+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration: T läuft mit einem Messer auf A zu. F eilt mit einem Golfschläger auf T zu, um T abzuhalten.
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Klassisches Klausurproblem

Damit A ihre Schulden zahlt, nimmt T As Handy weg. A verspricht T daraufhin, ihn abends zu bezahlen. A plant mit F, die T schon länger eine Abreibung verpassen will, T in eine Falle locken. Als A abends nicht zahlt, beginnt T sie zu würgen. Allein um T zu schädigen, springt F nun hervor und attackiert T. Ohne Vorwarnung zückt T ein Messer und sticht zu. F wird am Hals getroffen und überlebt knapp.

Einordnung des Falls

Diese Entscheidung behandelt die Einschränkung des Notwehrrechts innerhalb der Gebotenheit. Dieses ist eingeschränkt, wenn der Angriff leichtfertig provoziert wurde. Der notwehrberechtigende Angriff müsse bei vernünftiger Würdigung der gesamten Umstände des Einzelfalls als eine adäquate und voraussehbare Folge der Provokation des Angegriffenen erscheinen. Die Provokation selbst müsse sozialethisch zu missbilligen sein und in einem engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang zum Angriff stehen.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Hat T den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung erfüllt, indem er mit dem Messer auf F einstach (§§ 223 Abs.1, 224 Nr. 2 Alt. 2, Nr. 5 StGB)?

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Ja!

Die gefährliche Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 StGB) ist eine Qualifikation zur einfachen Körperverletzung (§ 223 Abs.1 StGB). § 224 Abs. 2 Var. 2 StGB setzt voraus, dass es sich bei dem Tatinstrument um ein anderes gefährliches Werkzeug handelt. Dies ist der Fall, wenn es nach der konkreten Art der Verwendung geeignet ist, erhebliche Verletzungen hervorzurufen. Eine lebensgefährliche Behandlung liegt nach überwiegender Ansicht vor, wenn sie nach den Umständen des Einzelfalls generell geeignet ist, das Opfer in Lebensgefahr zu bringen. T stach mit einem Messer auf Fs Hals ein, wodurch diese lebensbedrohlich verletzt wurde. Das Messer hatte keine ursprüngliche Verletzungswidmung, sodass es sich zwar nicht um eine Waffe, aber um ein anderes gefährliches Werkzeug handelt.

2. Sind die Messerstiche des T gerechtfertigt, wenn er in Notwehr gehandelt hat (§ 32 StGB)?

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Genau, so ist das!

Der Rechtfertigungsgrund der Notwehr setzt (1) einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff (Notwehrlage) sowie (2) eine erforderliche und gebotene Verteidigungshandlung (Notwehrhandlung), die (3) von einem Verteidigungswillen gedeckt ist, voraus. Das Notwehrrecht dient dem Interesse des Einzelnen an einem effektiven Rechtsgüterschutz und verfolgt zudem generalpräventive Zwecke: Jeder erfolgreich abgewehrte Angriff zeigt, dass die Rechtsordnung nicht risikolos verletzt werden kann.

3. Lag zum Zeitpunkt der Messerstiche ein gegenwärtiger Angriff der F auf T vor?

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Ja, in der Tat!

Ein Angriff ist jede durch menschliches Verhalten drohende Verletzung rechtlich geschützter Güter oder Interessen. Er ist gegenwärtig, wenn er unmittelbar bevorsteht, begonnen hat oder noch andauert. F attackierte T und bedrohte so seine körperliche Unversehrtheit. In dem Moment, als T auf F einstach, dauerte der Angriff noch an.

4. War F jedoch ihrerseits durch Nothilfe gerechtfertigt, sodass es an einem rechtswidrigen Angriff fehlte?

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Nein!

Ein Fall der Nothilfe liegt dann vor, wenn ein Mensch einen rechtswidrigen und gegenwärtigen Angriff auf einen anderen Menschen abwehrt.Die Nothilfe hat dieselben Voraussetzungen wie die Notwehr, sodass neben einem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff noch eine von einem Verteidigungswillen umfasste Verteidigungshandlung vorliegen muss. Der Helfende handelt mit Verteidigungswille, wenn er Kenntnis von der Notwehrlage hat und mit Abwehrvorsatz handelt. Er muss mithin den Wille haben dem Angriff entgegenzutreten. A und F lockten den T bewusst in eine Falle um ihn zu attackieren. F handelte einzig um dem T Schaden zuzufügen und handelte somit selbst mit Angriffswillen. Es mangelte ihr am Verteidigungswillen.

