Versuchtes Sexualdelikt in mittelbarer Täterschaft: Versuchsbeginn - Jurafuchs


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration: B klingelt an Fs Tür in Annahme von Fs Einvernehmen. T lacht sich dabei ins Fäustchen.

T gibt sich online als seine Exfreundin F aus und verabredet sich mit B zum „Vergewaltigungsrollenspiel“ am folgenden Tag in F‘s Wohnung. F’s Gegenwehr solle B gewaltvoll überwinden und sexuelle Handlungen an F vornehmen. B fährt zu F, bekommt dort aber Zweifel und fährt nach Hause.

Einordnung des Falls

Der BGH hat entschieden, dass versuchte sexuelle Nötigung bei mittelbarer Täterschaft beginnt, wenn der Einfluss des Täters auf die ausgewählte Person als Werkzeug abgeschlossen ist. Dies gilt zumindest dann, wenn der Täter eine zeitnahe Ausführung erwartet. Der Fall betraf einen pensionierten Priester, der geplant hatte, seine Ex-Geliebte vergewaltigen zu lassen. Er übernahm die Identität der Frau auf einem „erotischen Dating-Portal" und korrespondierte mit zwei Männern. Er arrangierte ein Treffen für ein "Vergewaltigungs-Rollenspiel" am nächsten Tag. Das Klingeln des Werkzeugs (des unwissenden Mannes) an der Tür war auch die Schwelle für den Täter, die Tat zu versuchen. Da er feste Vereinbarungen getroffen hatte und durch seinen Chat am nächsten Tag wusste, dass sein Werkzeug auf dem Weg zur Wohnung war, hatte er eine konkrete Gefahr für seine ehemalige Geliebte geschaffen.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Könnte B sich der versuchten sexuellen Nötigung zu Nachteil von F strafbar gemacht haben (§§ 177 Abs. 1 Var. 1 StGB a.F., 22, 23 Abs. 1 StGB)?

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Ja!

§ 177 StGB ist die Zentralnorm der Sexualdelikte. Er enthält verschiedene Tatbestände. Die für den Fall entscheidungserhebliche Norm des § 177 Abs. 1 StGB a.F. (sexuelle Nötigung) ist in der neuen Fassung des § 177 StGB in Abs. 5 geregelt. Der Grundtatbestand des § 177 StGB n.F. ist der sexuelle Übergriff (Abs. 1 und 2). § 177 Abs. 1 StGB regelt den sexuellen Übergriff gegen den erkennbaren Willen des Opfers (sog. "Nein-heißt-Nein"-Regelung). § 177 Abs. 2 StGB listet Konstellationen des sexuellen Übergriffs unter Situationsausnutzung auf. § 177 Abs. 4, 5, 7, 8 StGB enthalten Qualifikationen der Abs. 1 und 2. In § 177 Abs. 6 StGB sind Regelbeispiele des sexuellen Übergriffs geregelt. Das für den Fall maßgebliche Rechtsproblem bleibt durch die Gesetzesänderung von § 177 StGB unberührt.

2. Umfasst der objektive Tatbestand des sexuellen Übergriffs die Vornahme von oder die Bestimmung zu sexuellen Handlungen gegen den erkennbaren Willen der anderen Person (§ 177 Abs. 1 StGB n.F.)?

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Genau, so ist das!

Der sexuelle Übergriff ist in § 177 Abs. 1 StGB n.F. geregelt. Danach ist strafbar, wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt (Var. 1) oder von ihr vornehmen lässt (Var. 2) oder diese Person zur Vornahme (Var. 3) oder Duldung (Var. 4) sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt. Variante 1 erfordert für die Tathandlung unmittelbaren Körperkontakt zwischen Täter und Opfer. Dagegen muss das Opfer bei Variante 2 die sexuellen Handlungen nicht an sich selber oder am Täter vornehmen. Alle Varianten erfordern den erkennbar entgegenstehenden Opferwillen zum Tatzeitpunkt.

