Zivilrecht

Examensrelevante Rechtsprechung ZR

Entscheidungen von 2017

Flughafen haftet für zu lange Warteschlange bei Sicherheitskontrolle

Flughafen haftet für zu lange Warteschlange bei Sicherheitskontrolle

14. November 2024

4,6(10.549 mal geöffnet in Jurafuchs)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

K und seine Familie wollen zum Urlaub in die Türkei. Sie checken anderthalb Stunden vor Abflug in München ein. Die Schlange an der Security ist lang. Ein Airport-Mitarbeiter schickt sie zu einer noch längeren Schlange. Die Familie verpasst deshalb den Flug.

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Einordnung des Falls

Flughafen haftet für zu lange Warteschlange bei Sicherheitskontrolle

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Zwischen K und der Flughafen München GmbH, die für den Wartebereich vor der Security zuständig ist, ist ein Vertrag zustande gekommen.

Nein, das ist nicht der Fall!

AG Erding: Zwischen K als Flugreisenden und der Flughafenbetreiberin kam keine vertragliche Bindung zustande. Allein das faktische Benutzen einer Einrichtung führe nicht bereits zu einem Schuldverhältnis. Verträge bestünden vielmehr im Verhältnis Fluggast-Fluglinie (Beförderungsvertrag/Werkvertrag) sowie im Verhältnis Flughafenbetreiberin-Fluglinie. Denn die Flughafenbetreiberin übernehme für die Fluglinien die Abwicklung des Fluges, insbesondere auch im Bereich vor den Sicherheitskontrollen (RdNr. 3).
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2. Die Airline hat einen vertraglichen Anspruch gegenüber der Flughafenbetreiberin, dass rechtzeitig erscheinende Passagiere auch rechtzeitig zum Abflug am Gate erscheinen können.

Ja, in der Tat!

Das Schuldverhältnis erschöpft sich nicht in der Herbeiführung des geschuldeten Leistungserfolgs, sondern ist eine von Treu und Glauben beherrschte Sonderverbindung. Der Inhalt vertraglicher Nebenpflichten oder Rücksichtnahmepflichten (§ 241 Abs. 1 BGB) hängt vom Vertragszweck, der Verkehrssitte und den Anforderungen des redlichen Geschäftsverkehrs ab. AG Erding: Die Airline habe ein Interesse daran, dass rechtzeitig erschienene Fluggäste auch rechtzeitig zum Gate kämen. Daraus ergebe sich eine vertragliche Nebenpflicht (§ 241 Abs. 2 BGB) (RdNr. 3).

3. K ist in das Schuldverhältnis Airline-Flughafenbetreiberin nach den Grundsätzen des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter (VSD) einbezogen.

Ja!

Voraussetzungen des VSD sind Leistungsnähe, Einbeziehungsinteresse, Erkennbarkeit und Schutzbedürftigkeit. AG Erding: Da K die Security zwingend passieren muss, komme er bestimmungsgemäß mit der Leistung der Flughafenbetreiberin in Berührung (Leistungsnähe). Die Airline habe auch ein Einbeziehungsinteresse, da sie sich zur Vertragserfüllung gegenüber K der Flughafenbetreiberin bediene. Dass K mit der Leistung der Flughafenbetreiberin in Kontakt komme, sei für letztere auch erkennbar. Mangels eigener vertraglicher Ansprüche sei K schließlich schutzbedürftig (RdNr. 5f.).

4. Die Flughafenbetreiberin hat gegenüber K eine Pflichtverletzung begangen, indem sie K an eine längere Schlange geschickt hat, so dass K den Flug verpasst hat.

Genau, so ist das!

AG Erding: Indem der Mitarbeiter der Flughafenbetreiberin K an einen anderen Eingang geführt hat, bei dem K seinen Flug nicht rechtzeitig erreicht hat, habe sie ihre Rücksichtnahmepflicht gegenüber K (§ 241 Abs. 2 BGB i.V.m. den Grundsätzen des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter) verletzt (RdNr. 6).

