Strafrecht

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Mitursächlichkeit der Tatvollendungsverhinderung beim Rücktritt?

Mitursächlichkeit der Tatvollendungsverhinderung beim Rücktritt?

9. Mai 2023

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration: T hat gerade O erstochen. Sowohl T als auch Os Frau F rufen für O den Notruf.

T will seine Kinder besuchen, die bei seiner Ex-Frau F und O leben. O verweigert T den Zutritt zur Wohnung. Als O ihm den Rücken zukehrt, sticht T lebensgefährlich auf O ein und flieht. F ruft die Polizei. T ruft auch die Polizei, um von sich abzulenken. Erst auf Nachfrage erwähnt er Os Verletzungen. Unklar bleibt, welcher der Anrufe kausal für das Eintreffen der Sanitäter ist, die Os Leben retten.

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Einordnung des Falls

Der BGH stellt in diesem Beschluss klar, dass das Ingangsetzen einer neuen Kausalkette für den Rücktritt vom beendeten Versuch genügt. Hierbei muss das Verhalten des Täters zumindest mitursächlich für die Verhinderung der Tatvollendung sein.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Könnte T sich wegen versuchten Mordes strafbar gemacht haben, indem er mit dem Messer auf O einstach (§§ 211, 22, 23 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB)?

Ja, in der Tat!

Eine Strafbarkeit wegen Versuchs setzt voraus, dass der Täter mit (1)Tatentschluss zur Tatbestandsverwirklichung (2)unmittelbar ansetzt, (3) rechtswidrig und schuldhaft handelt und (4)nicht strafbefreiend zurückgetreten ist. Mörder ist, wer rechtswidrig und schuldhaft einen anderen Menschen tötet und dabei mindestens ein Mordmerkmal erfüllt (§ 211 Abs. 2 StGB).Zu Beginn der Prüfung des Versuchs ist zudem kurz festzustellen, dass das unvollendete Delikt im Versuch strafbar ist.
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2. Hatte T Tatentschluss bezüglich eines Heimtückemord, als er auf O einstach?

Ja!

Tatentschluss umfasst den Vorsatz bezüglich aller objektiven Tatbestandsmerkmale sowie eventuell vorliegende deliktsspezifische subjektive Tatbestandsmerkmale. Heimtückisch handelt, wer die auf Arglosigkeit beruhende Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Arglos ist, wer sich zu Beginn des Angriffs keines Angriffs auf sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit versieht. Wehrlos ist, wer infolgedessen in seiner Verteidigung eingeschränkt ist. T stach mit zielgerichtetem Willen, O durch die Messerstiche zu töten, auf ihn ein. Zum Zeitpunkt des Angriffs hatte O dem T schon den Rücken zugewandt und nicht mit einem Angriff auf sein Leben gerechnet. Infolgedessen war O wehrlos, was T erkannt und bewusst zur Tötung ausnutzen wollte.

3. Hat er unmittelbar zum Mordversuch angesetzt, indem T mit dem Messer auf O einstach?

Genau, so ist das!

Der Täter setzt unmittelbar an, wenn er subjektiv die Schwelle zum „Jetzt-geht’s-los“ überschreitet und objektiv Handlungen vornimmt, die bei ungestörtem Fortgang ohne wesentliche Zwischenschritte zur Tatbestandsverwirklichung führen oder mit ihr in unmittelbarem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen. Durch das Einstechen auf O hat T die subjektive Schwelle zur Tötung überschritten. Die Stiche hätten bei ungestörtem Fortgang des Tatverlaufs ohne weitere wesentliche Zwischenschritte zum Tod des O geführt. T handelte auch rechtswidrig und schuldhaft.

4. Könnte T strafbefreiend zurückgetreten sein, indem er der Polizei den Vorfall meldete (§ 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB)?

Ja, in der Tat!

