„Salatblattfall“
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Die minderjährige K begleitet ihre Mutter M in den Supermarkt der B. Noch bevor M bezahlt, rutscht K auf einem Salatblatt aus und verletzt sich erheblich. K verlangt von B Schadensersatz in Höhe der Behandlungskosten.
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Einordnung des Falls
Der Salatblattfall ist ein absoluter Klassiker im BGB / Schuldrecht, den alle Student:innen und Praktiker:innen kennen sollten. Der BGH hat ihn bereits 1976 entschieden. Dennoch ist der Fall heute noch richtungsweisend. Der BGH musste sich u.a. mit der Frage auseinandersetzen, ob sich zwei zentrale zivilrechtliche Rechtsfiguren – die „culpa in contrahendo“ (Verschulden bei Vertragsverhandlungen) und der „Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter“ (VSD) – kombinieren lassen.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 14 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Bestand zwischen K und B im Unfallzeitpunkt ein vorvertragliches Schuldverhältnis (§ 311 Abs. 2 BGB)?
Ja, in der Tat!
Jurastudium und Referendariat.
2. K könnte einen Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB gegen B haben.
Ja, in der Tat!
3. Besteht zwischen K und B eine vertragliche Beziehung?
Nein!
4. Es könnte zwischen M und B ein Schuldverhältnis bestehen. Haben M und B einen Vertrag geschlossen?
Nein, das ist nicht der Fall!
5. Besteht zwischen M und B nach § 311 Abs. 2 ein vorvertragliches Schuldverhältnis?
Ja, in der Tat!
6. Könnte K in den Schutzbereich der vorvertraglichen Beziehung zwischen M und B einbezogen werden, nach den Grundsätzen des Vertrags mit Schutzpflichten zugunsten Dritter?
Ja!
7. Besteht Leistungsnähe?
Genau, so ist das!
8. Hat M ein Interesse an der Einbeziehung der K in die Haftung des B?
Ja, in der Tat!
9. War es für B erkennbar, dass K bestimmungsgemäß mit der Leistung in Berührung kommt und M ein besonderes Interesse an Ks Einbeziehung hat?
Ja!
10. K hat allerdings einen konkurrierenden deliktischen Anspruch gegen B auf Schadensersatz (§ 823 Abs. 1 BGB). Entfällt damit Ks Schutzwürdigkeit?
Nein, das ist nicht der Fall!
11. Die Voraussetzungen eines Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter liegen damit vor.
Ja, in der Tat!
12. Liegen auch die übrigen Voraussetzungen eines vorvertraglichen Schadensersatzanspruchs vor?
Ja!
13. Hat K Anspruch auf Ersatz der Behandlungskosten aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB i.V.m. den Grundsätzen des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter?
Genau, so ist das!
14. K könnte einen Anspruch nach §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB i.V.m. den Grundsätzen des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter haben, wenn zwischen M und B ein Schuldverhältnis besteht, in dessen Schutzbereich K einbezogen ist.
Ja!
Fundstellen
Prüfungsschema
Wie prüfst Du einen Anspruch auf Schadensersatz aus Culpa in Contrahendo (§§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB)?
- Anwendbarkeit (keine vorrangigen Regeln einschlägig)
- Vorvertragliches Schuldverhältnis (§ 311 Abs. 2 BGB)
- Pflichtverletzung (§§ 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB)
- Vertretenmüssen (§ 280 Abs. 1 S. 2 BGB)
- Kausaler Schaden
Wie prüfst Du den Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter ("VSD")?
- Vertrag zwischen Gläubiger und Schuldner
- Einbeziehung des Dritten in den Schutzbereich des Vertrags
- Der Dritte kommt bestimmungsgemäß mit der Leistung in Berührung.
- Der Gläubiger hat ein berechtigtes Interesse am Schutz des Dritten durch Einbeziehung in den Vertrag.
- Erkennbarkeit der Einbeziehung des Dritten für den Schuldner.