5. K trifft ein Mitverschulden (§ 254 BGB) für den verpassten Flug. Er hätte die Mitarbeiter der Flughafenbetreiberin darauf hinweisen müssen, dass er den Flug voraussichtlich verpassen wird.

Ja, in der Tat!

Den Geschädigten trifft ein Mitverschulden, wenn er diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die jedem ordentlichen und verständigen Menschen obliegt, um sich vor Schaden zu bewahren. AG Erding: Den Fluggast treffe die Obliegenheit, nicht in der Schlange zu verbleiben, wenn die Gefahr besteht, den Flug zu verpassen, sondern sich „nach vorne“ zu begeben und darauf aufmerksam zu machen (RdNr. 9). Das AG Erding hat ein Mitverschulden des K von 20% angenommen.

6. K kann von der Flughafenbetreiberin neben den Kosten für die Ersatzbuchung und die erneute Anfahrt am nächsten Tag auch Schadensersatz wegen vertanen/verkürzten Urlaubs verlangen.

Nein!

§ 651n Abs. 2 BGB enthält eine spezielle Regelung für Schadensersatz wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit. AG Erding: Gemäß dieser Wertung könne Schadensersatz für vertanen Urlaub lediglich gegenüber Reiseveranstaltern unter den dort geregelten Voraussetzungen geltend gemacht werden (RdNr. 8). Reiseveranstalter ist, wer eine Gesamtheit von Reiseleistungen (Pauschalreise) in eigener Verantwortung gegen Entgelt zu erbringen verspricht. Die Flughafenbetreiberin erbringt jedoch nur Teilleistungen.

7. Die Flughafenbetreiberin hätte auch dann eine Pflichtverletzung gegenüber K begangen, wenn K seinen Flug an der ursprünglichen Schlange ebenfalls verpasst hätte.

Genau, so ist das!

Der Vorwurf (die Pflichtverletzung) hätte dann einen anderen Bezugspunkt. AG Erding: Ein Flughafen müsse die Sicherheitskontrolle so organisieren, dass es den rechtzeitig an der Sicherheitskontrolle erschienenen Passagieren möglich ist, rechtzeitig am Flugsteig zu erscheinen. Unerheblich sei deshalb, ob K seinen Flug am ursprünglichen Eingang noch erreicht hätte. Die Pflichtverletzung bestünde in diesem Szenario dann nicht in dem Wegführen des K an einen anderen (langsameren) Eingang, sondern in der unzureichenden Organisation der Sicherheitskontrolle (RdNr. 6).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

FI

Findingvivi

9.1.2020, 12:41:07

Hätte K dann also einen Anspruch gegen den Reisveranstalter auf Ersatz der verkürzten Urlaubszeit und dieser wiederum einen Regressanspruch gegen die Flughafenbetreiberin? Oder bekommt K den Urlaub überhaupt nicht ersetzt?

TR

Tr(u)mpeltier

1.4.2020, 13:55:10

@Findingvivi: ein solcher Anspruch gegen den Reiseveranstalter bestünde nicht. Denn hierfür bedürfte es (wie auch im sonstigen SE-Recht) zunächst einmal einer Pflichtverletzung des Reiseveranstalters. Da dieser in deinem hypothetischen Fall nichts falsch gemacht hätte, bestünde bereits deshalb kein Schadensersatzanspruch.

Jana-Kristin

Jana-Kristin

21.6.2020, 10:40:26

Einschlägig ist bei dem Mitverschulden des K - wenn man es genau nimmt - 254 II S. 1 BGB (Schadensminderungspflicht). Eine solche

Obliegenheit

sverletzung sehe ich mE nicht darin, dass er den Flughafenbetreiber nicht auf den baldigen Abflug aufmerksam gemacht hat, sondern darin, dass er „nur“ 1,5 Stunden vor dem Abflug am Flughafen war.

