Strafrecht
Examensrelevante Rechtsprechung SR
Entscheidungen von 2020
Abgrenzung: Dreieckserpressung oder Diebstahl in mittelbarer Täterschaft
Abgrenzung: Dreieckserpressung oder Diebstahl in mittelbarer Täterschaft
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
T bedroht zwei 13-jährige Jungen mit einem Messer und fordert sie auf, mit ihm in die Innenstadt zu kommen und dort für ihn Wertgegenstände zu stehlen. Die Jungen sind von dem vorgehaltenen Messer so beeindruckt, dass sie sich zunächst nicht widersetzen. Unterwegs gelingt ihnen aber die Flucht.
Diesen Fall lösen 60,1 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Diese Entscheidung verdeutlicht die Abgrenzung zwischen einer versuchten Dreieckserpressung einem versuchten Diebstahl in mittelbarer Täterschaft. Maßgeblich ist hierbei, dass eine Dreieckserpressung ein Näheverhältnis zwischen dem Genötigten und dem Geschädigten voraussetzt. Wie dieses konkret ausgestaltet sein soll – rechtliches (Befugnistheorie) oder tatsächliches Näheverhältnis (Lagertheorie) - ist umstritten. Ungeachtet dieser Frage scheide eine Dreieckserpressung jedoch im vorliegenden Fall aus, da der Genötigte den Vermögensinteressen des geschädigten anvisierten Diebstahlopfers gleichgültig gegenüberstehe.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Hat T sich wegen versuchter (besonders schwerer räuberischer) Erpressung zum Nachteil der Jungen strafbar gemacht, §§ 253, 255, 250 Abs. 2 Nr. 1a, 22 StGB?
Nein, das trifft nicht zu!
Jurastudium und Referendariat.
2. Hat T sich wegen versuchter (besonders schwerer räuberischer) Erpressung zum Nachteil der anvisierten Diebstahlsopfer strafbar gemacht, §§ 253, 255, 250 Abs. 2 Nr. 1a, 22 StGB?
Nein!
3. Hatte T Tatentschluss zu einem Diebstahl in mittelbarer Täterschaft, §§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 1 Var. 2 StGB?
Genau, so ist das!
4. Hat T auf Grundlage der h.M. unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt, § 22 StGB?
Nein, das trifft nicht zu!
5. Hat T sich wegen versuchter Anstiftung zum Diebstahl strafbar gemacht, §§ 30 Abs. 1, 242 Abs. 1 StGB?
Nein!
6. Hat T sich aber wenigstens wegen einer Nötigung der beiden Jungen strafbar gemacht, § 240 Abs. 1, Abs. 2 StGB?
Nein, das ist nicht der Fall!
7. Hat T sich wegen versuchter Nötigung der beiden Jungen strafbar gemacht, §§ 240 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, 22 StGB?
Ja, in der Tat!
Fundstellen
Prüfungsschema
Wie prüfst Du die Strafbarkeit wegen Erpressung (§ 253 StGB)?
- Tatbestandsmäßigkeit
- Objektiver Tatbestand
- Nötigungshandlung (Gewalt oder Drohung mit empfindlichem Übel)
- Nötigungserfolg (Duldung, Handlung, Unterlassung)
- Vermögensverfügung (umstritten)
- Vermögensnachteil
- Subjektiver Tatbestand
- Vorsatz bzgl. 1.a.-d.
- Bereicherungsabsicht
- Stoffgleichheit
- Objektive Rechtswidrigkeit der erstrebten Vermögensverschiebung und entsprechender Vorsatz
- Objektiver Tatbestand
- Rechtswidrigkeit
- Allgemeine Rechtfertigungsgründe
- Verwerflichkeit der Nötigung nach § 253 Abs. 2 StGB
- Schuld
- Strafzumessungsregel nach § 253 Abs. 4 StGB
Wie prüfst Du die Strafbarkeit wegen versuchten Diebstahls (§§ 242 Abs. 1, 2, 22, 23 Abs.1 StGB)?
- Vorprüfung: (1) Kein vollendeter Diebstahl; (2) Strafbarkeit des Versuchs (§ 242 Abs. 2 StGB)
- Tatbestandsmäßigkeit
- Tatentschluss
- Vorsatz bezüglich der Wegnahme einer fremden beweglichen Sache
- Zueignungsabsicht
- Vorsatz bezüglich der Rechtswidrigkeit der erstrebten Zueignung
- Unmittelbares Ansetzen (§ 22 StGB)
- Tatentschluss
- Rechtswidrigkeit
- Schuld
- Strafaufhebungsgrund: Rücktritt (§ 24 Abs. 1, 2 StGB)
- Kein Fehlschlag
- Beendeter/Unbeendeter Versuch + Rücktrittshandlung
- Freiwilligkeit
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Jonas S.
