Strafrecht
BT 3: Straftaten gegen Freiheit u.a.
Nötigung, § 240 StGB
Zufahren auf Menschen, um sie zum Ausweichen zu bewegen
Zufahren auf Menschen, um sie zum Ausweichen zu bewegen
16. Juni 2025
7 Kommentare
4,6 ★ (8.729 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
T fährt mit hoher Geschwindigkeit auf seine verhasste Nachbarin, die 80-jährige O, zu, damit diese sich von der Straße bewegt. O kann sich nur mit einem Sprung in eine Hecke vor dem drohenden Aufprall retten.
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Einordnung des Falls
Zufahren auf Menschen, um sie zum Ausweichen zu bewegen
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. T könnte sich wegen Nötigung strafbar gemacht haben, indem er auf O zufuhr, weswegen diese in eine Hecke sprang (§ 240 Abs. 1 StGB).
Genau, so ist das!
2. Das Zufahren auf O könnte „Gewalt” sein (§ 240 Abs. 1 StGB).
Ja!
3. T hat das Gaspedal des Autos lediglich leicht mit dem Fuß berührt, um zu beschleunigen. Genügt das nach der heutigen Rspr., um eine „körperliche Kraftentfaltung” annehmen zu können?
Ja!
4. Das Auto hat O tatsächlich nie berührt. T ist lediglich auf sie zugefahren. Scheidet damit – nach der Rspr. – eine körperliche Zwangswirkung auf O von vornherein aus?
Nein, das ist nicht der Fall!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
jomolino
1.10.2021, 17:24:44
Wieso ist das hier gerade körperliche Gewalt (es ist ja nicht mal zu einer Berührung gekommen) und nicht einfach körperlich empfundene Gewalt nach dem eingeschränkten vergeistigten Gewaltbegriff?

Lukas_Mengestu
1.10.2021, 18:19:40
Hallo nomamo, die Konturen des Gewaltbegriffes sind leider trotz unzähliger Entscheidungen nach wie vor etwas schwammig. Der Anwendung eines vergeistigten Gewaltbegriffes steht insbesondere das Bestimmtheitsgebot entgegen (Art. 103 Abs. 2 GG). Im Falle des Zufahrens eines PKW auf einen Fußgänger entspricht es indes der ständigen Rechtsprechung hierin bereits den Einsatz körperlicher Gewalt zu sehen, weswegen man dieses Konfliktfeld umgeht. Das OLG Hamm hat das einmal wie folgt ganz schön formuliert (NJW 1973, 1240): "Wer insbesondere mit einem Kraft
fahrzeugauf Polizeibeamte, die sich ihm befugt in den Weg stellen, um ihn anzuhalten, direkt zufährt und auf diese Weise gegen sie mit der motorischen Kraft und der Masse seines Wagens eine Tätigkeit entfaltet, die bestimmt und geeignet ist, die Beamten am Anhalten des
Fahrzeuges zu hindern, bedroht die Beamten nichtnur mit Gewalt, sondern gebraucht bereits unmittlbar Gewalt. Denn für denjenigen, der ein
Fahrzeugräumlich und zeitlich nahe direkt auf sich zukommen sieht, stellt sich diese Situation nicht als das Inaussichtstellens einer erst zukünftigen Gewaltausübung durch den Führer eines
Fahrzeuges dar, sondern als unmittelbarer körperlicher Zwang durch Masse, motorische Kraft und Geschwindigkeit des
Fahrzeugs, dessen Gewicht und Wucht eingesetzt wird, um die so angegriffene Person zu veranlassen, dem
Fahrzeugauszuweichen. Dass die physische Kraft, die der Angeklagte in dieser Weise gegen den zeugen in Bewegung setzte nicht absolut wirkte, weil sie die Fähigkeit des Beamten zur Willensbetättigung nicht völlig ausschloss, ist unerherblich. Es genügte, dass sich der Zeuge genötigt sah, der Gewalt des Kraftwagens zu weichen." Insofern befindet man sich in guter Gesellschaft, sofern man in diesen Fällen auch ohne konkreten Kontakt eine physisch wirkende
Gewaltanwendungannimmt. Beste Grüße Lukas - für das Jurafuchs-Team
L.Goldstyn
31.7.2024, 12:02:53
Hallo Bertolo, aus meiner Sicht muss §
315bAbs. 1 Nr. 3 StGB auf jeden Fall vorher angeprüft werden. Die grobe Einwirkung von einigem Gewicht wäre zu bejahen, diskutiert werden müsste der (zumindest bedingte)
Schädigungsvorsatz, den die Rspr. für einen Inneneingriff voraussetzt. Denn: Der Täter wollte die Nachbarin hier nur von der Straße verscheuchen, ob er dabei dolus eventualis auch bzgl. einer Schädigung hatte, ist nicht eindeutig. Angesichts des Alters der Nachbarin halte ich es nicht für unvertretbar,
Schädigungsvorsatzzu bejahen, sodass §
315bAbs. 1 Nr. 3 StGB zu bejahen wäre. §§
315bAbs. 1 Nr. 3, Abs. 3, 315 Abs. 3 Nr. 1 lit. a) StGB wäre mangels Absicht im Übrigen nicht einschlägig. Viele Grüße!
agi
18.10.2024, 16:55:27
könnte hier auch eine Strafbarkeit gem. §315 b I Nr.3 vorliegen?
Julian Ost
5.11.2024, 17:25:49
Die wird hier im Rahmen eines verkehrsfremden Inneneingriffs regelmäßig vorliegen. Allerdings ist der SV nicht darauf ausgelegt. So gibt es keine Angaben zu einem möglichen
Schädigungsvorsatz, der für einen verkehrsfremden Inneneingriff vorliegen muss. Ansonsten handelt der Fahrer des
Fahrzeuges hier grob verkehrswidrig und in der Absicht sein
Fahrzeugals Gewaltwerkzeug zu pervertieren.

Sebastian Schmitt
14.11.2024, 14:25:56
Hallo @[agi](212798), ich kann mich @[Julian Ost](228435) nur anschließen. Objektive Anhaltspunkte für eine Strafbarkeit nach §
315bI Nr 3 StGB haben wir definitiv und einiges spricht für eine "Pervertierung des
Fahrzeugs als Waffe". Es ist also gut, dass Du hier an §
315bI Nr 3 StGB denkst und ihn nicht vergisst. Auf der subjektiven Seite wird es allerdings deutlich dünner. T wollte nur die O von der Straße haben - dazu muss er sie aber nicht zwingend treffen/anfahren. Evtl dachte er zB, doch noch rechtzeitig abbremsen und/oder das Lenkrad herumreißen zu können, bevor er mit O kollidiert. Ohne dazu klare(re) Hinweise in der Sachverhaltsdarstellung zu haben, wird man also eine Strafbarkeit nach §
315bI Nr 3 StGB (
in dubio pro reo) nur schwer annehmen können. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team