Letztes Wort des Angeklagten auch bei vollumfänglichen Geständnis? - Jurafuchs


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Angeklagte B und ihre Verteidigerin stehen ungläubig vor dem Richter, der eine sechsjährige Freiheitsstrafe ausspricht.
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Klassisches Klausurproblem
Assessorexamen

Die vollumfänglich geständige Räuberin Bonnie (B) ist wegen besonders schweren Raubes vor dem Landgericht angeklagt. Nachdem die Staatsanwaltschaft und die Verteidigerin V plädiert haben, wird die Verhandlung unterbrochen. Im Fortsetzungstermin wird direkt das Urteil verkündet. B wird zu 6 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

Einordnung des Falls

Dem Angeklagten gebührt das letzte Wort (§ 258 Abs. 1 Hs. 2 StPO). So weit so klar, könnte man meinen. Dennoch wird dieses Gebot in der Praxis immer wieder verletzt, was grundsätzlich die Aufhebung des Urteils zur Folge hat und eine Wiederholung der Verhandlung notwendig macht. Doch ist dies auch der Fall, wenn der Angeklagte vollumfänglich geständig war und sein letztes Wort ohnehin nichts hätte ändern können? Mit dieser Frage beschäftigt sich dieser Beschluss des BGH vom 16.6.2022.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ist gegen die Verurteilung das Rechtsmittel der Berufung statthaft (§ 312 StPO)?

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Nein, das ist nicht der Fall!

Nur gegen die Urteile des Strafrichters und des Schöffengerichts kann Berufung eingelegt werden (§ 312 StPO). Der Strafrichter und das Schöffengericht entscheiden über zur Zuständigkeit der Amtsgerichte gehörende Strafsachen. Die Amtsgerichte sind zuständig, wenn eine höhere Freiheitsstrafe als vier Jahre nicht zu erwarten ist (§ 24 Nr.2 GVG). B wurde wegen besonders schweren Raubes angeklagt (§§ 249 Abs.1, 250 Abs.2 StGB). Hierbei handelt es sich um ein Verbrechen, welches mit einer Mindestfreiheitsstrafe von 5 Jahren zu bestrafen ist. Rs Fall wurde deshalb vor einer großen Kammer des Landgerichts (§ 74 Abs. 1 GVG) verhandelt. Gegen Urteile der großen Strafkammer kann keine Berufung eingelegt werden.

2. Kann Verteidigerin V für B Revision gegen das Urteil einlegen?

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Ja, in der Tat!

Gegen erstinstanzliche Urteile der Strafkammern ist die Revision zulässig (§ 333 StPO). Diese kann sowohl von dem Beschuldigten (§ 296 StPO), als auch durch dessen Verteidigerin (§ 297 StPO) eingelegt werden. Voraussetzung ist, dass der Beschuldigte durch das Urteil beschwert ist. Als Verurteilte ist B durch das Urteil beschwert. V kann als Verteidigerin nach § 297 StPO Rechtsmittel für B einlegen, sofern nicht dessen ausdrücklicher Wille entgegensteht.Im Hinblick auf die Zulässigkeit der Revision ist zudem noch wichtig, dass V die Revision form- und fristgerecht einlegt und begründet (§§ 341, 344, 345 StPO).

3. Ist die Revision begründet, wenn eine von Amts wegen zu beachtende Verfahrensvoraussetzung fehlt oder das Urteil nach § 337 StPO auf einer verfahrens- oder sachlich-rechtlichen Gesetzesverletzung beruht, die der Revisionsführer in nach §§ 344, 345 StPO zulässiger Weise rügen kann?

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Ja!

Schwerpunkt der Revisionsklausur im zweiten Staatsexamen ist die Begründetheit. Durch einen sauberen Obersatz verleihst Du Deiner Prüfung von Anfang an die nötige Struktur!Da Verfahrenshindernisse (bzw. Verfahrensvoraussetzungen) vom Gericht bereits von Amts wegen zu prüfen sind, wird in der Regel mit der Prüfung von Verfahrenshindernissen begonnen. Verfahrensrügen müssen vom Revisionsführer explizit erhoben und begründet werden (vgl. § 344 Abs. 2 StPO). Auch die Sachrüge muss vom Revisionsführer erhoben werden (vgl. § 344 Abs. 2 StPO).Anders als bei der Verfahrensrüge verlangt die zulässige Erhebung der Sachrüge aber keine nähere Begründung. Es genügt hier der Hinweis in der Revisionsbegründungsschrift, dass „die Verletzung sachlichen Rechts gerügt wird“.

4. Muss B darlegen, dass das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruht (§ 337 StPO)?

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Genau, so ist das!

Sofern keine Anhaltspunkte für das Bestehen von Prozesshindernissen vorliegen, kannst Du diesen Prüfungspunkt weglassen oder in einem Satz kurz feststellen, dass diese nicht bestehen.Das Gesetz ist verletzt, wenn eine verfahrens- oder sachlich-rechtlichen Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist (§ 337 StPO). Das Urteil beruht auf der Gesetzesverletzung, wenn nicht auszuschließen ist, dass das Urteil ohne die Gesetzesverletzung anders ergangen wäre. Stellt die Verletzung einer Verfahrensnormen einen absoluten Revisionsgrund dar, so wird unwiderleglich vermutet wird, dass das Urteil auf diesem Verfahrensverstoß beruht (§ 338 StPO).Da es sich bei der Gewährung des letzten Wortes um eine wesentliche Förmlichkeit handelt (§ 273 StPO), kann die Nichteinhaltung nur durch das Sitzungsprotokoll bewiesen werden (§ 274 StPO).

