Zufahren auf Menschen, um sie zum Ausweichen zu bewegen


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Jurafuchs

T fährt mit hoher Geschwindigkeit auf seine verhasste Nachbarin, die 80-jährige O, zu, damit diese sich von der Straße bewegt. O kann sich nur mit einem Sprung in eine Hecke vor dem drohenden Aufprall schützen.

Einordnung des Falls

Zufahren auf Menschen, um sie zum Ausweichen zu bewegen

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Indem T mit hoher Geschwindigkeit auf O zufährt, hat er "Gewalt" ausgeübt (§ 240 Abs. 1 Var. 1 StGB).

Genau, so ist das!

Der klassische Gewaltbegriff setzt voraus, dass der Täter (1) durch körperliche Kraftentfaltung (2) Zwang ausübt, indem er auf den Körper eines anderen einwirkt, (3) um geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden. Indem T auf die O zufährt, wird er körperlich tätig und übt dadurch auf O körperlich wirkenden Zwang aus, um möglicherweise zu erwartenden Widerstand zu überwinden.

2. T hat O zu einer Handlung genötigt (§ 240 Abs. 1 StGB).

Ja, in der Tat!

Die Nötigung (§ 240 Abs. 1 StGB) ist ein Erfolgsdelikt. Der Täter muss ein Opferverhalten, das in einer Handlung, Duldung oder Unterlassung liegen kann, herbeigeführt haben (Nötigungserfolg). Die Handlung meint ein positives Tun. Indem T auf O zugefahren ist, hat er bewirkt, dass O in die Hecke gesprungen ist. T hat ein positives Tun ausgelöst.

3. T hat gerade mit der eingesetzten Gewalt die Handlung der O kausal und objektiv zurechenbar herbeigeführt (nötigungsspezifischer Zusammenhang).

Ja!

Zwischen dem Nötigungsmittel und dem Nötigungserfolg muss eine kausale Verknüpfung bestehen, d.h. das abgenötigte Verhalten muss unmittelbare und spezifische Folge des angewandten Zwangsmittels sein. Es finden die allgemeinen Regeln der objektiven Zurechnung Anwendung. Der Zusammenhang fehlt, wenn das Opfer auf eigenen Entschluss oder fremden Rat dem Verlangen des Täters nachgibt. O ist gerade deshalb gesprungen, weil T sie dazu aufgrund seines Verhaltens veranlasst hat.

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JO

jomolino

1.10.2021, 17:24:44

Wieso ist das hier gerade körperliche Gewalt (es ist ja nicht mal zu einer Berührung gekommen) und nicht einfach körperlich empfundene Gewalt nach dem eingeschränkten vergeistigten Gewaltbegriff?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

1.10.2021, 18:19:40

Hallo nomamo, die Konturen des Gewaltbegriffes sind leider trotz unzähliger Entscheidungen nach wie vor etwas schwammig. Der Anwendung eines vergeistigten Gewaltbegriffes steht insbesondere das Bestimmtheitsgebot entgegen (Art. 103 Abs. 2 GG). Im Falle des Zufahrens eines PKW auf einen Fußgänger entspricht es indes der ständigen Rechtsprechung hierin bereits den Einsatz körperlicher Gewalt zu sehen, weswegen man dieses Konfliktfeld umgeht. Das OLG Hamm hat das einmal wie folgt ganz schön formuliert (NJW 1973, 1240): "Wer insbesondere mit einem Kraftfahrzeug auf Polizeibeamte, die sich ihm befugt in den Weg stellen, um ihn anzuhalten, direkt zufährt und auf diese Weise gegen sie mit der motorischen Kraft und der Masse seines Wagens eine Tätigkeit entfaltet, die bestimmt und geeignet ist, die Beamten am Anhalten des Fahrzeuges zu hindern, bedroht die Beamten nichtnur mit Gewalt, sondern gebraucht bereits unmittlbar Gewalt. Denn für denjenigen, der ein Fahrzeug räumlich und zeitlich nahe direkt auf sich zukommen sieht, stellt sich diese Situation nicht als das Inaussichtstellens einer erst zukünftigen Gewaltausübung durch den Führer eines Fahrzeuges dar, sondern als unmittelbarer körperlicher Zwang durch Masse, motorische Kraft und Geschwindigkeit des Fahrzeugs, dessen Gewicht und Wucht eingesetzt wird, um die so angegriffene Person zu veranlassen, dem Fahrzeug auszuweichen. Dass die physische Kraft, die der Angeklagte in dieser Weise gegen den zeugen in Bewegung setzte nicht absolut wirkte, weil sie die Fähigkeit des Beamten zur Willensbetättigung nicht völlig ausschloss, ist unerherblich. Es genügte, dass sich der Zeuge genötigt sah, der Gewalt des Kraftwagens zu weichen." Insofern befindet man sich in guter Gesellschaft, sofern man in diesen Fällen auch ohne konkreten Kontakt eine physisch wirkende Gewaltanwendung annimmt. Beste Grüße Lukas - für das Jurafuchs-Team

BER

Bertolo

27.5.2023, 21:51:28

Liege ich richtig in der Annahme, dass vor der einschlägigen Nötigung nach § 240 I, der § 315b I Nr. 3 durch den Verkehrsfremden Inneneingriff geprüft und auch bejaht werden muss?


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