Abwandlung: Bösgläubigkeit bei Besitzerwerb (grobe Fahrlässigkeit)


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

U leiht sich Es Sportwagen für eine Spritztour in die Berge. Dort trifft sie S, der sie den Wagen spontan veräußert. U versichert, sie sei Eigentümerin, auch wenn sie die Zulassungsbescheinigung II nicht vorlegen könne. S fährt den Wagen 11 Jahre lang bis E ihn wiederfindet und Herausgabe verlangt.

Einordnung des Falls

Abwandlung: Bösgläubigkeit bei Besitzerwerb (grobe Fahrlässigkeit)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. War S zum Zeitpunkt der Veräußerung gutgläubig bezüglich der Eigentümerstellung der U (§ 932 Abs. 2 BGB)?

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Nein, das trifft nicht zu!

Jemand ist nicht gutgläubig, wenn er weiß oder aufgrund grob fahrlässiger Unkenntnis nicht weiß, dass der Veräußerer nicht Eigentümer der veräußerten Sache ist. Dabei vermittelt der Besitz eines Fahrzeuges nur in Verbindung mit der Zulassungsbescheinigung II den Rechtsschein, dass der Verkäufer Eigentümer ist. Deshalb handelt der Erwerber eines Kfz grob fahrlässig, wenn er sich diese nicht vorzeigen lässt. S hatte keine positive Kenntnis, dass U nicht Eigentümerin ist. Allerdings hat sie den Wagen erworben, ohne sich die Zulassungsbescheinigung II vorlegen zu lassen. Bei dem Erwerb war sie daher grob fahrlässig. Ein gutgläubiger Erwerb scheidet somit aus (§§ 929 S. 1, 932 BGB).

2. Scheitert ein rechtsgeschäftlicher Eigentumserwerb, so kommt immer noch ein gesetzlicher Eigentumserwerb in Betracht.

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Ja!

§ 937 BGB erfasst als gesetzlicher Eigentumserwerbstatbestand von seinem Gesetzeszweck gerade solche Sachverhalte, bei denen der Erwerber zwar Eigenbesitz, aber kein Eigentum erlangt hat, z.B. weil der gutgläubige Erwerb an § 935 BGB scheitert.

3. S hatte den Wagen mindestens zehn Jahre lang im Eigenbesitz (§ 937 Abs. 1 BGB).

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Genau, so ist das!

§ 937 Abs. 1 BGB setzt für die Ersitzung zunächst voraus, dass der Erwerber eine bewegliche Sache mindestens zehn Jahre im Eigenbesitz hat. Eigenbesitz (§ 872 BGB) hat jemand, wenn er die Sache als ihm gehörend besitzt.Der Sportwagen ist eine bewegliche Sache. S hatte 11 Jahre lang die tatsächliche Sachherrschaft über den Wagen und glaubte dabei, sie sei Eigentümerin geworden.

4. Hat S Eigentum an dem Wagen nach § 937 BGB erworben, obwohl sie bei Erwerb des Wagens nicht gutgläubig war?

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Nein, das trifft nicht zu!

Die Ersitzung ist ausgeschlossen (§ 937 Abs. 2 BGB), wenn der Erwerber bei dem Erwerb des Eigenbesitzes nicht in gutem Glauben ist oder später erfährt, dass ihm das Eigentum nicht zusteht.S ließ sich bei Erwerb des Wagens die Zulassungsbescheinigung Teil II nicht vorlegen. Sie handelte damit grob fahrlässig und war daher nicht in gutem Glauben. Ein Eigentumserwerb nach § 937 BGB ist damit ausgeschlossen.Die Ersitzung kann also lediglich darüber hinweghelfen, dass der gutgläubige Erwerb an § 935 BGB scheitert. Fehlt es bereits an der Gutgläubigkeit, so scheitert auch der Eigentumserwerb kraft Gesetzes.

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BL

Blotgrim

24.11.2022, 11:27:30

Ist es wirklich immer grob fahrlässig, wenn ich mir die Bescheinigung nicht vorlegen lasse? Ich meine es kann doch wirklich passieren, das man so etwas Mal verliert, auch wenn man es eigentlich stets vorlegen können muss.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

25.11.2022, 18:13:43

Hallo Blotgrim, im Hinblick auf die Zulassungsbescheinigung Teil II ist die Rspr. recht streng. Wenn der wahre Eigentümer diese verliert, dann könnte er ja ohne weiteres diese neu beantragen. Dies kostet nur etwas Zeit und Geld. Selbstverständlich ist eine Veräußerung auch ohne Zulassungsbescheinigung II möglich, denn die fehlende Bescheinigung ändert nichts an der Verfügungsberechtigung. Ein gutgläubiger Erwerb ist allerdings ohne Zulassungsbescheinigung II nicht möglich, denn der Rechtsschein wird beim PKW-Verkauf nicht allein durch den Besitz begründet. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

AM

Andeutungstheorie merken

6.9.2023, 08:37:31

Ich finde es sehr gut, wie ihr die einzelnen Erwerbstatbestände zueinander in den Kontext setzt. Sehr hilfreich :)

EV

evanici

15.9.2023, 10:42:49

Und der Prüfungsstandort wäre dann unter (Nicht-)Berechtigung des Veräußerers nach Verneinung des gutgläubigen Erwerbs unter einem weiteren Punkt "gesetzlicher Erwerb", oder würde man in einer Klausur gleich auf den gesetzlichen Erwerb springen und den rechtsgeschäftlichen Erwerb gar nicht erwähnen?

LL

Leo Lee

16.9.2023, 15:10:54

Hallo evanici, hier würdest du wie folgt vorgehen. Zunächst prüfst du den normalen rechtsgeschäftlichen Eigentumserwerb gem. § 929 1 BGB und lässt ihn dann scheitern aufgrund Bösgläubigkeit/Abhandenkommens etc. dann machst du einen neuen Gliederungspunkt auf (auf der gleichen Ebene) und prüfst den gesetzlichen Erwerbstatbestand. D.h. bspw.: A. Eigentumserwerb U – S (-) B. Eigentumserwerb gem. § 937 I BGB. Beachte, dass du immer kurz auch den rechtsgeschäftlichen Erwerb ansprichst (wegen des Vorrangs der Privatautonomie), ehe du zu den gesetzlichen Tatbeständen gelangst :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam - Leo


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