+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Raserin Renate (R) fährt am liebsten auf dem Seitenstreifen. Auf diesem steht die Polizistin Petra (P) und führt Radarkontrollen durch. R sieht die P zu spät, um auszuweichen. Sie freut sich aber über den Zusammenstoß, den P knapp überlebt.
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Einordnung des Falls
Der BGH beschäftigt sich in diesem Beschluss mit dem maßgeblichen Zeitpunkt der Fassung des Vorsatzes. Hiernach müsse der Vorsatz vorliegen, wenn der Täter noch einen für die Tatbestandsverwirklichung kausalen Tatbeitrag leisten kann. Dies sei nicht der Fall, wenn der Täter die Tatbestandsverwirklichung nicht mehr vermeiden kann. Im vorliegenden Fall bedeutet dies, dass der Täter, der in einem Auto auf Polizeibeamte zurast und diese erst zu einem Zeitpunkt wahrnimmt, in dem er den Erfolgseintritt ohnehin nicht mehr abwenden kann, nicht vorsätzlich handelt.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Könnte R den objektiven Tatbestand des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte erfüllt haben (§ 114 Abs.1 StGB)?
Ja, in der Tat!
Der objektive Tatbestand des tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte erfordert, dass die Täterin (1) einen Amtsträger oder Soldaten, (2) der zur Vollstreckung von Gesetzen, Rechtsverordnungen, Urteilen, Gerichtsbeschlüssen oder Verfügungen berufen ist, (3) bei der Vornahme einer Diensthandlung (4) tätlich angreift.Lerne die Tatbestandsvoraussetzungen nicht auswendig. Sie stehen genau so im Gesetz!
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2. Handelt es sich bei P um eine Vollstreckungsbeamtin?
Ja!
Amtsträger ist nach § 11 Nr. 2 Buchst. a, b StGB wer nach deutschem Recht Beamter oder Richter ist oder in einem sonstigen öffentlich- rechtlichem Amtsverhältnis steht. Ein Amtsträger ist Vollstreckungsbeamter, wenn es zu seinen Aufgaben gehört, den Staatswillen im Einzelfall, notfalls durch Zwang, durchzusetzen.
Polizisten sind Amtsträger. Polizieorgane müssen nicht ausschließlich mit Vollstreckungsaufgaben betraut sein, um als Vollstreckungsbeamte zu gelten. Es genügt, wenn sie auch für die Vollstreckung des Staatswillens zuständig sind.
3. Müsste die Tathandlung der R erfolgt sein, als P eine Vollstreckungshandlung vornahm?
Nein, das ist nicht der Fall!
Für die Erfüllung des Tatbestandes des § 114 StGB genügt es, wenn der tätliche Angriff bei einer Diensthandlung erfolgt. In Abgrenzung dazu fordert der Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) eine Vollstreckungshandlung. Vollstreckungshandlungen sind Tätigkeiten, bei denen der konkretisierte, also der auf die Regelung eines bestimmten Einzelfalls abzielende, staatliche Wille durch eine dazu berufene Person verwirklicht werden soll, und zwar notfalls mit den Mitteln staatlichen Zwangs.Der Anwendungsbereich des § 114 StGB ist weiter, hier genügt jede „schlichte“ Ausübung des Dienstes.
Die Polizistin führte eine Radarüberwachung durch. Hierbei handelt es sich nicht um die Regelung eines Einzelfalls.
4. Hat R die P tätlich angegriffen?
Ja, in der Tat!
Ein tätlicher Angriff ist eine unmittelbar auf den Körper des Vollstreckungsbeamten abzielende Einwirkung ohne Rücksicht auf ihren (Körperverletzung-) Erfolg. Die Grenze zwischen Gewalt und tätlichem Angriff ist noch ungeklärt. Der Wortsinn legt allerdings nahe, dass der tätliche Angriff eine gewisse Erheblichkeit erfordert. Das Merkmal des tätlichen Angriffs kann so ausgelegt werden, dass nur Handlungen umfasst werden, die konkret geeignet sind Individualrechtsgüter des Amtsträgers tatsächlich und nicht nur unerheblich zu beeinträchtigen. Bagatellhafte und leichte Widerstandshandlungen sollen nach dieser Lesart nicht in den Anwendungsbereich des § 114 StGB fallen.
R fuhr gegen die Polizeibeamte, der Zusammenstoß wirkte unmittelbar auf den Körper der P und war dazu geeignet ihre Individualrechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit nicht nur unerheblich zu beeinträchtigen.
5. Handelte R beim Zufahren auf die P vorsätzlich?
Nein!
Nach § 16 Abs.1 StGB muss die Täterin bei Begehung der Tat die Umstände kennen, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören. Die Verwirklichung des Tatbestandes muss von der Täterin zum Zeitpunkt der Tat gewollt sein. BGH: Dies ist der Fall, wenn der Vorsatz zu einem Zeitpunkt vorliegt, in welchem die Täterin noch einen für die Tatbestandsverwirklichung kausalen Tatbeitrag leistet. Wird der Vorsatz dagegen erst gefasst, wenn die Täterin die Tatbestandsverwirklichung nicht mehr vermeiden kann, fehlt es an einer vorsätzlichen Begehung der Tat (RdNr.7).
R nahm die P erst wahr, als sie nicht mehr reagieren konnte. Zum maßgeblichen Zeitpunkt hatte sie gar keine andere Wahl, als die P anzufahren. 6. Handelte R vorsätzlich, da R den Zusammenstoß im Nachgang billigte?
Nein, das ist nicht der Fall!
Der Vorsatz muss zu einem Zeitpunkt vorliegen, in dem die Täterin noch einen kausalen Tatbeitrag leistet. Dies ist dann der Fall, wenn die Tat noch vermieden werden kann. Ist die Tat im Zeitpunkt der Vorsatzerfassung ohnehin unvermeidbar, so führt auch ein später gefasster Vorsatz nicht zur Strafbarkeit.
Zwar kam es R gelegen die P anzufahren, jedoch fasste sie diesen Vorsatz erst, als der Zusammenprall unvermeidbar war, sodass eine Strafbarkeit nach § 114 StGB ausscheidet.
Bei einem nach dem relevanten Tatverhalten gefassten Vorsatz spricht man vom dolus subsequens. Bei einem vor dem unmittelbaren Ansetzen vorliegenden Vorsatz spricht man von dolus Antecedens. Wichtig ist: Keine der beiden kann aufgrund des Simultanetitätsprinzips den Tatbestand erfüllen. 7. Könnte R sich jedoch des fahrlässigen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte strafbar gemacht haben (§ 114 StGB)?
Nein, das trifft nicht zu!
Gem. § 15 StGB ist nur vorsätzliches Handeln strafbar, solange nicht das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht. § 114 StGB sieht keine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit vor.
8. Kommt aber eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung in Betracht, soweit sich P verletzt hat (§ 229 StGB)?
Ja!
Der Körperverletzungserfolg trat aufgrund einer Handlung der R ein. Es ist für einen durchschnittlichen Verkehrsteilnehmer objektiv vorhersehbar, dass sich Polizeibeamte auf dem Seitenstreifen aufhalten können. Der Unfall wäre zudem vermeidbar gewesen, wenn R nicht den Seitenstreifen genutzt hätte. Auch subjektiv wäre es R möglich gewesen den Unfall vorherzusehen und zu vermeiden.