Ermessensnichtgebrauch (Fall 1)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

V plant eine Kundgebung der Initiative „KOP“. Kurz vor der Versammlung erhält V einen formell rechtmäßigen Bescheid der Behörde B, die angibt, sie müsse die Versammlung nach § 15 Abs. 1 VersG untersagen, weil es Anhaltspunkte gibt, dass es zu einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit kommen wird.

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Einordnung des Falls

Ermessensnichtgebrauch (Fall 1)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Das formell rechtmäßige Versammlungsverbot müsste materiell rechtmäßig sein. Der Tatbestand liegt vor.

Genau, so ist das!

Die materielle Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts setzt voraus, dass (1) der Tatbestand der Ermächtigungsgrundlage erfüllt ist und (2) die Behörde die richtige Rechtsfolge gewählt hat. Das Verbot ist aufgrund der rechtmäßigen Ermächtigungsgrundlage § 15 Abs. 1 VersG formell rechtmäßig ergangen. Tatbestandlich setzt § 15 Abs. 1 VersG die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit voraus. Dies ist hier der Fall. Der Tatbestand der Ermächtigungsgrundlage liegt vor.
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2. § 15 Abs. 1 VersG sieht das Verbot der Versammlung als zwingende Rechtsfolge vor.

Nein, das trifft nicht zu!

Ist ein gesetzlicher Tatbestand erfüllt, muss die Verwaltung handeln, sofern die Norm eine zwingende Rechtsfolge enthält (= gebundene Entscheidung). Ist dies nicht der Fall, kann die Behörde eine Ermessensentscheidung im Rahmen des vorgegebenen Handlungsspielraums treffen. Nach § 15 Abs. 1 VersG „kann“ die zuständige Behörde eine Versammlung verbieten. Es handelt es also um eine gesetzliche Regelung, die der Behörde einen Entscheidungsspielraum einräumt. Die Vorschrift sieht keine zwingende Rechtsfolge vor.

3. Bs Entscheidung ist auf Rechtsfolgenseite inhaltlich durch das Gericht vollumfänglich überprüfbar.

Nein!

Sieht die Ermächtigungsgrundlage Ermessen vor, so kann das Gericht die Entscheidung der Behörde auf Rechtsfolgenseite nur dahingehend überprüfen, ob die Behörde ermessensfehlerhaft handelte. Ist dies der Fall, hat der Betroffene einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Neubescheidung durch die Behörde. Das Gericht verpflichtet die Behörde durch Urteil zur Neubescheidung nach rechtmäßiger Ausübung ihres Ermessens, nicht jedoch zur Vornahme einer ganz konkreten Handlung (§ 113 Abs. 5 S. 2 VwGO). B handelte hier auf Grundlage einer Ermessensnorm. Die Entscheidung ist auf Rechtsfolgenseite gerichtlich nur dahingehend überprüfbar, ob B ermessensfehlerhaft handelte.Diese Grenze des gerichtlichen Überprüfungsspielraums ergibt sich aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 3 GG). Die Judikative kann die Exekutive nicht im Kernbereich ihrer Kompetenz beeinflussen und kontrollieren, sondern nur überprüfen, ob die Kompetenzen, die von der Legislative verliehen wurden, rechtmäßig ausgeübt werden.

4. B erkannte nicht, dass ihr ein Ermessensspielraum zustand. Sie handelte deswegen ermessensfehlerhaft.

Genau, so ist das!

Ein Ermessensfehler in Form des Ermessensnichtgebrauchs liegt vor, wenn die Behörde einen ihr durch das Gesetz vorgegebenen Ermessensspielraum überhaupt nicht erkennt und deshalb auch keine Überlegungen hinsichtlich des ihr zustehenden Spielraums anstellt. B gibt an, wegen des einschlägigen Tatbestands das Verbot aussprechen zu „müssen“. Darin wird deutlich, dass B nicht davon ausging, eine Ermessensentscheidung treffen zu können (und zu müssen) und deswegen auch keinerlei Ermessenserwägungen anstellte. B handelte ermessensfehlerhaft. Das Verbot ist rechtswidrig. Ein Gericht würde B verpflichten, V neu zu bescheiden. Damit ist jedoch nicht entschieden, dass das Verbot endgültig nicht ergehen wird. Vielmehr könnte die Behörde nach pflichtgemäßer Ausübung ihres Ermessens ein neues Verbot erlassen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Benny0707

Benny0707

6.12.2023, 10:45:18

hallo liebes JF-Team, ihr könntet bzgl. der gerichtlichen Grenze der Nachüberprüfbarkeit von Ermessensentscheidungen noch anmerken, dass sich diese Grenze aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 III GG) ergibt. Die Judikative kann die Exekutive nicht im Kernbereich einschränken sondern nur kontrollieren, ob sie ihre Befugnisse, welche sie ihrerseits von der Legislative erhalten hat, rechtmäßig ausübt. So hat man auch das „Warum“ vor Augen. liebe grüße Benny :)

Nora Mommsen

Nora Mommsen

7.12.2023, 16:37:51

Hallo Benny0707, danke dir für die Anregung! Wir haben es hier noch ergänzt. Generell wird es solche Ausführungen allerdings häufiger bei den Einführungsaufgaben geben oder wenn der Punkt im Rahmen einer Argumentation herangezogen wird. Das bei jeder Aufgabe mit Ermessensspielraum zu ergänzen, sprengt die Übersichtlichkeit fürs Lernen. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team


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