24.11.2020, 15:45:18
Warum handelt es sich nicht um einen Tatentschluss zu einer Erpressung in mittelbarer Täterschaft? Warum wird "plötzlich" nur noch der
Diebstahl in mittelbarer Täterschaftthematisiert?
Eigentum verpflichtet 🏔️
24.11.2020, 16:42:37
Hallo Jonas, danke für deine Frage. Das liegt daran, dass die genötigten Jungen (als Werkzeuge des Täters) nach seiner Vorstellung ja keine Erpressungen (mit Gewalt oder
Drohung) ausüben sollen, sondern Diebstähle begehen sollen.
iustus
15.2.2021, 20:03:31
Aber kann man nicht damit argumentieren, dass der t zum Diebstahl angesetzt hat, indem er seinem tatplan entsprechend die Jungen für den 242 bestimmt hat? Oder wäre das eine zu arge Ausdehnung des Begriffs „Tat“ und damit mit 103 GG unvereinbar?
Speetzchen
16.2.2021, 11:56:00
Tat meint nach § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB den gesetzlichen Tatbestand, d.h. T muss zum gesetzlichen Tatbestand des § 242 angesetzt haben, darunter fällt damit nicht das Bestimmen der Jungen einen Diebstahl zu begehen. Würde man den Begriff der Tat weiter verstehen würde das, wie du sagst, gegen Art. 103 GG verstoßen. Lg
iustus
16.2.2021, 12:10:39
Danke, also hatte ich schon mal den richtigen Gedanken. Wäre ja das gleiche Problem wie bei der alic mit der Ausdehnungstheorie.
AliDaei24
22.4.2021, 08:49:07
Ich finde, das Wort “unterwegs” suggeriert hier, dass die Innenstadt weiter entfernt ist und dass sie sich ungewollt in Richtung Innenstadt begeben und so eben doch zu einer (notwendigen Zwischen-)Handlung genötigt wurden. Man könnte allerdings argumentieren, dass dies vom Versuch konsumiert wird.
Lukas_Mengestu
12.10.2021, 11:12:21
Hallo AliDaei24, interessanter Gedanke zu dem der BGH sich leider nicht näher ausgelassen hat. Denn in der Tat war die Innenstadt hier ein wenig weiter entfernt, sodass T mit den Jungen zunächst im Bus dorthin fuhr. Allerdings ist es letztlich vielleicht auch etwas künstlich den von einem einheitlichen Entschluss getragenen Nötigungsversuch an dieser Stelle künstlich in zwei Teile aufzuspalten. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Melanie 🐝
15.9.2021, 11:57:28
Ich muss leider sagen, dass ich die Aufbereitung des Falles hier überhaupt nicht gelungen finde. So muss man alle Punkte im Kopf erst durchprüfen und es ist finde ich kein großer Lerneffekt da. Ist meine persönliche Meinung. Ich denke eine Hernangehensweise in kleineren Schritten würde dem Fall gut tun, damit man die wesentlichen Knackpunkte besser versteht.
Victor
16.9.2021, 08:36:56
Aber hier wird doch direkt auf die Knackpunkte des Falles eingegangen und gerade die problematischen/entscheidenden Stellen abgehandelt. Zudem wird Delikt für Delikt vom schwersten ausgegangen behandelt. Und auch Vollendung vor Versuch.
Der Paragraf
11.10.2021, 23:42:24
Maßstab für das unmittelbare Ansetzen des mittelbaren Täters und Subsumtion stimmen hier aus meiner Sicht nicht überein. Entweder ist der Maßstab ein anderer oder
unmittelbares Ansetzenzu bejahen, denn T hat doch hier „aus seiner Sicht Einfluss auf das Verhalten des Tatmittlers gewonnen und diesen aus seinem Einwirkungsbereich in der Vorstellung entlassen …, dieser werde die tatbestandsmäßige Handlung vornehmen.“ Wenn es wirklich nur auf die Vorstellung des T ankommt, was mE gerade nicht hM ist, sehe ich keinen Grund hier das unmittelbare Ansetzen zu verneinen.
Lukas_Mengestu
12.10.2021, 11:05:45
Hallo Ludwig, hier war vielleicht der Sachverhalt nicht ganz präzise. T bedrohte die beiden Jungen und machte sich dann mit ihnen auf den Weg in die Innenstadt. Erst dort wollte er sie aus seinem unmittelbaren Einflussbereich entlassen. Schon während des Weges sind die Jungs aber abgehauen. Auch nach seiner Vorstellung war insoweit klar, dass sie hier nicht die tatbstandsmäßige Handlung ausführen werden. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Lukas_Mengestu
12.10.2021, 11:06:10
*wir haben den Sachverhalt nun entsprechend konkretisiert :)
Der Paragraf
12.10.2021, 11:22:39
Perfekt, mit der Klarstellung passt es! Danke :)
Patrick
13.4.2022, 16:25:24
Wieso wurde hier nicht ein versuchter erpresserischer Menschenraub zum Nachteil der Jungen geprüft?
