Selbstleseverfahren, § 249 Abs. 2 StPO

22. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A wird unverteidigt verurteilt. Eine umfangreiche Urkunde wurde im Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 StPO) in die Verhandlung eingeführt, wobei A nicht widersprach. In der Revision macht As neue Verteidigerin geltend, dies sei unzulässig gewesen, denn A sei - was zutrifft - Analphabet.

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Einordnung des Falls

Selbstleseverfahren, § 249 Abs. 2 StPO

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Grundsätzlich darf nur derjenige Prozessstoff im Urteil verwertet werden, der mündlich in die Verhandlung eingeführt wurde (§ 261 StPO).

Ja!

Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht gemäß § 261 StPO nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung. Nur der mündlich vorgetragene und erörterte Prozessstoff darf dem Urteil zugrunde gelegt werden.
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2. Der Mündlichkeitsgrundsatz (§ 261 StPO) ist hier durch die Verwertung der Urkunde im Urteil bereits verletzt, da eine Urkunde immer durch Verlesung eingeführt werden muss (§ 249 StPO).

Nein, das ist nicht der Fall!

Grundsätzlich sind Urkunden zum Zweck der Beweiserhebung über ihren Inhalt in der Hauptverhandlung zu verlesen (§ 249 Abs. 1 S. 1 StPO). Das Gericht kann aber nach pflichtgemäßem Ermessen die Einführung im Selbstleseverfahren anordnen, wenn die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde Kenntnis genommen haben und die übrigen Beteiligten hierzu Gelegenheit hatten (§ 249 Abs. 2 S. 1 StPO).Der Vorsitzende konnte hier also grundsätzlich zulässigerweise die Einführung im Selbstleseverfahren anordnen. Insbesondere muss er hierfür nicht die Zustimmung der Beteiligten herbeiführen (§ 249 Abs. 2 StPO).Das Selbstleseverfahren dient gerade bei umfangreichen Urkunden der Verfahrensvereinfachung und gibt zu diesem Zweck den Mündlichkeitsgrundsatz bei Urkunden quasi auf.

3. A ist Analphabet und konnte die Urkunde nicht selbst lesen. In diesem Fall ist die Einführung im Selbstleseverfahren immer unzulässig.

Nein, das trifft nicht zu!

Der Vorsitzende bestimmt nach pflichtgemäßem Ermessen, ob ein Selbstleseverfahren durchzuführen ist. Dabei sind auch Anhaltspunkte für Analphabetismus in die Erwägungen einzubeziehen. Auch in diesen Fällen kann ein Selbstleseverfahren zulässig sein. Außer die Richter kann auch jeder Verfahrensbeteiligte darauf verzichten, vom Inhalt der Urkunden Kenntnis zu nehmen. Verzichtet der Angeklagte nicht, kann der Inhalt gegebenenfalls durch einen hierzu bereiten Verteidiger zur Kenntnis gebracht werden, sonst auf andere Weise. Es ist dem Strafprozessrecht auch sonst nicht fremd, dass erforderlichenfalls Urkunden vorgelesen werden (vgl. § 35 Abs. 3 StPO).

4. Vorliegend war die Einführung im Selbstleseverfahren aber unzulässig (§ 249 Abs. 2 StPO).

Ja!

Der Vorsitzende hat im Rahmen des pflichtgemäßem Ermessens auch Anhaltspunkte für Analphabetismus in die Erwägungen einzubeziehen. Verzichtet der Angeklagte nicht auf die Kenntnisnahme des Inhalts, kann dieser gegebenenfalls durch einen hierzu bereiten Verteidiger zur Kenntnis gebracht werden, sonst auf andere Weise.A kann nicht lesen. Dass er vom Inhalt des Urteils im Selbstleseverfahren Kenntnis nehmen konnte, ist ausgeschlossen. Es ist nicht ersichtlich, dass das Gericht darauf hinwirkte, dass A auf andere Weise Kenntnis vom Inhalt erlangte oder dass A tatsächlich diese Kenntnis erlangte. Auch verzichtete er nicht ausdrücklich auf die Kenntnisnahme. Damit war die Einführung unzulässig und die Urkunde durfte dem Urteil nicht zugrunde gelegt werden (§ 261 StPO).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

HAMD

Hamdi

25.7.2024, 09:35:55

Da es sich hier um eine verfahrensleitende Maßnahme des Vorsitzenden zu handeln scheint, habe ich mich gefragt, wie es mit § 238 Abs. 2 StPO und einer

Rügepräklusion

aussieht?

JURAFU

jurafuchsles

26.7.2024, 10:04:12

Wenn es um die Art und Weise der Durchführung des

Selbstleseverfahren

s geht muss eine Rüfe nach §

238 II StPO

erhoben werden, um in der Revision eine Verfahrensrüge geltend zu machen (Meyer-Goßner/Schmitt § 249 Rn. 32). Der Anordnung des

Selbstleseverfahren

s nach II muss nach S. 2 widersprochen werden um den Verstoß später als Verfahrensrüge geltend zu machen (Rn. 31).


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A wird wegen Untreue verurteilt. Laut Protokoll werden im Prozess 30 Leitz-Ordner voll mit Kontoauszügen „mit A erörtert und in Augenschein genommen”, nicht aber als Urkunden verlesen. A bestätigt den Inhalt der Urkunden. Später rüft er, sie seien nicht ordnungsgemäß eingeführt worden.

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