KLASSIKER: Vaterschaftsauskunft (BVerfG, 06.05.1997)

21. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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K wuchs bei Pflegeeltern auf. Heute ist er 20 Jahre alt und verlangt vor dem Amtsgericht (AG) von seiner leiblichen Mutter (M) Auskunft über die Identität seines Vaters für etwaige Erbansprüche, aber auch aus persönlichen Gründen. M lehnt die Auskunft ab. Das AG verpflichtete M zur Auskunft.

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Einordnung des Falls

KLASSIKER: Vaterschaftsauskunft (BVerfG, 06.05.1997)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. M griff das Urteil an, aber auch das Landgericht (LG) verurteilte M, dem K Auskunft zu erteilen. M hält das für verfassungswidrig. Kann M gegen das LG-Urteil Verfassungsbeschwerde erheben?

Ja!

Das Verfassungsgericht ist zuständig für Individualverfassungsbeschwerden nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG. Tauglicher Beschwerdeführer kann jedermann, also jede grundrechtsfähige Person, sein (§ 90 Abs. 1 BVerfGG). Tauglicher Beschwerdegegenstand ist jede hoheitliche Maßnahme (§ 90 Abs. 1 BVerfGG). M hält das LG-Urteil für verfassungswidrig, es ist also die Individualverfassungsbeschwerde statthaft. M ist als natürliche Person grundrechtsfähig, also taugliche Beschwerdeführerin. Das Urteil ist ein hoheitlicher Rechtsakt (Judikativakt) und damit tauglicher Beschwerdegegenstand. M kann Verfassungsbeschwerde erheben.
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2. M rügt, sie sei durch das Urteil des LG in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) verletzt worden. Ist M beschwerdebefugt?

Genau, so ist das!

Für eine zulässige Verfassungsbeschwerde muss der Beschwerdeführer behaupten können, beschwerdebefugt zu sein (§ 90 Abs. 1 BVerfGG). Das ist der Fall, wenn er geltend machen kann, durch den Akt öffentlicher Gewalt möglicherweise unmittelbar, selbst und gegenwärtig in einem Grundrecht oder grundrechtsgleichen Recht verletzt zu sein. Ks Auskunftsverlangen gegen M bringt zwangsläufig mit sich, dass M alle sexuellen Kontakte offenlegt, die sie im gesamten Zeitraum einer möglichen Empfängnis von K mit Männern hatte. Dies bedeutet einen Eingriff in ihre Intimsphäre, die vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) geschützt ist. Ein gerichtliches Urteil betrifft die Beteiligten, die das Urteil bindet, darüber hinaus auch immer selbst, unmittelbar und gegenwärtig. Es erscheint zumindest möglich, dass das LG die Intimsphäre der M nicht hinreichend beachtet und damit verletzt hat. M ist beschwerdebefugt.

3. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, da M den Rechtsweg nicht erschöpft und den Grundsatz der Subsidiarität nicht gewahrt hat.

Nein, das trifft nicht zu!

Gemäß § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG muss ein Beschwerdeführer vor der Anrufung des BVerfG den ordentlichen Rechtsweg abschließend beschritten haben. Das ungeschriebene Subsidiaritätserfordernis besagt, dass der Beschwerdeführer bereits im fachgerichtlichen Verfahren substantiiert zu den Verfassungsverletzungen vorgetragen und alle prozessualen Möglichkeiten ergriffen haben muss, um die Verletzung zu beseitigen. M hatte gegen das AG-Urteil Berufung eingelegt, also den Rechtsweg erschöpft. Andere prozessuale Möglichkeiten gab es für sie nicht. M hatte bereits vor dem AG und LG zu einer Persönlichkeitsrechtsverletzung vorgetragen. Die Anforderungen an Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität hat sie gewahrt. Das BVerfG hatte in der letzten Randnummer angesprochen, dass es problematisch sein könnte, ob das OLG für die Berufungsentscheidung zuständig gewesen wäre, hat die Antwort darauf aber offen gelassen (RdNr. 36). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Das BVerfG hatte dies nur in einem Nebensatz festgestellt (RdNr. 13). Entsprechend solltest auch Du hier keinen Schwerpunkt legen.

4. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit das LG-Urteil M in ihren Grundrechten verletzt.

Ja!