5. Ist das Urteil frei von Verfahrensfehlern (§ 337 StPO)?

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Nein, das trifft nicht zu!

Dem Angeklagten gebührt das letzte Wort vor dem Urteil (§ 258 Abs.2 StPO). Wird ihm dies nicht erteilt, so stellt dies einen Verfahrensfehler dar.Das Urteil erging im Fortsetzungstermin unmittelbar nach dem Plädoyer von Staatsanwaltschaft und Verteidigung. Im Sachverhalt findet sich kein Hinweis darauf, dass B zuvor das letzte Wort erteilt wurde.Der Angeklagte muss nicht zwingend etwas sagen. Ihm muss aber zumindest die Gelegenheit hierzu gegeben werden.Vorsicht in der Prüfung! In der Regel musst Du allein aus dem Fehlen des entsprechenden Vermerkes im Hauptverhandlungsprotokoll erkennen, dass das letzte Wort nicht erteilt wurde. Der Fehler ist bei Prüfungsämtern sehr beliebt, da dies in der Praxis immer wieder vergessen wird.

6. Stellt die Nichterteilung des letzten Wortes (§ 258 Abs. 2 StPO) einen absoluten Revisionsgrund (§ 338 StPO) dar?

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Nein!

Die StPO unterscheidet zwischen relativen und absoluten Revisionsgründen. Die absoluten Revisionsgründe sind abschließend in § 338 StPO normiert. Hier wird das Beruhen des Urteils auf der Gesetzesverletzung unwiderleglich vermutet. In allen anderen Fällen muss im Einzelfall nachgewiesen werden, dass nicht auszuschließen ist, dass das Urteil auf einer Verletzung des Gesetztes beruht.Ein Verstoß gegen das Recht des letzten Wortes ist nach § 338 StPO kein absoluter Revisionsgrund. Achtung Terminologie: § 338 StPO ist keine Verfahrensvorschrift, gegen die das Tatgericht selbstständig verstoßen kann. Die Norm führt lediglich, dass bei einem Verstoß gegen eine Verfahrensnorm (zB abwesender Angeklagter, § 231 Abs. 1 S. 1 StPO), das Beruhen unwiderleglich vermutet wird (zB § 338 Nr. 5 StPO).

7. Ist es möglich, dass sich der Schuldspruch geändert hätte, hätte B das letzte Wort erhalten?

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Nein, das ist nicht der Fall!

Ein Gesetzesverstoß begründet die Revision nur, wenn das Urteil bei richtiger Anwendung des Gesetztes anders ausgefallen wäre. Bei Verfahrensfehlern kommt es darauf an, ob ein rechtsfehlerfreies Verfahren zu demselben oder möglicherweise zu einem anderen Ergebnis geführt hätte.B war vollumfänglich geständig, sodass nicht davon auszugehen ist, dass sich der Schuldspruch bei Gewähr des letzten Wortes geändert hätte. Im Kommentar findest Du bei den jeweiligen Verfahrensnormen stets auch Hinweise dazu, inwieweit ein Urteil auf der Verletzung der Norm beruhen kann.

8. Wäre das letzte Wort der B möglicherweise im Rahmen der Strafzumessung relevant gewesen?

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Ja, in der Tat!

Durch das letzte Wort erhält der Angeklagte die Chance unmittelbar vor Fällung des Urteils einen letzten Eindruck abzugeben. Es ist nur in seltenen Fällen auszuschließen, dass dieser Eindruck nicht dazu geeignet ist, den Strafausspruch zu beeinflussen.Eine positive Auswirkung auf den Strafausspruch wäre denkbar, wenn B ihr letztes Wort dazu genutzt hätte, sich bei den Geschädigten zu entschuldigen oder Reue zu zeigen.

9. Hat die zulässige Revision der B Aussicht auf Erfolg?

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Ja!

Die Revision ist begründet, wenn eine von Amts wegen zu beachtende Verfahrensvoraussetzung fehlt oder das Urteil nach § 337 StPO auf einer verfahrens- oder sachlich-rechtlichen Gesetzesverletzung beruht, die der Revisionsführer in nach §§ 344, 345 StPO zulässiger Weise rügen kann.Die Nichterteilung des letzten Wortes stellt einen Verfahrensverstoß dar. Es ist nicht auszuschließen, dass der Strafausspruch darauf beruht, dass der B das letzte Wort nicht gewährt worden ist. Somit ist die Verfahrensrüge begründet.Die erfolgreiche Verfahrensrüge führt hier dazu, dass (1) das Urteil des Landgerichts im Strafausspruch mit den dazugehörigen Feststellungen aufgehoben wird. Im Umfang der Aufhebung wird (2) das Urteil zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

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Isabell

Isabell

17.1.2023, 13:21:53

Einen Hinweis auf die hierfür zulässigen Beweismittel wäre eine schöne Ergänzung.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

18.1.2023, 13:06:02

Vielen Dank für den Hinweis, Isabell. Wir haben ergänzt, dass es sich bei der Gewährung des letzten Wortes um eine wesentliche Förmlichkeit der Hauptverhandlung handelt (§ 273 StPO). Das Sitzungsprotokoll entfaltet insoweit formelle Beweiskraft (§ 274 StPO), weshalb die Nichterteilung grundsätzlich nur mit dem Sitzungsprotokoll bewiesen werden kann (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 258 RdNr. 31). Beste Grüße, Lukas


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