Strafrecht

BT 3: Straftaten gegen Freiheit u.a.

Nötigung, § 240 StGB

Zufahren auf Menschen, um sie zum Ausweichen zu bewegen

Zufahren auf Menschen, um sie zum Ausweichen zu bewegen

16. Juni 2025

7 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

T fährt mit hoher Geschwindigkeit auf seine verhasste Nachbarin, die 80-jährige O, zu, damit diese sich von der Straße bewegt. O kann sich nur mit einem Sprung in eine Hecke vor dem drohenden Aufprall retten.

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Einordnung des Falls

Zufahren auf Menschen, um sie zum Ausweichen zu bewegen

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. T könnte sich wegen Nötigung strafbar gemacht haben, indem er auf O zufuhr, weswegen diese in eine Hecke sprang (§ 240 Abs. 1 StGB).

Genau, so ist das!

Objektive Voraussetzungen für eine Strafbarkeit nach § 240 Abs. 1 StGB sind: (1) Nötigungsmittel: Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel (2) Nötigungserfolg: Handeln, Dulden oder Unterlassen (3) Nötigungsspezifischer Zusammenhang zwischen (1) und (2) T müsste zudem vorsätzlich gehandelt haben. Die Tat müsste auch rechtswidrig und insbesondere verwerflich (§ 240 Abs. 2 StGB) gewesen sein. Zudem müsste T schuldhaft gehandelt haben.
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2. Das Zufahren auf O könnte „Gewalt” sein (§ 240 Abs. 1 StGB).

Ja!

Der Gewaltbgeriff ist umstritten. Ausgangspunkt aller Definitionsversuche ist der klassische Gewaltbegriff: Er setzt voraus, dass der Täter (1) durch körperliche Kraftentfaltung (2) Zwang ausübt, indem er auf den Körper eines anderen einwirkt, (3) um geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden.Der klassische Gewaltbegriff wurde im Laufe der Jahre aufgeweicht. Insbesondere für die „körperliche Kraftentfaltung” sind die Hürden sehr niedrig.

3. T hat das Gaspedal des Autos lediglich leicht mit dem Fuß berührt, um zu beschleunigen. Genügt das nach der heutigen Rspr., um eine „körperliche Kraftentfaltung” annehmen zu können?

Ja!

Nach heute vorherrschender Meinung genügt bereits die Ausübung körperlicher Tätigkeit, um eine körperliche Kraftentfaltung annehmen zu können. Denn auch sehr geringe körperliche Aktivität - wie etwa das Bedienen eines Gaspedals - kann zu erheblicher körperlicher Zwangswirkung führen.T hat mit seinem Fuß auf das Gaspedal gedrückt. Er ist somit körperlich tätig geworden. Das genügt, um eine körperliche Kraftentfaltung annehmen zu können.

4. Das Auto hat O tatsächlich nie berührt. T ist lediglich auf sie zugefahren. Scheidet damit – nach der Rspr. – eine körperliche Zwangswirkung auf O von vornherein aus?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die st. Rspr. bejaht bereits beim Zufahren auf das Opfer eine körperliche Zwangswirkung und nimmt deswegen an, dass in diesen Fällen Gewalt vorliegt. Das wird unter anderem damit begründet, dass die Masse, die motorische Kraft und die Geschwindigkeit des Fahrzeugs beim Genötigten als körperlicher Zwang ankommen (OLG Hamm, NJW 1973, 1240). T hat damit bereits dadurch, dass er auf O zufuhr, eine körperliche Zwangseinwirkung auf O ausgeübt. Selbst wenn man beim Nötigungsopfer keine ausreichende körperliche Zwangswirkung sieht, kommt es im Ergebnis darauf nicht an: Das schnelle Zufahren auf einen Menschen ist zumindest eine (konkludente) Drohung, diesen mit dem Auto anzufahren. Das wäre ein empfindliches Übel. Es liegt also zumindest ein taugliches Nötigungsmittel durch die Drohung mit einem empfindlichen Übel vor.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

JO

jomolino

1.10.2021, 17:24:44

Wieso ist das hier gerade körperliche Gewalt (es ist ja nicht mal zu einer Berührung gekommen) und nicht einfach körperlich empfundene Gewalt nach dem eingeschränkten vergeistigten Gewaltbegriff?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

1.10.2021, 18:19:40

Hallo nomamo, die Konturen des Gewaltbegriffes sind leider trotz unzähliger Entscheidungen nach wie vor etwas schwammig. Der Anwendung eines vergeistigten Gewaltbegriffes steht insbesondere das Bestimmtheitsgebot entgegen (Art. 103 Abs. 2 GG). Im Falle des Zufahrens eines PKW auf einen Fußgänger entspricht es indes der ständigen Rechtsprechung hierin bereits den Einsatz körperlicher Gewalt zu sehen, weswegen man dieses Konfliktfeld umgeht. Das OLG Hamm hat das einmal wie folgt ganz schön formuliert (NJW 1973, 1240): "Wer insbesondere mit einem Kraft

fahrzeug

auf Polizeibeamte, die sich ihm befugt in den Weg stellen, um ihn anzuhalten, direkt zufährt und auf diese Weise gegen sie mit der motorischen Kraft und der Masse seines Wagens eine Tätigkeit entfaltet, die bestimmt und geeignet ist, die Beamten am Anhalten des