3. Ist der Versuch des sexuellen Übergriffs strafbar (§§ 177 Abs. 1 n.F., 22, 23 Abs. 1 StGB)?

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Ja, in der Tat!

Der Versuch eines Verbrechens ist stets strafbar, der Versuch eines Vergehens nur dann, wenn das Gesetz es ausdrücklich bestimmt (§ 23 Abs. 1 StGB). Der sexuelle Übergriff ist gemäß § 177 Abs. 1 StGB n.F. mit einer Mindestfreiheitsstrafe von sechs Monaten bestraft und ist damit ein Vergehen (§ 12 Abs. 2 StGB). Der versuchte sexuelle Übergriff ist laut Gesetz strafbar (§ 177 Abs. 3 StGB n.F.).

4. Versucht Straftat, wer mit Tatentschluss unmittelbar zur Tat ansetzt (§ 22 StGB)?

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Ja!

Eine Straftat versucht, wer nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt (§ 22 StGB). Subjektiv setzt der Versuch Tatentschluss voraus. Dieser liegt vor, wenn der Täter endgültig entschlossen ist, den Tatbestand zu verwirklichen. Objektiv setzt der Versuch einer Straftat unmittelbares Ansetzen zur tatbestandlichen Handlung voraus. Dabei ist auf die Vorstellung des Täters abzustellen. Der Täter hat unmittelbar zur Tat angesetzt, wenn er subjektiv die Schwelle zum „jetzt geht es los“ überschreitet und objektiv Handlungen vornimmt, die bei ungestörtem Fortgang ohne Zwischenakte zur Tatbestandsverwirklichung führen.

5. Hat B sich wegen versuchten sexuellen Übergriffs zum Nachteil von F strafbar gemacht (§§ 177 Abs. 1 Var. 1 n.F., 22, 23 Abs. 1 StGB)?

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Nein, das ist nicht der Fall!

Der für den Versuch erforderliche Tatentschluss setzt Vorsatz bezüglich aller objektiven Tatbestandsmerkmale voraus. Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich (Tatbestandsirrtum) (§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB). T hat B vorgespiegelt, F wolle sich mit ihm (B) zu einem sexuellen Rollenspiel verabreden. B wusste nichts davon, dass F gar nicht zu den geplanten Handlungen bereit war. B wusste mithin nichts vom entgegenstehenden Willen der F. B unterlag einem Tatbestandsirrtum und handelte somit ohne Vorsatz (§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB). B hatte mithin keinen Tatentschluss zu einem versuchten sexuellen Übergriff gegenüber F (§§ 177 Abs. 1 Var. 1 n.F., 22, 23 Abs. 1 StGB).

6. Könnte Hintermann T sich wegen versuchten sexuellen Missbrauchs zum Nachteil von F in mittelbarer Täterschaft strafbar gemacht haben (§§ 177 Abs. 1 Var. 1 n.F., 22, 23 Abs. 1 i.V.m. § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB)?

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Ja, in der Tat!

Täter ist, wer die Tat selbst begeht (§ 25 Abs. 1 Var. 1 StGB). Täter kann aber auch sein, wer die Tat durch einen anderen begeht (mittelbare Täterschaft, § 25 Abs. 1 Var. 2 StGB). Der mittelbare Täter verwirklicht die Tatbestandsmerkmale nicht selbst, sondern bedient sich als „Hintermann“ eines „Tatmittlers“. Eine Tat „durch einen anderen“ begeht, wer die Tatbestandsverwirklichung durch tatbeherrschende Steuerung des Tatmittlers zurechenbar verursacht. Dies erfordert (1) einen eigenen Verursachungsbeitrag des Hintermannes, (2) eine unterlegene Stellung des Tatmittlers und (3) eine überlegene Stellung des Hintermannes.

7. Hat T erst dann unmittelbar zum versuchten sexuellen Übergriff in mittelbarer Täterschaft angesetzt, wenn B als Vordermann unmittelbar zur Tatausführung angesetzt hat?

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Nein!