Christian Leupold-Wendling

Christian Leupold-Wendling

21.6.2020, 11:45:03

Hi Jana-Kristin, Danke für die Anmerkung! § 254 Abs. 2 S. 1 BGB ist uE hier nicht einschlägig: § 254 Abs. 2 BGB ist ein besonderer Anwendungsfall des in § 254 Abs. 1 BGB ausgesprocheneren allgemeinen Grundsatzes. Grüneberg, in: Palandt, 76.A. 2017, § 254 RdNr. 36: Die Warnpflicht nach § 254 Abs. 2 S. 1 BGB „besteht nur, wenn der Geschädigte die Möglichkeit eines besonders hohen Schadens erkannt hat oder erkennen konnte. Es genügt nicht, dass überhaupt ein Schaden droht.“ Hier droht uE kein besonders hoher Schaden. Jedenfalls ist der nicht vergleichbar mit den Fällen, zu denen es Rspr. gibt. Das Gericht (AG Erding) hat hier auf § 254 Abs. 1 BGB abgestellt. Die Frage, ob 1,5h Checkin (nicht: Ankunft am Flughafen) vor Abflug ausreichen, ist sicher eine Wertungsfrage.

Jana-Kristin

Jana-Kristin

21.6.2020, 11:58:15

Hi Christian, deine Ausführungen überzeugen mich! Danke für die schnelle Antwort.

Christian Leupold-Wendling

Christian Leupold-Wendling

21.6.2020, 17:53:01

Freut mich! Und: sehr gern.

Blackpanther

Blackpanther

22.3.2022, 11:18:34

Wäre nicht auch ein Anspruch des K gegen die Fluggesellschaft denkbar, die sich ihrerseits der Flughafenbetreiberin als Erfüllungsgehilfin, § 278 BGB, bedient?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

23.3.2022, 14:43:13

Hallo Blackpanther, guter Gedanke. Die Zurechenbakeit des Handelns des Flughafenbetreibers zur Fluggesellschaft wird in der Rechtsprechung höchst unterschiedlich behandelt (Überblick: Anm. zu AG Erding, Endurteil v. 23. 8.2016 - 8 C 1143/16, DAR 2018, 520). Dabei wird maßgeblich nach Verantwortungs- und Risikosphären abgegrenzt. Eine höchstrichterliche Entscheidung steht hier noch aus. Im Hinblick auf die Verzögerung bei der Sicherheitskontrolle hatte aber beispielsweise das AG Rüsselsheim (BeckRS 2015, 121192) eine Zurechnung mit dem Argument verneint, dass dies als hoheitliche Aufgabe gerade nicht dem Aufgabenbereich der Fluggesellschaft zurechenbar sei. Das AG Frankfurt/Main hatte dagegen mit Blick auf fehlerhafte Vorbereitung des Flugzeugs durch den Betreiber eine Zurechnung bejaht (vgl. NJW-RR 2010, 1360). Denn hier werde der Betreiber gerade im Einfluss- und Verantwortungsbereich der Gesellschaft tätig. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Blackpanther

Blackpanther

23.3.2022, 15:29:03

Danke für die schnelle Antwort! Gegen die Auffassung des AG Rüsselsheim spricht m.E., dass auch wenn nur der Betreiber unmittelbar durch öR zur Kontrolle verpflichtet ist, auch die Fluggesellschaft durch die Kontrollen ihrer (im Flugverkehr sehr strengen) Verkehrssicherungspflicht nachkommt. § 278 nur aufgrund einer öR Pflicht zu verneinen wäre sicher auch in anderen Branchen (z.B. Lebensmittelproduktion) in denen sich Unternehmen externer Gehilfen bedienen, um zB. Laborkontrollen durchzuführen, zu denen sie ör verpflichtet sind, bedenklich. Jeden falls würde die Bejahung des § 278 dazu führen, dass die Schutzbedürftigkeit als Voraussetung des VSD verneint werden müsste, oder?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

24.3.2022, 09:09:31

In der Tat, denn dann bestünde ein eigener vertraglicher Anspruch :-)


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