Rechtfertigung Art. 5 Abs. 3 GG

[...Wird geladen]

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Der 1933 emigrierte Schriftsteller K schildert in seinem Roman "Mephisto" Aufstieg und Karriere des opportunistischen Schauspielers Hendrik H. in Nazideutschland. Vorlage war der echte Schauspieler Gustaf G., den K kannte. Dessen Alleinerbe erwirkt ein Verbot gegen Verleger V, "Mephisto" zu veröffentlichen

Diesen Fall lösen [...Wird geladen] der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

...Wird geladen

Einordnung des Falls

Rechtfertigung Art. 5 Abs. 3 GG

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Als vorbehaltslos gewährtes Grundrecht kann die Kunstfreiheit nicht eingeschränkt werden.

Nein!

Die Grundrechte des GG gelten - mit Ausnahme der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) - nicht absolut, sondern können im Einzelfall eingeschränkt werden. Grundrechte mit einfachem oder qualifizierten Gesetzesvorbehalt können unter dessen jeweiligen Voraussetzungen eingeschränkt werden. Vorbehaltlos gewährte Grundrechte - wie die Kunstfreiheit - unterliegen (nur) den verfassungsimmanenten Schranken kollidierenden Verfassungsrechts. Sie sind mit kollidierenden Verfassungsgütern - also mit Grundrechten Dritter sowie sonstigen Verfassungswerten - in möglichst schonenden Ausgleich zu bringen (praktische Konkordanz). Die differenzierte Schrankensystematik des GG ist keine Selbstverständlichkeit. Die Europäische Grundrechtecharta (GRCh) unterwirft alle EU-Grundrechte einem einheitlichen Gesetzesvorbehalt (Art. 52 Abs. 1 GRCh). Für den Erfolg Deiner Klausur ist es zentral, dass Du die Schranke des einschlägigen Grundrechts zutreffend identifizierst, weil dies erhebliche Auswirkungen auf die Rechtfertigung von Eingriffen hat.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. Eine Kollision der Kunstfreiheit des V mit den verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern von Gustaf Gründgens kommt vorliegend nicht in Betracht, da Gründgens bereits tot ist.

Nein, das ist nicht der Fall!

Jeder Mensch genießt einen in der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) wurzelnden allgemeinen sozialen Wert- und Achtungsanspruch. Dieser wirkt auch nach dem Tod fort (postmortaler Persönlichkeitsschutz) und verpflichtet den Staat, den Achtungsanspruch des Einzelnen auch nach dessen Tod zu schützen. Je länger der Betroffene tot ist, desto stärker nimmt der Achtungsanspruch und das berechtigte Interesse an der Nichtverfälschung seines Lebensbildes ab. BVerfG: Zum Zeitpunkt der Entscheidung sei die Erinnerung des Publikums an Gründgens noch lebendig. Deshalb dauere der Schutz von Gründgens Achtungsanspruchs im sozialen Raum noch fort. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) besteht indes nicht über den Tod hinaus. Denn es knüpft - wie alle Grundrechte - unmittelbar an die Grundrechtsfähigkeit an. Träger des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sind jedoch nur lebende Personen.

3. Eine Kollision der Kunstfreiheit des V mit dem (postmortalen) Persönlichkeitsschutz von Gustaf Gründgens ist vorliegend ausgeschlossen, da der Roman ausschließlich künstlerisch wirkt.

Nein, das trifft nicht zu!

Die Kunstfreiheit kann mit dem verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsrecht von Personen in Konflikt geraten, auf die im Kunstwerk - obschon verfremdet - Bezug genommen wird. Denn ein Kunstwerk wirkt nicht nur als „ästhetische“ Realität, sondern entfaltet auch im außerkünstlerischen Sozialbereich Wirkungen. Gründgens war die erkennbare Vorlage der Romanfigur Hendrik Höfgens. Der Roman schildert Höfgens - und damit verfremdet auch Gründgens' - Opportunismus in seiner Karriere in Nazideutschland. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass Leser des Romans Gründgens mit Höfgen in Verbindung bringen und in der Folge Gründgens Ruf und soziale Achtung leiden. Mithin kommt eine Beeinträchtigung von Gründgens postmortalem Persönlichkeitsschutz durch die Veröffentlichung des Romans in Betracht.

4. In der Kollision zwischen Vs Kunstfreiheit auf der einen Seite und Gründgens (postmortalem) Persönlichkeitsschutz auf der anderen Seite genießt die Kunstfreiheit offenkundig den Vorrang.

Nein!

Kollidieren Verfassungsgüter miteinander - wie etwa vorliegend Kunstfreiheit und Persönlichkeitsschutz -, so sind die Güter und ihre jeweilige Betroffenheit im Einzelfall gegeneinander abzuwägen und möglichst schonend miteinander in Ausgleich zu bringen (praktische Konkordanz). BVerfG: „Der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Einzelnen ist ebensowenig der Kunstfreiheit übergeordnet wie sich die Kunst ohne weiteres über den allgemeinen Achtungsanspruch des Menschen hinwegsetzen darf.“ Im Mephisto-Beschluss setzte sich das BVerfG erstmals mit dem Verhältnis zwischen der Kunstfreiheit und kollidierenden Grundrechten Dritter auseinander.

5. Bei der Entscheidung, ob Kunstfreiheit oder Persönlichkeitsschutz überwiegt, kommt es u.a. darauf an, inwieweit das künstlerische „Abbild“ das „Urbild“ verfremdet und künstlerisch verselbstständigt.

Genau, so ist das!

BVerfG: Bei der Abwägung von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsschutz ist maßgeblich, inwieweit das „Abbild“ gegenüber dem „Urbild“ durch die künstlerische Gestaltung so verselbständigt erscheint, dass das Individuelle zugunsten des Zeichenhaften der „Figur“ objektiviert ist. Handelt es sich jedoch um ein „Porträt“ des „Urbilds“, kommt es auf das Ausmaß der künstlerischen Verfremdung und darauf an, wie stark der Ruf bzw. das Andenken des Betroffenen beeinträchtigt wird. Im Fall Mephisto bestand unter den mitwirkenden Richtern Stimmengleichheit (drei zu drei Stimmen). Gemäß § 15 Abs. 4 S. 3 BVerfGG konnte deshalb nicht festgestellt werden, dass die Urteile, die das Verbot der Veröffentlichung des Romans aufrechterhalten hatten, gegen das GG verstießen. Das Verbot blieb daher bestehen. Es erscheint zweifelhaft, dass die Entscheidung heute nochmal so ergehen würde. „Mephisto“ wurde schließlich 1981 in Westdeutschland veröffentlicht.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

Jurafuchs kostenlos testen


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

G0D0FM

G0d0fMischief

31.8.2024, 14:37:49

Ist der postmortale Persönlichkeitsschutz ein „eigenständiges Grundrecht“? Weil Art. 1 I GG alleine verlangt ja im persönlichen Schutzbereich einen lebenden Menschen und ist nicht abwägbar. Der postmortale Persönlichkeitsschutz schützt jedoch lediglich den Toten, hat also einen anderen persönlichen Schutzbereich und ist insbesondere nicht absolut geschützt. Bisher habt ihr keine Aufgabe, die sauber darstellt, wie sich der postmortale Persönlichkeitsschutz in der Klausur prüfen lässt. Könnt ihr das mal näher erläutern und vielleicht generell in alle Grundrechte ein Prüfungsschema einbauen - so wie ihr es bei Art. 14 I GG schon gemacht habt.


© Jurafuchs 2024