Verhältnis von Grundrechten des GG und Grundrechten der EU-GrCh ("Recht auf Vergessen I")


mittel

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B begehrt vom S-Verlag, es zu unterlassen, über seine Straftat aus dem Jahr 1981 unter Nennung seines Nachnamens zu berichten. B wurde 2002 aus der Haft entlassen, die entsprechenden Berichte sind online weiterhin verfügbar. Vor den Fachgerichten bleibt B erfolglos.

Einordnung des Falls

Verhältnis von Grundrechten des GG und Grundrechten der EU-GrCh ("Recht auf Vergessen I")

Dieser Fall lief bereits im 1./2. Juristischen Staatsexamen in folgenden Kampagnen
Examenstreffer 2021
Examenstreffer BaWü 2021

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Neben den Grundrechten des Grundgesetzes findet stets auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh) Anwendung.

Nein, das trifft nicht zu!

Innerstaatliches Recht und dessen Anwendung sind nur dann am Maßstab der GrCh zu messen, wenn die „Durchführung von Unionsrecht“ (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh) in Frage steht. BVerfG: Die GrCh errichte somit gerade keinen umfassenden Grundrechtsschutz für die gesamte EU. Wenn aber der Anwendungsbereich der GrCh eröffnet ist, könne es im Einzelfall zu einer gleichzeitigen Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte neben den Grundrechten des GG kommen (RdNr. 43f.).

2. Der vorliegende Fall betrifft aufgrund des erkennbaren Bezugs zum europäischen Datenschutzrecht die „Durchführung von Unionsrecht“ (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh).

Ja!

BVerfG: Der Fall befinde sich jedenfalls im weiteren Anwendungsbereich des Unionsrechts, nämlich ursprünglich der Datenschutzrechtlinie 95/46/EG und heute der DS-GVO. Die Verarbeitung personenbezogener Daten zu journalistischen Zwecken falle in den Bereich des sog. Medienprivilegs (Art. 85 Abs. 2 DS-GVO), für dessen Ausgestaltung den Mitgliedstaaten nach wie vor ein Umsetzungsspielraum zusteht (RdNr. 39, 74). Somit treten die Unionsgrundrechte zu den Grundrechtsgewährleistungen des GG hinzu (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh).

3. Beurteilungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG) sind grundsätzlich die Grundrechte des Grundgesetzes.

Genau, so ist das!

Richtig – innerstaatliches Recht und dessen Anwendung prüft das BVerfG grundsätzlich am Maßstab der Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte des Grundgesetzes (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG).

4. Ob Fälle im Anwendungsbereich des Unionsrechts vom BVerfG trotzdem am Maßstab des GG geprüft werden, hängt davon ab, ob sie durch das Unionsrecht vollständig determiniert sind.

Ja, in der Tat!

BVerfG: Wenn das Unionsrecht zwar einschlägig, aber die Rechtslage hiervon nicht vollständig determiniert ist, bleiben die nationalen Grundrechte für das BVerfG Prüfungsmaßstab. Wenn deutsche Staatsgewalt aufgrund eigenen Entschlusses ausgeübt wird, müsse auch deren Bindung an das GG „als Korollar der politischen Entscheidungsverantwortung“ gegeben sein (RdNr. 42). Dies ergebe sich auch aus Art. 23 Abs. 1 GG, der die EU zur Wahrung föderative Grundsätze und dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet (RdNr. 47). Dort, wo das Unionsrecht mitgliedstaatliche Gestaltungsspielräume einräumt, ziele es gerade nicht auf einen einheitlichen Grundrechtsschutz (RdNr. 54).

5. Der Anwendbarkeit des GG als Prüfungsmaßstab des BVerfG im nicht vollständig determinierten Bereich steht jedoch der Anwendungsvorrang des Unionsrechts entgegen.

Nein!

Aus der Sicht des BVerfG bestehe in solchen Fällen gerade keine Konfliktsituation. Zum einen bleibe die GrCh kumulativ anwendbar und die Grundrechte des GG seien im Lichte der GrCh auszulegen (RdNr. 60ff.). Zum anderen bestehe eine Vermutung für die Mitgewährleistung des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes bei Wahrung der nationalen Grundrechte, insbesondere aufgrund der EMRK als „gemeinsames Fundament“ (RdNr. 55ff.). Sollten die gebotenen Grundrechtsstandards wiederum unterschritten werden, sei innerstaatliches Recht im nicht vollständig determinierten Bereich unmittelbar an der GrCh zu prüfen (RdNr. 63ff.).

6. Der vorliegende Fall ist vom BVerfG nach den Grundrechten des GG zu beurteilen.

Genau, so ist das!