Die Verfassungsbeschwerde ist ein subjektiviertes Rechtsverletzungsverfahren. Sie ist begründet, wenn die angegriffene hoheitliche Maßnahme in den Schutzbereich eines oder mehrerer Grundrechte ohne Rechtfertigung eingreift. Dafür muss in der Begründetheit zunächst der Schutzbereich bestimmt, dann ein Eingriff festgestellt und zuletzt eine mögliche verfassungsrechtliche Rechtfertigung geprüft werden. Liegt ein ungerechtfertigter Eingriff vor, ist die Verfassungsbeschwerde begründet. Das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz, das bedeutet in der Begründetheit wird das Urteil nicht fachgerichtlich überprüft, sondern nur auf Verfassungsverstöße: (1) Hat das Gericht die Anwendbarkeit der Grundrechte verkannt? (2) Hat das Gericht willkürliche, sachfremde Erwägungen angestellt? (3) Hat das Gericht Justizgrundrechte verletzt?

5. Das Urteil des LG greift in Ms allgemeines Persönlichkeitsrecht ein.

Genau, so ist das!

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt nicht das Tun, sondern das Sein des Menschen. Es ist ein von der Rechtsprechung entwickeltes Institut, welches den autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, die persönliche Entwicklung und die Individualität schützen soll. Ein Eingriff ist jede staatliche Verkürzung des Schutzbereichs. Der autonome Bereich privater Lebensgestaltung erfasst auch das Recht auf Achtung der Intimsphäre, z.B. der geschlechtlichen Beziehungen zu einem Partner (RdNr. 15). Das allgemeine Persönlichkeitsrecht erfasst nicht nur die Freiheit für solche privaten Angelegenheiten, sondern auch die Befugnis, selbst darüber zu entscheiden, inwieweit und gegenüber wem solche Lebenssachverhalte offenbart werden (RdNr. 15). Durch die Verpflichtung, K Auskunft zu geben, mit wem sie Geschlechtsverkehr hatte, griff das LG in dieses Recht von M ein.

6. Wie die Menschenwürde ist auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht vorbehaltlos und schrankenlos gewährleistet.

Nein, das trifft nicht zu!

Zur Ermittlung, ob ein Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, muss bestimmt werden, ob und wodurch in ein Grundrecht eingegriffen werden kann (sogenannte Schranke). Zu unterscheiden sind verfassungsunmittelbare Schranken, einfache Gesetzesvorbehalte, qualifizierte Gesetzesvorbehalte und verfassungsimmanente Schranken. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ergibt sich aus der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) mit einem einfachen Gesetzesvorbehalt und der unantastbaren Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Daraus ergibt sich, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht nur durch formelles Parlamentsgesetz einschränkbar ist, wenn es dem überwiegenden Allgemeininteresse dient und die Verhältnismäßigkeit wahrt (RdNr. 16). Unter Beachtung des Menschenwürdekerns kann das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht eingeschränkt werden, soweit der unantastbare Bereich privater Lebensgestaltung betroffen ist (RdNr. 16).

7. Das LG hat Ks Auskunftsanspruch auf § 1618a BGB i.V.m. Art. 6 Abs. 5, 2 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG als Schranke gestützt. Handelt es sich dabei um unzulässige Rechtsfortbildung?

Nein!

Das BGB sieht keinen ausdrücklichen Anspruch des Kindes gegen die Mutter auf Benennung seines Vaters vor. Ein solcher Anspruch wurde früher auch von der Rechtsprechung verneint (RdNr. 20). Das LG hat also eine eigene Rechtsgrundlage erschaffen (§§ 1618a BGB i.V.m. Art. 6 Abs. 5, 2 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG). Das ist wegen der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) zwar problematisch, allerdings müssen Richter auch materielle Einzelfallgerechtigkeit herstellen. Deshalb dürfen Richter das Recht in gewissen Grenzen selbst fortbilden. Diese Grenzen sind (1) die des Grundgesetzes, das teilweise richterliche Rechtsfortbildung verbietet (Beispiel: Art. 103 Abs. 2 GG) und (2) die des Gesetzgebers, der manchmal eindeutige Entscheidungen gegen eine Rechtserweiterung trifft. Das LG hatte sich bei der Schaffung der Anspruchsgrundlage mit der früheren Rechtsprechung auseinandergesetzt und § 1618a BGB historisch und teleologisch ausgelegt. Es ist ohne Überschreitung der genannten Grenzen zu einer Rechtsfortbildung im Zusammenspiel mit den Grundrechten gekommen (RdNr. 22).

