt, wenn das Opfer auf eigenen Entschluss oder fremden Rat dem Verlangen des Täters nachgibt. Hier hat der O den Scheck aufgrund der unterlassenen Versorgung seitens der T veranlasst. Somit liegt ein nötigungsspezifischer Zusammenhang vor.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Burumar🐸

Burumar🐸

23.6.2022, 21:14:43

Müsste man in einer Klausur auch den 225 (v3 böswillige Vernachlässigung) anprüfen?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

24.6.2022, 10:52:47

Hallo Burumar, anprüfen könntest Du es natürlich. Allerdings gibt der Sachverhalt hier letztlich nicht genügend Hinweise dafür, dass hier eine

Gesundheitsschädigung

infolge der Vernachlässigung eingetreten ist. Im Ergebnis müsstet Du dies deshalb ablehnen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

MO

Momme

30.6.2023, 21:39:33

Wie sieht es hier mit §§ 253, 255 StGB aus?

DO

Dominic

27.7.2023, 08:52:12

Wo liegt denn hier die körperliche Kraftentfaltung? Praktisch wird darauf abgestellt, dass die T sich nicht bewegt. Wer sich nicht bewegt, bewirkt doch auch keine körperliche Kraftentfaltung. Dass auf der Opferseite körperlicher Zwang entsteht sehe ich auch so. Aber auf Täterseite liegt doch hier keine Körperlichkeit vor. Das ist doch Element der Definition des Gewaltbegriffs

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

31.7.2023, 19:19:21

Hallo Dominic, in der Tat passt die klassische Definition der aktiven Gewalt nur bedingt auf "

Gewalt durch Unterlassen

". Dass Gewalt aber auch durch bloßes Unterlassen möglich ist, entspricht der ständigen Rechtsprechung, die noch auf das Reichsgericht zurückgeht (vgl. RG, Urteil vom 30. Oktober 1885 – 2317/85 –, RGSt 13, 49-52). Maßgeblich wird hierbei auf den Gesetzeszweck abgestellt. Verhindert werden soll durch die Nötigung jede unmittelbare bzw. mittelbare Einwirkung auf den Körper eines anderen, welche geeignet ist und darauf abzielt, die freie Willensentschließung desselben zu beeinträchtigen und ihn hierdurch zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu bewegen. Unerheblich soll hierfür sein, ob die Einwirkung durch

aktives Tun

oder Unterlassen bewirkt wird. Maßgeblich ist also weniger die körperliche Kraftentfaltung auf Täterseite als vielmehr die körperliche Zwangswirkung auf Seiten des Opfers (rein psychische Zwänge genügen indes nicht, vgl. Sitzblockadeentscheidung des BVerfG & Zweite-Reihe-Rechtsprechung des BGH). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Natze

Natze

13.1.2024, 10:36:27

Also prüft man es als unechtes Unterlassungsdelikt? 🙈

L.G

L.Goldstyn

31.7.2024, 11:45:39

Hallo Natze, genau so ist es, §§ 240 Abs. 1, 13 StGB. Das wird in den Fragen leider nicht hinreichend deutlich.

Natze

Natze

31.7.2024, 12:23:46

Merci :)

SY

sy

4.10.2024, 23:15:18

gut dass man erst die feads lesen muss um die aufgabe zu verstehen..

JO

JohnnySpecter69

21.6.2024, 10:01:50

Hey ich hab ne frage bzgl. des nötigungsspezifischen Zusammenhangs von Mittel und Erfolg. Dieser geht ja nach den Regeln der Obj. Zurechenbarkeit. Dennoch ist immer wie ich gesehen habe auch von Kausalität gesprochen. Geht der Zusammenhang dann nach den Regeln der Obj. Zurechenbarkeit aber hat noch ein Kausalitätselement zusätzlich mit drinne ?


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