Der Rücktritt vom Versuch setzt voraus, dass der Versuch (1) nicht fehlgeschlagen ist und der Täter die (2) erforderliche Rücktrittshandlung (3) freiwillig erfüllt. Die erforderliche Rücktrittshandlung des Alleintäters hängt davon ab, in welchem Versuchsstadium er sich befindet. Bei einem unbeendeten Versuch muss der Täter lediglich die weitere Tatausführung aufgeben (§ 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 StGB). Der beendete Versuch fordert die aktive Abwendung des Erfolgseintritts (§ 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB) oder zumindest des ernsthaften Bemühens zur Erfolgsabwendung (§ 24 Abs. 1 S. 2 StGB). Bei mehreren Beteiligten bestimmen sich die Rücktrittsvoraussetzungen nach §24 Abs. 2 StGB.

5. Ist der Mordversuch des T fehlgeschlagen?

Nein!

Ein Fehlschlag liegt vor, wenn der Täter entweder tatsächlich erkennt oder irrig annimmt, dass die Vollendung der geplanten Tat mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und ohne zeitliche Zäsur nicht mehr möglich ist. T war bewusst, dass die Messerstiche den O lebensgefährlich verletzt haben und ohne das Eingreifen der Rettungskräfte zum Tod des O geführt hätten. Die Vollendung war aus seiner Sicht nach der letzten Ausführungshandlung noch möglich.

6. War der Mordversuch war aus Sicht des T zum Zeitpunkt seines Anrufes unbeendet?

Nein, das ist nicht der Fall!

Ein unbeendeter Versuch liegt vor, wenn der Täter davon ausgeht, noch nicht alles getan zu haben, was nach seiner Vorstellung zur Vollendung der Tat notwendig ist. Beendet ist der Versuch, wenn der Täter glaubt, alles Notwendige und Mögliche zur Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolges getan zu haben. Aus Sicht des T hat er nach dem letzten Messerstich alles Notwendige getan, um den Tod des O herbeizuführen. Die Unterscheidung zwischen beendetem und unbeendetem Versuch beruht, ebenso wie die Feststellung, ob der Versuch fehlgeschlagen ist, ausschließlich auf der Vorstellung des Täters im Zeitpunkt nach der letzten Ausführungshandlung (Rücktrittshorizont).

7. Hat T die Vollendung des Mordes verhindert (§ 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB)?

Ja, in der Tat!

BGH: Für die Erfolgsabwendung reiche es aus, dass der Täter eine neue Kausalkette in Gang setzt und sich sein Verhalten als zumindest mitursächlich für die Verhinderung der Tatvollendung erweist.Unerheblich sei,ob er noch mehr hätte tun können, sofern er nur die ihm bekannten und zur Verfügung stehenden Mittel genutzt hat, die aus seiner Sicht den Erfolg verhindern konnten. (RdNr. 7) Da unklar ist, wessen Anruf dazu geführt hat, dass die Sanitäter zur Rettung des O aufbrachen, ist zugunsten von T zu unterstellen, dass sein Anruf zumindest mitursächlich für die Rettung des O war.

8. Hat T den Erfolgseintritt freiwillig verhindert?

Ja!

BGH: Der Täter handelt freiwillig, wenn er weder durch eine äußere Zwangslage daran gehindert noch durch seelischen Druck unfähig geworden ist, die Tat zu vollenden. Bei äußeren Einflüssen sei maßgeblich, ob der Täter den Erfolgseintritt noch für möglich hält und aus freien Stücken handelt (RdNr. 10). Kommt es dem Täter von Anfang an nicht auf Heimlichkeit an, steht ein bereits erhöhtes Entdeckungsrisiko der Freiwilligkeit nicht zwingend entgegen, solange der Täter Herr seiner Entschlüsse bleibt. T hat sich ohne äußerlichen Zwang zum Anruf entschieden und hätte das Telefonat jederzeit abbrechen können, als der Polizist nach den Verletzungen des O fragte. Die Entscheidung, Os Tod zu verhindern, traf T unabhängig von dem bereits erhöhten Entdeckungsrisiko.

9. Bleibt T straflos?

Nein, das ist nicht der Fall!

Indem T mit einem Messer auf O einstach, hat er diesen körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt. Das verwendete Messer ist ein gefährliches Werkzeug und T hat O in konkrete Lebensgefahr gebracht, sodass er sich wegen gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht hat (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2, Nr. 5 StGB).
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