Strafrecht

BT 3: Straftaten gegen Freiheit u.a.

Nötigung, § 240 StGB

Zufahren auf Menschen, um sie zum Ausweichen zu bewegen

Zufahren auf Menschen, um sie zum Ausweichen zu bewegen

6. Dezember 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

T fährt mit hoher Geschwindigkeit auf seine verhasste Nachbarin, die 80-jährige O, zu, damit diese sich von der Straße bewegt. O kann sich nur mit einem Sprung in eine Hecke vor dem drohenden Aufprall schützen.

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Einordnung des Falls

Zufahren auf Menschen, um sie zum Ausweichen zu bewegen

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Indem T mit hoher Geschwindigkeit auf O zufährt, hat er "Gewalt" ausgeübt (§ 240 Abs. 1 Var. 1 StGB).

Genau, so ist das!

Der klassische Gewaltbegriff setzt voraus, dass der Täter (1) durch körperliche Kraftentfaltung (2) Zwang ausübt, indem er auf den Körper eines anderen einwirkt, (3) um geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden. Indem T auf die O zufährt, wird er körperlich tätig und übt dadurch auf O körperlich wirkenden Zwang aus, um möglicherweise zu erwartenden Widerstand zu überwinden.
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2. T hat O zu einer Handlung genötigt (§ 240 Abs. 1 StGB).

Ja, in der Tat!

Die Nötigung (§ 240 Abs. 1 StGB) ist ein Erfolgsdelikt. Der Täter muss ein Opferverhalten, das in einer Handlung, Duldung oder Unterlassung liegen kann, herbeigeführt haben (Nötigungserfolg). Die Handlung meint ein positives Tun. Indem T auf O zugefahren ist, hat er bewirkt, dass O in die Hecke gesprungen ist. T hat ein positives Tun ausgelöst.

3. T hat gerade mit der eingesetzten Gewalt die Handlung der O kausal und objektiv zurechenbar herbeigeführt (nötigungsspezifischer Zusammenhang).

Ja!

Zwischen dem Nötigungsmittel und dem Nötigungserfolg muss eine kausale Verknüpfung bestehen, d.h. das abgenötigte Verhalten muss unmittelbare und spezifische Folge des angewandten Zwangsmittels sein. Es finden die allgemeinen Regeln der objektiven Zurechnung Anwendung. Der Zusammenhang fehlt, wenn das Opfer auf eigenen Entschluss oder fremden Rat dem Verlangen des Täters nachgibt. O ist gerade deshalb gesprungen, weil T sie dazu aufgrund seines Verhaltens veranlasst hat.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

JO

jomolino

1.10.2021, 17:24:44

Wieso ist das hier gerade körperliche Gewalt (es ist ja nicht mal zu einer Berührung gekommen) und nicht einfach körperlich empfundene Gewalt nach dem eingeschränkten vergeistigten

Gewaltbegriff

?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

1.10.2021, 18:19:40

Hallo nomamo, die Konturen des

Gewaltbegriff

es sind leider trotz unzähliger Entscheidungen nach wie vor etwas schwammig. Der Anwendung eines vergeistigten

