Ersatzfähiger Schaden infolge versehentlicher Übermittlung einer Selbstanzeige durch Rechtsanwalt


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Mandantin M beauftragt Rechtsanwalt R, eine Selbstanzeige gegenüber dem Finanzamt vorzubereiten und zu verwahren. Durch ein Büroversehen wird die Anzeige absprachewidrig sofort dem Finanzamt übermittelt. M muss Steuern nachzahlen (€70.000). Sie verlangt von R Schadensersatz.

Einordnung des Falls

Ersatzfähiger Schaden infolge versehentlicher Übermittlung einer Selbstanzeige durch Rechtsanwalt

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Zwischen M und R besteht ein Schuldverhältnis, sodass eine Haftung des R nach § 280 Abs. 1 BGB möglich ist.

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Genau, so ist das!

Wird ein Rechtsanwalt mit einer Beratungstätigkeit beauftragt, kommt zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten ein Vertrag zustande, bei dem es sich in der Regel um einen entgeltlichen Geschäftsbesorgungsvertrag mit Dienstvertragscharakter handelt (Werkvertrag nur bei Einzelauskunft oder Gutachten). BGH: Indem M den R mit der Vorbereitung einer Selbstanzeige beauftragt habe, wurde zwischen ihnen ein wirksamer Anwaltsvertrag (§§ 675 Abs. 1, 611 Abs. 1 BGB) geschlossen (RdNr. 9).

2. Ein Rechtsanwalt begeht eine Pflichtverletzung (§ 280 Abs. 1 BGB), wenn er die Weisung des Mandanten missachtet.

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Ja, in der Tat!

Das geschuldete Pflichtenprogramm des Anwaltsvertrags umfasst die umfassende Belehrung des Mandanten, Sachverhaltsklärung, rechtliche Prüfung, die Wahl des sichersten Weges im Mandanteninteresse und die Einhaltung von Weisungen des Mandanten. BGH: Weicht der Rechtsanwalt von einer Weisung des Mandanten ab, liege darin eine Pflichtverletzung. Vereinbarungsgemäß sollte R die Anzeige verwahren. Die Zuleitung an das Finanzamt sollte gerade noch nicht erfolgen (RdNr. 11ff.).

3. Die Nachzahlung in Höhe von €70.000 ist ein durch die Pflichtverletzung äquivalent und adäquat kausal hervorgerufener Vermögensnachteil.

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Ja!

Vermögensschäden sind nach der Differenzhypothese (§ 249 Abs. 1 BGB) zu ermitteln. Der Schaden bestimmt sich nach einem Vergleich zwischen der durch das schädigende Ereignis geschaffenen Vermögenslage mit derjenigen, die ohne dieses Ereignis eingetreten wäre. BGH: Wird die Versendung der Selbstanzeige hinweggedacht, hätte das Finanzamt M nicht mit der Steuernachzahlung belastet (äquivalente Kausalität). Wegen vielfältiger Möglichkeiten eines Büroversehens, das nicht immer vermeidbar wäre, sei die irrtümliche Versendung auch nicht völlig unwahrscheinlich (adäquate Kausalität) (RdNr. 19ff.).

4. Wenn anzunehmen ist, dass es im Mandanteninteresse liegt, darf der Rechtsanwalt eigenständig von den Anweisungen des Mandanten abweichen.

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Nein, das ist nicht der Fall!

Der Rechtsanwalt muss den sichersten Weg aufzeigen und bei Weisungen über entgegenstehende Bedenken belehren. Auch muss er auf den Sinn der Weisung achten und verhindern, dass dem Mandanten durch deren strikte Befolgung Nachteile entstehen. Er ist berechtigt, von den Weisungen abzuweichen, wenn er annehmen darf, dass der Mandant bei Kenntnis der Sachlage die Abweichung billigen würde (§§ 675 Abs. 1, 665 S. 1 BGB). Aber er muss vor der Abweichung Rücksprache mit dem Mandanten halten und dessen Entscheidung abwarten, wenn nicht mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist (§ 665 S. 2 BGB).

5. R hat die Pflichtverletzung zu vertreten (§ 280 Abs. 1 S. 2 BGB).

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Ja, in der Tat!

Der Schuldner hat Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten (§ 276 Abs. 1 S. 1 BGB). Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt (§ 276 Abs. 2 BGB). Dies setzt Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit des pflichtwidrigen Erfolgs voraus. R muss sich das Verschulden seiner Büroangestellten zurechnen lassen (§ 278 S. 1 BGB). BGH: Büroversehen seien auf vielfältige Weise denkbar und vorhersehbar. R müsse für eine Büroorganisation sorgen, die verhindert, dass Schriftsätze durch das Büropersonal eigenmächtig versandt werden. R habe fahrlässig gehandelt (RdNr. 13, 21).

6. Der von M geltend gemachte Schaden ist nach den Grundsätzen des normativen Schadens ersatzfähig.

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Nein!

Die wertungsfreie Äquivalenz- und Adäquanztheorie kann zu Ergebnissen führen, die mit dem Zweck des Schadensersatzes unvereinbar sind. Daher wird die Zurechnung darauf begrenzt, dass der Schaden unter den Schutzzweck der verletzten Norm fällt. BGH: Der Verlust einer Position, auf die der Geschädigte keinen Anspruch hat, sei nicht erstattungsfähig. Ein Steuernachteil sei nur ersatzfähig, wenn er auf rechtlich zulässigem Weg vermeidbar war. Es gehöre nicht zu den Pflichten des R, der zur Steuernachzahlung verpflichteten M die Erträge der Steuerhinterziehung zu erhalten (RdNr. 24ff.).

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