- Schutzbedürftigkeit des Dritten
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
J2000
16.2.2020, 11:38:37
"Bezugspunkt der
Leistungsnähe(...) ist die verletzte
Nebenpflicht" - das scheint mir nicht ganz präzise, sondern das Ergebnis vorwegnehmend, denn wir fragen uns ja gerade ob B hier eine Pflicht gegenüber K hatte.
Leistungsnähewäre auch meines Wissens unabhängig ob aus vorvertraglicher oder vertraglicher Haftung so zu bestimmen, dass der Dritte den typischen Gefahren der Leistung in ähnlichem Maße wie der Gläubiger ausgesetzt ist. Oder liege ich hier falsch?
Stefan Thomas Neuhöfer
31.3.2020, 09:57:18
Hi, vielen Dank für die sehr feinsinnige Frage! Wir haben den Fall auf Deinen Hinweis hin präzisiert und beziehen der
Leistungsnähenun generall auf die Verletzung einer
Nebenpflicht. Du hast natürlich völlig recht, dass die
Leistungsnähegenerell so zu bestimmen ist, dass der Dritte den typischen Gefahren ebenso ausgesetzt ist wie der Gläubiger. Ich hoffe, die Frage beantwortet zu haben. Danke für Dein Feedback! Für das Jurafuchs-Team - Stefan
ri
10.10.2021, 18:02:38
Merkbild: Schleier Sch: Schutzbedürftigkeit Dritter L:
LeistungsnäheEi: Einbeziehungsinteresse Er: Erkennbarkeit Dazu kann man sich die Parteien eines Vertrages vorstellen, die gerade verhandeln. Hinter einem Schleier verborgen sitzt eine dritte Person am Tisch. 🤷🏽♂️
Lukas_Mengestu
10.10.2021, 18:27:06
Nicht schlecht :) alternativ gibt es sonst noch "Leges" (Plural von "lex" = Gesetz): Le istungsnähe G läubigernähe E rkennbarkeit Schutzbedürfnis Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
ri
10.10.2021, 20:56:43
Uh, nice 👍 Doppelt hält besser und der Vorteil von Leges ist, dass sie Prüfungsreihenfolge stimmt.
Pilea
9.2.2023, 14:03:32
Als weitere Alternative kann man sich "Rückwärts segeln" merken: SEGL rückwärts ergibt L eistungsnähe G läubigerinteresse E rkennbarkeit S chutzwürdigkeit
QuiGonTim
25.7.2022, 18:10:10
Wie wäre der Fall zu lösen, wenn K alleine und ohne Wissen ihrer Mutter den Supermarkt betreten hätte? Müssten dann unter dem Punkt “Schuldverhältnis” die Normen des Minderjährigenrechts anlalog angewandt werden? Wie würde man dann ggf. mit dem Tatbestandsmerkmal “
lediglich rechtlich vorteilhaftumgehen”?
Lukas_Mengestu
27.7.2022, 17:32:55
Hallo QuiGonTim, aus dem Rechtsgedanken des §
107 BGBsowie der Schutzrichtung des gesamten
Minderjährigkeitsrechts ergibt sich, dass der Minderjährige ohne weiteres Ansprüche aus c.i.c. geltend machen kann, wenn er in rechtsgeschäftlichen Kontakt getreten ist (zB allein den Supermarkt betreten hätte). In der Tat würde man dann §
107 BGBanalog anwenden. Einer Einwilligung bedürfte es insofern nur, soweit der Minderjährige aus c.i.c. haften soll. Soweit er dagegen selbst Ansprüche herleitet, erlangt er lediglich einen rechtlichen Vorteil, sodass es hierfür keiner Einwilligung bedarf. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Stella2244
24.5.2024, 12:03:00
Tolles Problembewusstsein @[QuiGonTim](133054)
MenschlicherBriefkasten
5.7.2024, 15:26:09
Wäre es nicht ebenso vertretbar, auch in der Ausgangskonstellation einen Anspruch aus C.i.c. des Kindes anzunehmen? Denn es ist ja nicht ausgeschlossen, dass auch das Kind etwas kauft, auch wenn es zunächst lediglich die Mutter begleitet. Ich habe es so gelernt, dass schon ein
vorvertragliches Schuldverhältnisentsteht, wenn ein Kaufhaus (zunächst) auch ohne Kaufabsicht betreten wird - denn: der Betreiber eines Kaufhauses oder Supermarkts möchte auch gerade solche Personen als Kunden gewinnen, die erst durch die mittels Warenpräsentation geschaffene Gelegenheit zum Kauf von Waren animiert werden, sodass seine Rücksichtnahmepflichten schon dann beginnen, wenn der Kunde das Geschäft betritt.