Will der Täter die Tat durch einen Dritten begehen (§ 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB), genügt für das unmittelbare Ansetzen des Hintermannes, dass dieser seine Einwirkung auf den Tatmittler abgeschlossen hat und das geschützte Rechtsgut aus seiner Sicht bereits in Gefahr ist. T hat B Ort, Zeit und Handlungsanweisungen mitgeteilt. Weitere Vorbereitungen waren nicht nötig. T's Einwirkung auf B war abgeschlossen. T hat unmittelbar zur versuchten sexuellen Nötigung in mittelbarer Täterschaft angesetzt. Dass B als Tatmittler unmittelbar zur Tat ansetzt, ist nicht erforderlich. Soll der Tatmittler die Tat - anders als hier - erst nach weiterer Vorbereitung mit zeitlicher Verzögerung ausführen, beginnt der Versuch auch für den Hintermann erst mit dem unmittelbaren Ansetzen des Tatmittlers.

8. Ist T vom versuchten sexuellen Übergriff in mittelbarer Täterschaft zurückgetreten (§ 24 Abs. 1, 2 StGB), weil B Zweifel bekam und von der Tatausführung absah?

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Nein, das ist nicht der Fall!

Wegen Versuchs wird nicht bestraft, wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt oder deren Vollendung verhindert (§ 24 Abs. 1 S. 1 StGB). Der Rücktritt des Tatmittlers gilt auch für den mittelbaren Täter, wenn der Tatmittler den Rücktritt bewusst auch für den Hintermann und mit dessen Willen ausführt. B hat als Tatmittler das „Vergewaltigungsrollenspiel“ wegen eigener Zweifel nicht ausgeführt. Er wusste gar nichts von der Existenz des Hintermanns T. B hat gerade nicht bewusst für den T und mit dessen Willen gehandelt. T ist mithin nicht zurückgetreten. Er hat sich wegen versuchten sexuellen Übergriffs in mittelbarer Täterschaft strafbar gemacht (§§ 177 Abs. 1 Var. 1, 22, 23 Abs. 1 i.V.m. § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB).

9. Könnte T sich zudem wegen versuchter Vergewaltigung in mittelbarer Täterschaft strafbar gemacht haben (§§ 177 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 StGB n.F., §§ 22, 23 Abs. 1 i.V.m. § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB)?

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Ja, in der Tat!

Die Vergewaltigung ist in § 177 Abs. 6 StGB n.F. legaldefiniert und als Regelbeispiel ausgestaltet. Die Verwirklichung der Vergewaltigung setzt – anders als nach § 177 StBG a.F. – keine eigenhändige Ausführung der sexuellen Handlungen voraus. Eine in Mittäterschaft oder mittelbarer Täterschaft begangene Vergewaltigung ist daher von der Norm erfasst. Obwohl T die sexuellen Handlungen an F nicht selbst vornehmen wollte, käme nach der neuen Fassung des § 177 StGB eine Strafbarkeit wegen versuchter Vergewaltigung in mittelbarer Täterschaft in Betracht (§§ 177 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 StGB n.F., §§ 22, 23 Abs. 1 i.V.m. § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB).

Prüfungsschema

Wie prüfst Du die Strafbarkeit wegen der Begehung eines Delikts in mittelbarer Täterschaft (§ 25 Abs. 1 Var. 2 StGB)?

  1. Objektiver Tatbestand
    1. Kein Ausschluss der mittelbaren Täterschaft (bei eigenhändigen & echten Sonderdelikten)
    2. Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs durch Handlung des Tatmittlers
    3. Einwirkung des mittelbaren Täters auf den Tatmittler
    4. Zurechnung der Verwirklichung von Tatbestandsmerkmalen durch den Tatmittler
  2. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz des mittelbaren Täters
    1. Vorsatz bezüglich der Tatbestandsverwirklichung durch den Tatmittler
    2. Vorsatz bezüglich der die Tatherrschaft begründenden Umstände
  3. Rechtswidrigkeit
  4. Schuld

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