8. Das LG hat Ms allgemeines Persönlichkeitsrecht mit Ks Rechten aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 14 Abs. 1, Art. 6 Abs. 5 GG abgewogen und damit die anwendbaren Grundrechte erkannt.

Genau, so ist das!

Der Eingriff in ein Grundrecht durch ein gerichtliches Urteil kann nicht gerechtfertigt sein, wenn das Gericht die Anwendbarkeit eines Grundrechts übersieht, das auf der einen oder der anderen Seite in die Abwägung einbezogen werden muss. Zugunsten M greift das allgemeine Persönlichkeitsrecht, welches ihre Intimsphäre schützt. Zugunsten K greifen das allgemeine Persönlichkeitsrecht in der Fallgruppe der Kenntnis der eigenen Abstammung, die Eigentumsfreiheit zum Schutz etwaiger Erbansprüche und die Garantie aus Art. 6 Abs. 5 GG, dass uneheliche Kinder dieselben Voraussetzungen für Entwicklung und Stellung in der Gesellschaft haben müssen, wie in eine Ehe geborene Kinder. Das LG hat alle relevanten Grundrechte erkannt. Das bedeutet, dass die Frage, ob K einen Auskunftsanspruch gegen M hat, von einer Grundrechtsabwägung abhängt (RdNr. 24). In dieser Abwägung hat das Gericht einen weiten Spielraum (RdNr. 23). Keines der relevanten Grundrechte begründet einen prinzipiellen Vorrang des einen oder des anderen Interesses (RdNr. 25-27).

9. Aus Ms allgemeinem Persönlichkeitsrecht ergibt sich eine Schutzpflicht des Staates gegenüber M, die der Staat nur erfüllen kann, indem er sich schützend vor M stellt und Ks Auskunftsanspruch ablehnt.

Nein, das trifft nicht zu!

Die meisten Grundrechte enthalten zwei Gewährleistungen: ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe und eine staatliche Schutzpflicht. Das Abwehrrecht fordert ein bestimmtes staatliches Verhalten oder Unterlassen. Die Schutzpflicht ist dagegen eine unbestimmte, der Staat hat verschiedene Möglichkeiten, den Schutz zu verwirklichen (RdNr. 29). Konkrete Reglungspflichten sind die Ausnahme: Es kommt regelmäßig auf den individuellen Einzelfall an (RdNr. 31). Der Schutzpflicht wird nicht pauschal mit immer derselben Maßnahme genügt. Für das Bestehen einer Schutzpflicht sind die Anforderungen strenger als für das Abwehrrecht gegen den Staat. Die Schutzpflicht muss durch den Gesetzgeber konkretisiert werden, indem dieser bereits im Vorfeld eine Abwägung trifft (RdNr. 30). Im Falle der richterlichen Rechtsfortbildung kommt diese Aufgabe dem Gericht zu (RdNr. 31).

10. Das LG hatte den Interessen des K ohne konkrete Abwägung Vorrang vor Ms Persönlichkeitsrecht gegeben, unter anderem deshalb, weil K die Interessenkollision nicht zu vertreten habe. Ist dies verfassungsgemäß?

Nein!

Nach dem oben Gesagten muss das Gericht die Interessen des K (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG, Art. 14 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 5 GG) mit dem Interesse der M (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG) in Ausgleich bringen und die Schutzpflicht gegenüber M konkretisieren. Die Abwägung muss ergebnisoffen sein. Nach einer einwandfreien Abwägung ist jedes Ergebnis vertretbar. Das LG hatte seinen Abwägungsspielraum verkannt und Ks Auskunftsanspruch pauschal den Vorrang gegeben. Es vertrat, eine Abwägung mit Ms Interessen sei nur in engen Grenzen zulässig, da K die Interessenkollision nicht verursacht habe (RdNr. 33). Daher hat das LG die M in ihrem Persönlichkeitsrecht verletzt (RdNr. 34). Ms Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das bedeutet nicht automatisch, dass K keinen Auskunftsanspruch gegen M hat. Die Sache wurde an das LG zurückverwiesen, weil nicht auszuschließen ist, dass das LG bei Ausschöpfung des Spielraums zu einem anderen Ergebnis käme (RdNr. 35f). Es muss jetzt eine echte Abwägung vornehmen. Hiernach sind beide Ergebnisse vertretbar.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Mi. S.

Mi. S.

19.8.2024, 18:53:31

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