Sebastian Schmitt
13.9.2024, 10:41:31
Hallo @[MenschlicherBriefkasten](151200), eine interessante Frage! Zunächst hast Du völlig Recht, dass vertreten wird, dass auch potenzielle Kunden ohne konkrete Kaufabsicht in den Schutzbereich fallen. Vielfach wird allerdings auch eine klare Grenze gezogen, sodass Personen komplett ohne Kaufinteresse nicht mehr in den geschützten Kreis gehören (zB Ladendiebe und Passanten, die lediglich vorübergehenden Schutz vor dem Wetter suchen, so BeckOK-BGB/Sutschet, 71. Ed, Stand 1.8.24, § 311 Rn 55 mwN, der das sogar als "hM" bezeichnet). Mir persönlich scheint das sinnvoll, weil man ansonsten zu einer sehr weitgehenden, einer Art Generalhaftung in Situationen sozialer Interaktion kommt, die vor dem Hintergrund der Verschuldens
vermutungdes § 280 I 2 BGB zu weit gehen könnte und auch die Abgrenzung zum Deliktsrecht erschwert. Ob man dem Minderjährigen vor diesem Hintergrund einen eigenen Anspruch zugestehen möchte, hängt nicht nur maßgeblich davon ab, wie weit man den Kreis der Anspruchsberechtigten ziehen möchte, sondern vor allem auch von den Umständen des Sachverhalts (unser Ausgangsfall gibt dazu kaum etwas her). Ich halte es für durchaus möglich, dass auch mal der begleitende Minderjährige einen eigenen Anspruch hat. Die Einbeziehung über die Grundsätze des Vertrags mit Schutzwirkung Dritter sind aber mittlerweile so etabliert und beziehen sich ja sogar auf Begleiter ohne konkrete Kaufabsicht, dass es auf einen eigenen Anspruch direkt aus cic iE häufig nicht mehr ankommen wird. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team
Isabelle.Sophie
13.12.2023, 08:38:40
Muss ich in der Klausur iRd Schutzbedürftigkeit einen deliktischen Anspruch inzident prüfen und dann darauf hinweisen, dass dieser die Schutzbedürftigkeit nicht entfallen lässt? Oder wäre es schon falsch an dieser Stelle überhaupt einen deliktischen Anspruch anzusprechen?
