Verurteilung als faktischer Leiter einer nicht angemeldeten Versammlung


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Atomkraftgegner A organisiert eine unangemeldete Demo in der baden-württembergischen Stadt H. Er erteilt dabei über Funk Anweisungen, u.a. zur Beendigung der Versammlung. Da ein Veranstalter nicht auszumachen ist, verhängen die Fachgerichte strafrechtliche Sanktionen gegen A.

Einordnung des Falls

Verurteilung als faktischer Leiter einer nicht angemeldeten Versammlung

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Im gesamten Bundesgebiet gilt das Versammlungsgesetz des Bundes (VersG).

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Nein, das ist nicht der Fall!

Mit der Föderalismusreform 2006 wurde das Versammlungsrecht in die Gesetzgebungskompetenz der Länder überführt. Auf dieser Grundlage haben die Bundesländer Bayern, Berlin (teilweise), Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein und NRW eigene Versammlungsgesetze erlassen. Im Übrigen gilt das Versammlungsgesetz des Bundes (VersG) über Art. 125a Abs. 1 GG weiter. Mangels eines baden-württembergischen Landesversammlungsgesetzes finden vorliegend die Vorschriften des VersG Anwendung.

2. Jede öffentliche Versammlung unter freiem Himmel muss spätestens 48 Stunden vor ihrer Durchführung angemeldet werden.

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Nein, das trifft nicht zu!

Grundsätzlich muss der Veranstalter einer öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel 48 Stunden vorher anmelden (§ 14 Abs. 1 VersG). Die Anmeldepflicht soll einen reibungslosen Ablauf der Versammlung gewährleisten. Nach gefestigter Rechtsprechung des BVerfG entfällt dieses Erfordernis im Lichte der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) aber bei Spontanversammlungen, deren Anlass eine sofortige Durchführung der Versammlung erfordert. Bei Eilversammlungen, bei denen die 48-Stunden-Frist ohne Gefährdung des Versammlungszwecks nicht eingehalten werden kann, wird die Anmeldefrist verfassungskonform entsprechend verkürzt.

3. Es handelt sich um eine Spontanversammlung, sodass die Anmeldepflicht (§ 14 Abs. 1 VersG) entfällt.

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Nein!

Eine Spontanversammlung bildet sich ungeplant aus aktuellem Anlass und erfolgt grundsätzlich ohne Einladung und ohne Veranstalter bzw. Versammlungsleiter. Insbesondere die Durchführung der Versammlung mit Kletterausrüstung und Banner sprechen dafür, dass es einer besonderen Vorbereitung bedurfte und die Versammlung somit geplant war. Ein Entfallen der Anmeldepflicht (§ 14 Abs. 1 VersG) kommt daher nicht in Betracht.

4. Der Leiter einer nicht angemeldeten Versammlung unter freiem Himmel macht sich strafbar (§ 26 Nr. 2 VersG).

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Genau, so ist das!

Die Konsequenz eines Verstoßes gegen die Anmeldepflicht (§ 14 Abs. 1 VersG) besteht darin, dass gegen den Veranstalter oder Leiter der Versammlung strafrechtliche Sanktionen verhängt werden können (§ 26 Nr. 2 VersG). Sanktioniert wird dabei nicht die unterlassene Anmeldung einer Versammlung, sondern die Durchführung einer anmeldepflichtigen Versammlung. Auch die entsprechenden Landesversammlungsgesetze enthalten vergleichbare Regelungen.

5. A war „Leiter“ (§ 26 Nr. 2 VersG) der Versammlung.

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Ja, in der Tat!