Der Fall befindet sich aufgrund seiner datenschutzrechtlichen Komponente zwar im weiteren Anwendungsbereich des Unionsrechts, jedoch fallen die entscheidungserheblichen Vorschriften in einen Regelungsbereich, für den das Unionsrecht den Mitgliedstaaten einen Gestaltungsspielraum einräumt (vgl. Art. 85 DS-GVO). Damit handelt es sich um einen nicht vollständig unionsrechtlich determinierten Bereich, sodass die Grundrechte des GG Prüfungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde sind (RdNr. 74). Konkrete und hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass das grundrechtliche Schutzniveau des Unionsrechts ausnahmsweise nicht gewährleistet ist, bestehen nicht.

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JUR

Juri

14.9.2020, 17:18:54

Oben in der Antwort mal „KorrelaT“ statt „Korrelar“

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

14.9.2020, 17:47:02

Hallo D, das BVerfG (Rn. 42 auf der Website) schreibt selbst "Korollar". Dabei handelt es sich um einen Satz, der aus einem bewiesenen Satz folgt bzw. von ihm abgeleitet wird.

JUR

Juri

12.1.2021, 15:42:50

Na da sieh an, spannend! Wieder was gelernt!

Melanie 🐝

Melanie 🐝

13.9.2021, 17:12:26

Thema Verhältnis GrCH und Grundrechte bei Prüfung des BVerfG waren Thema der Examensklausur 2021 im Herbst in Bawü

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

14.10.2021, 10:32:05

Vielen Dank für den Hinweis, Melanie! Das wird direkt getagged :) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

FL

Flohm

7.7.2023, 11:56:50

Woran erkennt man, ob es sich um volldeterminiertes Recht handelt oder nicht?

GO

GO

18.2.2024, 19:16:52

Hallo @Flohm, dies erkennt man daran, ob zb den Mitgliedsstaaten zur Umsetzung der jeweiligen Richtlinie ein Ermessensspielraum eingeräumt wurde oder nicht. Also wenn die Mitgliedsstaaten die Richtlinie genau so in ihr einfaches Gesetz übernehmen ohne es zu "verändern" liegt ein vollständig determiniertes Recht vor.

Whale

Whale

10.6.2024, 11:56:49

Bedeutet eine Vollharmonisierung, sodass für den Mitgliedstaat kein Entscheidungsspielraum mehr besteht, auch eine vollständige Determinierung, sodass nur die GRCh angewandt (Anwendungsvorrang) werden darf?

JO

Johannes99

10.6.2024, 19:10:28

Ja, bedeutet es. Ansonsten könnte das vollharmonisierende EU-Recht am Maßstab des Grundgesetzes überprüft werden, was im Hinblick auf den Anwendungsvorrang und dem effet utile problematisch wäre. Grundlegend zur Thematik sind auch die „Recht auf Vergessen“-Entscheidungen des BVerfG

Whale

Whale

10.6.2024, 11:58:23

Ich habe leider nicht verstanden, in welchen Fällen nun eine kumulative Anwendung der GRCh und der Grundrechte aus dem GG möglich ist :( alles etwas verwirrend

LI

Lilyphant

17.7.2024, 12:53:12

Also, wenn ich das richtig verstanden habe, wendet das BVerfG grundsätzlich das GG an. Wenn jedoch ein Bereich des Unionsrechtes betroffen ist, findet auch die GR-Charta Anwendung. Ist der Bereich dabei dann vollständig vom Unionsrecht determiniert, findet NUR die GR-Charta Anwendung. Besteht weiterhin ein Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten, sind die nationalen Grundrechte im Lichte der GR-Charta auszulegen.

Whale

Whale

17.7.2024, 12:57:18

Danke! Das ist echt eine gute Zusammenfassung! Ich frage mich nur wie diese "kumulative" Anwendung in der Klausur aussehen soll, falls Unionsrecht betroffen ist, der Bereich aber nicht vollständig unionsrechtlich determiniert ist.

LI

Lilyphant

18.7.2024, 16:44:16

Nach dem ersten Gefühl würde ich wahrscheinlich im sachlichen Schutzbereich schreiben, dass die nationalen Grundrechte in einer solchen Konstellation anhand der unionsrechtlichen Grundrechte auszulegen sind und dann bei der Bestimmung des Schutzbereiches im Wege der Auslegung auch auf die GR-Charta verweisen. Dann bei der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung im Rahmen der Abwägung, wenn die Charta dort zur Argumentation herangezogen werden kann. Aber bisher ist es mir zum Glück erspart geblieben, so eine Klausur wirklich schreiben zu müssen, deshalb kann ich es nicht mit Sicherheit sagen.


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