Lukas_Mengestu
13.12.2023, 19:03:27
Hallo Isabelle.Sophie, von einer Inzidentprüfung würde ich hier tatsächlich abraten, auch wenn ich mit den Begriffen "falsch" vorsichtig bin ;-) Ich würde eher sagen, es wäre ungeschickt, an dieser Stelle bereits den deliktischen Anspruch vollständig zu prüfen, da Du ja ohnehin ein vollständiges Gutachten ablieferst und dann im Anschluss noch zu dem deliktischen Anspruch kommen wirst. Um Doppelungen zu vermeiden, müsstest Du dort dann nach oben verweisen, was insgesamt etwas unübersichtlicher ist, als es von vorneherein zu trennen. Da ohnehin lediglich gleichwertige vertragliche Ansprüche die Schutzbedürftigkeit entfallen lassen, kannst Du Dich damit begnügen, den Anspruch kurz anzudeuten (zB "es kommt allenfalls ein deliktischer Anspruch in Betracht"), um dann aber auszuführen, dass lediglich vertragliche Ansprüche einen vergleichbaren Schutz bieten, sodass hier die Schutzbedürftigkeit deshalb davon unberührt bleibt. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
kaan00
11.1.2024, 16:44:55
Für die Vorraussetzungen des VSD fand ich "SEGL - rückwärts" (absurderweise) hilfreich =D L eistungsnähe (des Dritten); G läubigernähe; E rkennbarkeit (von Leistungs- und Gläubigernähe für den Schuldner); S chutzbedürfnis (des Dritten)
Saskia447
31.8.2024, 12:05:41
Ich merke es mir mit LeGES
julia_purpose
7.9.2024, 14:20:00
Zu Beginn des Falls wird die Reihenfolge der Ansprüche im Zivilrecht falsch dargestellt! Es wird in der Erklärung nach einer der ersten Fragen ausgeführt, dass die Reihenfolge lautet: vertragliche - quasivertragliche - dingliche -
bereicherungsrechtliche - und dann deliktische Ansprüche. Die richtige Reihenfolge der Ansprüche lautet aber: vertragliche - quasivertragliche - dingliche - deliktische und dann
bereicherungsrechtliche Ansprüche. Ich denke, es wäre wichtig, einen solch grundlegenden Fehler zu korrigieren, damit keine Verwirrung entstehen kann! :)
Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat
10.9.2024, 10:51:38
Man kann auch die bereicherungsechtlichen vor den deliktischen Ansprüchen prüfen, insofern ist es nicht falsch. Allerdings stimme ich dir zu, dass es geändert werden sollte. Es ergibt merh Sinn, die deliktischen zuerst zu prüfen (insbesondere wegen der verschärften Haftung im
Bereicherungsrecht). Außerdem wird in anderen Lektionen der Merksatz „viel Quatsch schreibt der Bearbeiter“ gelehrt, der ebenfalls die deliktischen vor die
bereicherungsrechtlichen Ansprüche stellt…
julia_purpose
10.9.2024, 14:23:46
Ja,
bereicherungsrechtliche Ansprüche können theoretisch auch vor deliktischen Ansprüchen geprüft werden. Sinnvoller ist es in der Regel, die
bereicherungsrechtlichen Ansprüche zuletzt zu prüfen, da diese häufig subsidiär sind und andere Ansprüche ausschließen können. Es ist klausurtaktisch sicherer und schlüssiger, die
bereicherungsrechtlichen Ansprüche an den Schluss zu setzen - wäre doch schade, sich im Zweifel zum Ende hin die Prüfung abzuschneiden. Der von dir angesprochene und in der anderen Lektion gelehrte Merksatz war aber tatsächlich auch der Beweggrund für meinen Kommentar! :)
rubenrubenruben
30.9.2024, 17:39:07
Kurze Verständnisfrage: Bei
Leistungsnäheund Erkennbarkeit ist eine bestimmungsgemäße Nähe als Kriterium gefordert. Wann liegt diese Nähe vor, wann nicht?
Lorenz
15.10.2024, 19:30:27
Beim sog. Tuberkulose-Fall wurde die Tochter des Mieters aufgrund der Wohnung krank und war in den Schutzbereich des väterlichen Mietvertrages einbezogen. bestimmungsgemäße Nähe (+), da üblicherweise auch Familienmitglieder umfasst sein sollen. Anders würde ich sagen bei Untermietern oder Langzeitbesuch.
Major Tom(as)
1.11.2024, 12:07:07
Zwar stehen die Vss nicht im Gesetz, aber trotzdem hilft es, zu lesen ;) "LIES!
Leistungsnähe, Interesse an der Einbeziehung (Gläubigernähe), Erkennbarkeit für den Schuldner, Schutzbedürftigkeit des Dritten"