Leiter einer Versammlung ist, wer persönlich anwesend ist, die Ordnung der Versammlung handhabt und den äußeren Gang der Veranstaltung bestimmt, insbesondere die Versammlung eröffnet, unterbricht und schließt. BVerfG: § 26 Nr. 2 VersG erfasse nicht nur den förmlich bestellten, sondern auch den faktischen Versammlungsleiter. A hatte die Organisationshoheit und Leitungsfunktion inne. Er gab u.a. über Funk Anweisungen und beendete die Versammlung. Hierdurch habe er dokumentiert, dass er ein gewisses Maß an Verantwortungsbewusstsein für die Veranstaltung hatte und sich für deren reibungslose Durchführung zuständig fühlte (RdNr. 3).

6. Nach dem sog. Analogieverbot darf eine Strafnorm nicht über ihren Wortlaut hinaus angewendet werden (Art. 103 Abs. 2 GG).

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Ja!

BVerfG: Art. 103 Abs. 2 GG enthalte ein striktes Bestimmtheitsgebot für die Gesetzgebung sowie ein damit korrespondierendes, an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Analogie. Strafgerichte müssen in Fällen, die vom Wortlaut nicht mehr gedeckt sind, zum Freispruch gelangen. Jede Rechtsanwendung, die tatbestandsausweitend über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht, sei ausgeschlossen (RdNr. 9f.).

7. Die Verurteilung des A als „faktischer Leiter“ verstößt gegen das strafrechtliche Analogieverbot (Art. 103 Abs. 2 GG).

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Nein, das ist nicht der Fall!

BVerfG: § 26 Nr. 2 VersG verwende mit dem Tatbestandsmerkmal des „Leiters“ einen auslegungsfähigen Rechtsbegriff, dessen Ausfüllung daher den Fachgerichten überlassen sei (RdNr. 12). Dem Versammlungsrecht könne keine Einschränkung des Begriffes auf den förmlich benannten Leiter entnommen werden. Vielmehr lege es der Wortlaut nahe, als „Leiter“ auch denjenigen anzusehen, der die Rolle des Versammlungsleiters tatsächlich ausfüllt. Dadurch werde auch nicht der Strafzweck des § 26 Nr. 2 VersG gegen den Willen des Gesetzgebers modifiziert, der darin besteht, die Durchführung einer anmeldepflichtigen Versammlung zu sanktionieren (RdNr. 13f.).

8. Die Verurteilung des A verstößt gegen das Schuldprinzip (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG), denn die Nichtanmeldung der Versammlung kann ihm nicht vorgeworfen werden.

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Nein, das trifft nicht zu!

Das Schuldprinzip (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) besagt, dass für sein Handeln nur bestraft werden kann, wem dieses auch vorwerfbar ist. BVerfG: Die Strafbarkeit nach § 26 Nr. 2 VersG knüpfe nicht allein an die unterlassene Anmeldung an, die dem Leiter einer Versammlung ggf. nicht vorgeworfen werden könne. Sie stelle erst die Durchführung einer nicht angemeldeten Versammlung unter Strafe. Insoweit stehe es jedem Versammlungsteilnehmer frei, an der Versammlung in nicht leitender Funktion mitzuwirken und sie so nicht selbst durchzuführen. Ein Verstoß gegen das Schuldprinzip sei somit nicht ersichtlich (RdNr. 15).

9. Die Verurteilung des A als „faktischer Leiter“ verstößt gegen die Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG), da so die bloße Teilnahme an einer nicht angemeldeten Versammlung bestraft wird.

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Nein!

BVerfG: Die Einbeziehung des „faktischen Leiters“ in den Anwendungsbereich des § 26 Nr. 2 VersG sei auch mit der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) vereinbar. Andernfalls könne man das Anmeldungserfordernis umgehen, indem man spontan einen Versammlungsleiter benennt - dann kann die Versammlung nur gegenüber dem Veranstalter sanktioniert werden, der aber gerade bei nicht angemeldeten Versammlungen nur sehr schwer festgestellt werden kann. Im Übrigen bestehe auch nicht die Gefahr einer Sanktionierung der bloßen Versammlungsteilnahme, denn die Stellung als „faktischer Leiter“ muss durch eindeutige Tatsachen erkennbar werden (RdNr. 17f.).

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