Lukas_Mengestu
21.4.2022, 11:21:57
Hallo Patrick, der erpresserische Menschenraub wird von der Rechtsprechung in Zwei-Personen-Verhältnissen, also in solchen in denen der Täter die Sorge des Opfers um sein eigenes Wohl ausnutzt, nur sehr restriktiv angewandt. Verlangt wird dabei, dass ein funktionaler Zusammenhang zwischen der Bemächtigungslage und der angestrebten Erpressung besteht. Fallen Bemächtigungsmittel und Nötigungsmittel zusammen (zB Vorhalten des Messers) so kommt der Bemächtigungslage keine eigenständige Bedeutung zu. Insoweit fehlt es an dem funktionalen Zusammenhang, weswegen die Rechtsprechung in solchen Fällen die Annahme des § 239a StGB ablehnt (vgl. Valerius, in: BeckOK-StGB, 52.Ed. 1.2.2022, § 239a RdNr. 12ff). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Sambadi
17.4.2022, 07:20:32
Aber das ist schon auch eine vollendete Be
drohungnach §239 oder nicht? Da braucht man ja gerade kein
Nötigungserfolg
Lukas_Mengestu
20.4.2022, 15:29:08
Hallo Sambadi, die Be
drohungnach § 241 Abs. 1 StGB ist hier ebenfalls verwirklicht. Allerdings tritt diese auch hinter der bloß versuchten Nötigung zurück (vgl. BGH Beschl. v. 11.03.2014 - 5 StR 20/14). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
schaschl2
26.4.2022, 21:26:08
Fall war in ähnlicher Konstellation im 1.Examen im NRW
Lukas_Mengestu
28.4.2022, 01:20:47
Danke schaschl2, weißt Du zufällig noch, in welcher Kampagne der Fall lief? Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
L123
27.8.2022, 15:05:30
Kann man nicht schon eine vollendete Nötigung annehmen indem T mit
Drohungdie beiden zum folgen veranlasst hat?
Nora Mommsen
13.9.2022, 16:26:42
Hallo L123, er hat mit dem "in die Innenstadt folgen" zwar ein Verhalten veranlasst, allerdings war dieses nur Mittel zum Zweck. Es entsprach nicht dem anvisierten Verhalten, nämlich dem Bestehlen anderer Personen in der Innenstadt. Daher liegt noch keine vollendete Nötigung vor. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
DerChristoph
29.7.2024, 09:27:25
Hallo Nora, aber das "Mittel zum Zweck" ist doch für sich betrachtet auch schon ein Handeln (sprich: Bewegen) durch die Geschädigten. Aus Opferperspektive kann es doch nicht darauf ankommen, ob die "abgenötigte" Handlung bereits das Ziel des Täters darstellt oder nur Mittel zum Zweck ist? So oder so wird doch bereits das geschützte Rechtsgut (Handlungsfreiheit der Geschädigten) verletzt. Ich kann daher auch nicht verstehen, warum eine Nötigung nicht bereits verwirklicht ist.
fuchs_
15.9.2024, 13:18:12
Ja, fand ich auch erst komisch. Andererseits ist die versuchte Nötigung ja nicht zwingend milder zu bestrafen als die vollendete (vgl. §23 II "kann"), insofern ist der Opferschutz ja dennoch irgendwie gewahrt.
🔥1312🔥
8.3.2023, 20:50:27
Im Rahmen des Diebstahls in mittelbarer täterschaft wird hier darauf abgestellt, dass er die jungen als schuldlose werkzeuge 'verwenden' möchte, § 35 StGB. Gibt es einen Grund, warum hier nicht § 34 StGB und der
Nötigungsnotstandangesprochen wurden? Aus meiner Sicht wäre das naheliegender und jedenfalls auch in der Klausur attraktiver um sich mit den unterschiedlichen Ansichten zur rechtsfolge des
Nötigungsnotstands zu beschäftigen.
Lukas_Mengestu
9.3.2023, 14:03:35
Sehr guter Punkt, 🔥1312🔥! Der BGH hatte sich in der zugrundeliegenden Entscheidung nicht mehr näher mit der mittelbaren Täterschaft auseinandergesetzt, weswegen wir die Ausführungen hierzu knapp gehalten hatten. Völlig richtig kommt hier zusätzlich auch in Betracht, dass die Jungen sich in einem rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) befunden hatten. Ob eine Rechtfertigung über § 34 StGB im Falle des
Nötigungsnotstandes möglich ist, ist allerdings streitig. Lehnt man dies generell ab, so würde man in der Tat nur über § 35 StGB weiterkommen. Erkennt man die Rechtfertigung im Fall des
Nötigungsnotstands generell bzw. nach Abwägung im Einzelfall an, so könnte man hier sehr gut die Rechtfertigung annehmen (im Einzelnen nochmal:MüKoStGB/Erb, 4. Aufl. 2020, StGB § 34 Rn. 192). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team