5. War der Einsatz des Messers erforderlich?

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Genau, so ist das!

Eine Notwehrhandlung ist erforderlich (§32 Abs.2 StGB), wenn sie geeignet ist, den Angriff zu beenden und Art und Maß der Verteidigungshandlung der drohenden Gefahr entsprechen, d.h. die vom Täter gewählte Verteidigung das mildeste unter gleich tauglichen Mitteln ist (sog. Erforderlichkeit im engeren Sinne). Der Angegriffene muss sich nicht auf das Risiko einer unzureichenden Abwehrhandlung einlassen ("das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen"). Ein vorheriges Androhen des Messereinsatzes war T in der Kürze der Zeit nicht möglich. Ein Stich in weniger sensible Bereiche wäre nicht gleich geeignet gewesen.

6. Könnte der Messereinsatz aufgrund der vorangegangenen Wegnahme des Handys und dem Würgen der A nicht geboten gewesen sein?

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Ja, in der Tat!

Eine schuldhafte Provokation kann über das Merkmal der Gebotenheit zur Einschränkung des Notwehrrechts führen. BGH: Ein provozierter Angriff liege vor, wenn bei vernünftiger Würdigung aller Umstände des Einzelfalls der Angriff als adäquate und vorhersehbare Folge der Pflichtverletzung des Angegriffenen erscheint Dazu müsse die Notwehrlage durch ein rechtswidriges, jedenfalls aber sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten des Angegriffenen verursacht worden sein. Es müsse zudem ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang und ein motivatonaler Zusammenhang bestehen (RdNr. 9).

7. Müsste zunächst ein enger zeitlich-räumlicher Zusammenhang zu Fs späterem Angriff bestanden haben, damit die Wegnahme des Handys am Mittag eine Angriffsprovokation darstellt?

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Ja!

Zwischen dem jedenfalls sozialethisch zu missbilligendem Vorverhalten des Angegriffenen und dem rechtswidrigen Angriff muss zunächst ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang bestehen. In die Beurteilung ist auch ein der unmittelbaren Tatsituation vorausgehendes Verhalten des Angegriffenen miteinzubeziehen. Allerdings darf keine zeitliche Zäsur eingetreten sein. Dies ist der Fall, wenn die zuvor erfolgte Provokation bereits komplett abgeschlossen ist. Gegen einen räumlich-zeitlichen Zusammenhang spricht, dass die Wegnahme mittags, Fs Angriff dagegen erst am Abend und an einem anderen Ort erfolgte. Für einen hinreichenden Zusammenhang spricht, dass die Wegnahmehandlung noch fortwirkt.Der BGH ließ diese Frage zunächst offen.

8. Besteht zwischen der Wegnahme des Handys bzw. dem Würgen der A und Fs Angriff auf T ein hinreichender motivationaler Zusammenhang?

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Nein, das ist nicht der Fall!

Eine Einschränkung der Notwehr wegen eines schuldhaft provozierten Angriffs setzt voraus, dass neben einem engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang auch ein motivatonaler Zusammenhang zur Provokation besteht. Ein motivatonaler Zusammenhang setzt voraus, dass die Pflichtverletzung des Angegriffenen zum Verhalten des Angreifers beigetragen hat. F wollte T schon länger eine Abreibung verpassen. Ausschlaggebend für ihren Angriff waren ausweislich des Sachverhaltes weder die Wegnahme des Handys, noch das Würgen der A. Es fehlt insoweit an einem motivationalen Zusammenhang. Es liegt somit keine Angriffsprovokation vor, weswegen der Messereinsatz auch geboten war.

9. Handelte T mit Verteidigungswillen?

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Ja, in der Tat!

Der Angegriffene handelt mit Verteidigungswille, wenn er Kenntnis von der Notwehrlage hat und mit Abwehrvorsatz handelt. Er muss mithin den Wille haben dem Angriff entgegenzutreten.T war sich des Angriffes bewusst. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass T eine andere Motivation hatte, als sich zu verteidigen. Somit erfolgte der Messereinsatz gerechtfertigt (§ 32 StGB).Im Originalfall waren noch zahlreiche Sachverhaltsfragen offen. Bei der Zurückverweisung wies der BGH daraufhin, dass selbst bei Annahme einer Angriffsprovokation und einem Scheitern der Rechtfertigung noch § 33 StGB zu prüfen sei. Denn die Notwehrüberschreitung komme auch im Fall einer Angriffsprovokation in Betracht (RdNr. 22).