Fahrzeug

es zu hindern, bedroht die Beamten nichtnur mit Gewalt, sondern gebraucht bereits unmittlbar Gewalt. Denn für denjenigen, der ein

Fahrzeug

räumlich und zeitlich nahe direkt auf sich zukommen sieht, stellt sich diese Situation nicht als das Inaussichtstellens einer erst zukünftigen Gewaltausübung durch den Führer eines

Fahrzeug

es dar, sondern als unmittelbarer körperlicher Zwang durch Masse, motorische Kraft und Geschwindigkeit des

Fahrzeug

s, dessen Gewicht und Wucht eingesetzt wird, um die so angegriffene Person zu veranlassen, dem

Fahrzeug

auszuweichen. Dass die physische Kraft, die der Angeklagte in dieser Weise gegen den zeugen in Bewegung setzte nicht absolut wirkte, weil sie die Fähigkeit des Beamten zur Willensbetättigung nicht völlig ausschloss, ist unerherblich. Es genügte, dass sich der Zeuge genötigt sah, der Gewalt des Kraftwagens zu weichen." Insofern befindet man sich in guter Gesellschaft, sofern man in diesen Fällen auch ohne konkreten Kontakt eine physisch wirkende

Gewaltanwendung

annimmt. Beste Grüße Lukas - für das Jurafuchs-Team

BER

Bertolo

27.5.2023, 21:51:28

Liege ich richtig in der Annahme, dass vor der einschlägigen

Nötigung

nach § 240 I, der §

315b

I Nr. 3 durch den Verkehrsfremden Inneneingriff geprüft und auch bejaht werden muss?

L.G

L.Goldstyn

31.7.2024, 12:02:53

Hallo Bertolo, aus meiner Sicht muss §

315b

Abs. 1 Nr. 3 StGB auf jeden Fall vorher angeprüft werden. Die grobe Einwirkung von einigem Gewicht wäre zu bejahen, diskutiert werden müsste der (zumindest bedingte)

Schädigungsvorsatz

, den die Rspr. für einen Inneneingriff voraussetzt. Denn: Der Täter wollte die Nachbarin hier nur von der Straße verscheuchen, ob er dabei dolus eventualis auch bzgl. einer Schädigung hatte, ist nicht eindeutig. Angesichts des Alters der Nachbarin halte ich es nicht für unvertretbar,

Schädigungsvorsatz

zu bejahen, sodass §

315b

Abs. 1 Nr. 3 StGB zu bejahen wäre. §§

315b

Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3, 315 Abs. 3 Nr. 1 lit. a) StGB wäre mangels Absicht im Übrigen nicht einschlägig. Viele Grüße!

AG

agi

18.10.2024, 16:55:27

könnte hier auch eine Strafbarkeit gem. §315 b I Nr.3 vorliegen?

Julian Ost

Julian Ost

5.11.2024, 17:25:49

Die wird hier im Rahmen eines verkehrsfremden Inneneingriffs regelmäßig vorliegen. Allerdings ist der SV nicht darauf ausgelegt. So gibt es keine Angaben zu einem möglichen

Schädigungsvorsatz

, der für einen verkehrsfremden Inneneingriff vorliegen muss. Ansonsten handelt der Fahrer des

Fahrzeug

es hier grob verkehrswidrig und in der Absicht sein

Fahrzeug

als Gewaltwerkzeug zu pervertieren.

Sebastian Schmitt

Sebastian Schmitt

14.11.2024, 14:25:56

Hallo @[agi](212798), ich kann mich @[Julian Ost](228435) nur anschließen. Objektive Anhaltspunkte für eine Strafbarkeit nach §

315b

I Nr 3 StGB haben wir definitiv und einiges spricht für eine "Pervertierung des

Fahrzeug

s als Waffe". Es ist also gut, dass Du hier an §

315b

I Nr 3 StGB denkst und ihn nicht vergisst. Auf der subjektiven Seite wird es allerdings deutlich dünner. T wollte nur die O von der Straße haben - dazu muss er sie aber nicht zwingend treffen/anfahren. Evtl dachte er zB, doch noch rechtzeitig abbremsen und/oder das Lenkrad herumreißen zu können, bevor er mit O kollidiert. Ohne dazu klare(re) Hinweise in der Sachverhaltsdarstellung zu haben, wird man also eine Strafbarkeit nach §

315b

I Nr 3 StGB (

in dubio pro reo

) nur schwer annehmen können. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team


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