Gewaltbegriff

es steht insbesondere das Bestimmtheitsgebot entgegen (Art. 103 Abs. 2 GG). Im Falle des Zufahrens eines PKW auf einen Fußgänger entspricht es indes der ständigen Rechtsprechung hierin bereits den Einsatz körperlicher Gewalt zu sehen, weswegen man dieses Konfliktfeld umgeht. Das OLG Hamm hat das einmal wie folgt ganz schön formuliert (NJW 1973, 1240): "Wer insbesondere mit einem Kraftfahrzeug auf Polizeibeamte, die sich ihm befugt in den Weg stellen, um ihn anzuhalten, direkt zufährt und auf diese Weise gegen sie mit der motorischen Kraft und der Masse seines Wagens eine Tätigkeit entfaltet, die bestimmt und geeignet ist, die Beamten am Anhalten des Fahrzeuges zu hindern, bedroht die Beamten nichtnur mit Gewalt, sondern gebraucht bereits unmittlbar Gewalt. Denn für denjenigen, der ein Fahrzeug räumlich und zeitlich nahe direkt auf sich zukommen sieht, stellt sich diese Situation nicht als das Inaussichtstellens einer erst zukünftigen Gewaltausübung durch den Führer eines Fahrzeuges dar, sondern als unmittelbarer körperlicher Zwang durch Masse, motorische Kraft und Geschwindigkeit des Fahrzeugs, dessen Gewicht und Wucht eingesetzt wird, um die so angegriffene Person zu veranlassen, dem Fahrzeug auszuweichen. Dass die physische Kraft, die der Angeklagte in dieser Weise gegen den zeugen in Bewegung setzte nicht absolut wirkte, weil sie die Fähigkeit des Beamten zur Willensbetättigung nicht völlig ausschloss, ist unerherblich. Es genügte, dass sich der Zeuge genötigt sah, der Gewalt des Kraftwagens zu weichen." Insofern befindet man sich in guter Gesellschaft, sofern man in diesen Fällen auch ohne konkreten Kontakt eine physisch wirkende Gewaltanwendung annimmt. Beste Grüße Lukas - für das Jurafuchs-Team

BER

Bertolo

27.5.2023, 21:51:28

Liege ich richtig in der Annahme, dass vor der einschlägigen Nötigung nach § 240 I, der § 315b I Nr. 3 durch den Verkehrsfremden Inneneingriff geprüft und auch bejaht werden muss?

L.G

L.Goldstyn

31.7.2024, 12:02:53

Hallo Bertolo, aus meiner Sicht muss § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB auf jeden Fall vorher angeprüft werden. Die grobe Einwirkung von einigem Gewicht wäre zu bejahen, diskutiert werden müsste der (zumindest bedingte)

Schädigungsvorsatz

, den die Rspr. für einen Inneneingriff voraussetzt. Denn: Der Täter wollte die Nachbarin hier nur von der Straße verscheuchen, ob er dabei dolus eventualis auch bzgl. einer Schädigung hatte, ist nicht eindeutig. Angesichts des Alters der Nachbarin halte ich es nicht für unvertretbar,

Schädigungsvorsatz

zu bejahen, sodass § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB zu bejahen wäre. §§ 315b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3, 315 Abs. 3 Nr. 1 lit. a) StGB wäre mangels Absicht im Übrigen nicht einschlägig. Viele Grüße!

AG

agi

18.10.2024, 16:55:27

könnte hier auch eine Strafbarkeit gem. §315 b I Nr.3 vorliegen?

Julian Ost

Julian Ost

5.11.2024, 17:25:49

Die wird hier im Rahmen eines verkehrsfremden Inneneingriffs regelmäßig vorliegen. Allerdings ist der SV nicht darauf ausgelegt. So gibt es keine Angaben zu einem möglichen

Schädigungsvorsatz

, der für einen verkehrsfremden Inneneingriff vorliegen muss. Ansonsten handelt der Fahrer des Fahrzeuges hier grob verkehrswidrig und in der Absicht sein Fahrzeug als Gewaltwerkzeug zu pervertieren.

Sebastian Schmitt

Sebastian Schmitt

14.11.2024, 14:25:56

Hallo @[agi](212798), ich kann mich @[Julian Ost](228435) nur anschließen. Objektive Anhaltspunkte für eine Strafbarkeit nach § 315b I Nr 3 StGB haben wir definitiv und einiges spricht für eine "

Pervertierung

des Fahrzeugs als Waffe". Es ist also gut, dass Du hier an § 315b I Nr 3 StGB denkst und ihn nicht vergisst. Auf der subjektiven Seite wird es allerdings deutlich dünner. T wollte nur die O von der Straße haben - dazu muss er sie aber nicht zwingend treffen/anfahren. Evtl dachte er zB, doch noch rechtzeitig abbremsen und/oder das Lenkrad herumreißen zu können, bevor er mit O kollidiert. Ohne dazu klare(re) Hinweise in der Sachverhaltsdarstellung zu haben, wird man also eine Strafbarkeit nach § 315b I Nr 3 StGB (in dubio pro reo) nur schwer annehmen können. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team


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