Prüfungsschema

Wie prüfst Du die Rechtfertigung wegen Notwehr (§ 32 StGB)?

  1. Notwehrlage
    1. Angriff
    2. Gegenwärtigkeit
    3. Rechtswidrigkeit
  2. Notwehrhandlung
    1. Erforderlichkeit
    2. Gebotenheit
  3. Subjektives Rechtfertigungselement ("Verteidigungswille")

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BBE

bibu knows best

17.6.2022, 08:45:12

Wie wäre es denn, wenn die beiden Frauen sich nur darauf verständigt hätten, das Handy der F friedlich wieder zu beschaffen? Wenn man davon ausgeht, dass die F dem T mittags körperlich unterlegen war und sich deshalb nicht dagegen wehren konnte. - Und nur für den Fall, dass die Situation aus den Ruder läuft, die F der A zu Hilfe kommt?

PPAA

Philipp Paasch

17.6.2022, 11:12:48

Hi bibu knows best. Es ist das Handy der F (surely a typo). Wenn die F A nur zur Hilfe geeilt wäre, weil von T Tätlichkeiten ausgingen, handelt es sich um einen Fall der Nothilfe § 32 StGB. Dann wäre F gerechtfertigt, und T wäre verpflichtet, die ihr zumutbaren Angriffe der F zu dulden, bzw. auszuweichen oder zu flüchten. Hätten die beiden Frauen sich vorher darauf verständigt, gäbe es insofern keinen Unterschied, da ja nach der Strafbarkeit der T gefragt ist.

BBE

bibu knows best

17.6.2022, 19:53:51

Danke für deine Antwort erstmal :) und wie sähe es mit der Strafbarkeit von F aus?

PPAA

Philipp Paasch

17.6.2022, 21:05:16

Gerne :) die F ist gerechtfertigt, soweit und solange sie die Grenzen der Nothilfe nicht überschreitet (das hatte ich oben auch bereits geplappert). Überschreitet sie sie intensiv (nach einer m.M. auch extensiv) aus asthenischen Affekten wie Furch, Verwirrung oder Schrecken, wäre sie zumindest noch entschuldigt. Dann aber könnte T wiederum gerechtfertigt handeln, da er sich grundsätzlich gegen entschuldigt Handelnde verteidigen darf. 🤠

PPAA

Philipp Paasch

17.6.2022, 21:05:40

*Furcht

RAP

Raphaeljura

22.4.2023, 02:47:59

Das bedeutet man kann sich im Zweifelsfall wenn die Rechtfertigung nach Paragraph 32 ausscheidet (zb Absichtsprovokation), in den Paragraph 33 retten. Ist der 33 restriktiv auszulegen? Denkbar wäre ja dass im brühmten Bagatellfall bei dem der Rentner auf Kinder schießt die Obst von Bäumen klauen, es über 33 straflos wird. Es genügt ja wohl das man sich erschrickt...

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

25.4.2023, 13:47:11

Hallo Raphael, in der Praxis hat § 33 StGB tatsächlich auch die Funktion als Auffangnorm gefunden, gerade wenn hinsichtlich des Sachverhalts Unsicherheiten bestehen, ob die Verteidigungshandlung tatsächlich erforderlich ist (MüKoStGB/Erb, 4. Aufl. 2020, StGB § 33 Rn. 4). Gerade bei der Absichtsprovokation ist die Norm aber sehr restriktiv anzuwenden. Denn wenn man den Angriff herausfordert ist dieser für den Angegriffenen an sich nicht unerwartet, sodass hier nur wenig Raum für Angst und Schrecken verbleibt. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

KI

kim.

31.1.2024, 21:36:27

Den lebensbedrohlichen Stich in den Hals mit der Begründung als erforderlich zu bezeichnen, ein Stich in weniger sensible Bereiche wäre weniger wirksam gewesen, halte ich für sehr gewagt. Ein Stich in den Hals ist mit hoher Wahrscheinlichkeit tödlich, ein Stich in den Arm hätte es da sicher auch getan.

Juratiopharm

Juratiopharm

10.4.2024, 14:22:06

Auf diese unsichere Möglichkeit muss sich der Notwehrberechtigte aber grundsätzlich grade nicht einlassen.


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