Standardfall: "Normale" Bekanntmachung, obwohl gesetzlich die förmliche Zustellung vorgeschrieben


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Studentin S stellt bei der zuständigen Behörde einen BAföG-Antrag. Diesem Antrag wird jedoch nicht entsprochen. Daraufhin legt S Widerspruch ein. Die Behörde hilft dem Widerspruch nicht ab und gibt der S versehentlich durch einen unförmlichen Brief den Widerspruchsbescheid bekannt.

Einordnung des Falls

Standardfall: "Normale" Bekanntmachung, obwohl gesetzlich die förmliche Zustellung vorgeschrieben

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. In bestimmten Fällen ist die Bekanntgabe durch förmliche Zustellung erforderlich.

Genau, so ist das!

In bestimmten Fällen ist eine förmliche Zustellung geboten. Dann gilt nicht mehr der § 41 VwVfG, sondern nur das jeweilige Verwaltungszustellungsrecht (vgl. § 41 Abs. 5 VwVfG). Für Bundesbehörden, bundesunmittelbare Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts und Landesfinanzbehörden gilt das Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) des Bundes (§ 1 Abs. 1 VwZG). Danach ist die förmliche Zustellung immer dann erforderlich, wenn ein Gesetz oder eine behördliche Anordnung dies vorsieht (§ 1 Abs. 2 VwZG). Verschiedene Zustellungsarten ergeben sich aus §§ 3, 4, 5, 5a, 9, 10 VwZG.

2. Der Widerspruchsbescheid an S hätte förmlich zugestellt werden müssen.

Ja, in der Tat!

Die förmliche Zustellung immer dann erforderlich, wenn ein Gesetz oder eine behördliche Anordnung dies vorsieht (§ 1 Abs. 2 VwZG).Die VwGO bestimmt, dass jeder Widerspruchsbescheid förmlich im Sinne des VwZG zuzustellen ist (§ 73 Abs. 3 S. 1 und 2 VwGO). Das heißt, dass bei einem Widerspruchsbescheid auch dann nach dem VwZG zuzustellen ist, wenn eine Landesbehörde handelt. Hier genügt eine „einfache“ Bekanntmachung also nicht.Weitere Beispiele für Fälle, in denen die förmliche Zustellung gesetzlich vorgeschrieben ist, finden sich in § 50 Abs. 1 S. 2 OWiG, § 70 Abs. 1 BauGB, § 122 Abs. 5 AO und § 10 Abs. 7 BImSchG.

3. Der Widerspruchsbescheid an S ist mangels förmlicher Zustellung unwirksam.

Nein!

Damit ein Verwaltungsakt wirksam ist, muss er wirksam bekanntgegeben werden (§ 43 VwVfG). Ist eine förmliche Zustellung vorgesehen, muss für die Wirksamkeit des Verwaltungsakts die Zustellung wirksam sein. Eine nicht ordnungsgemäße Zustellung ist grundsätzlich heilbar, wenn der Bescheid tatsächlich zugegangen ist (§ 8 VwZG). Eine Heilung scheidet allerdings aus, wenn es an der Zustellung mangels Zustellungswillens gänzlich fehlt und damit die Zustellung unwirksam ist.Hier hat die Behörde den Widerspruchsbescheid versehentlich durch unförmlichen Brief bekannt gegeben. Demnach ist ein Zustellungswille grundsätzlich nicht zu verneinen und die unförmliche Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids wird nach § 8 VwZG durch den tatsächlichen Zugang bei S geheilt. Für die Klagefrist einer Anfechtungsklage nach § 74 Abs. 1 VwGO ist dann der Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs maßgeblich.

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frausummer

frausummer

2.7.2021, 15:28:05

Wie kann ich mir das in der Praxis vorstellen? Die Behörde wird ja wohl kaum zugeben, bewusst falsch zugestellt zu haben, sodass die Zustellung doch stets geheilt ist und der VA als bekanntgegeben gilt😅

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

2.7.2021, 16:14:27

Hallo Frausummer, in der Tat wird in der Regel eine entsprechende Heilung vorliegen. Allerdings hat dies natürlich zur Folge, dass erst mit dem Eintritt der Heilung die Rechtsmittelfrist zu laufen beginnt. Ein Fall, in dem man den Zustellungswillen wohl verneinen könnte, wäre zB die Versendung eines bloßen Entwurfs, der auch entsprechend gekennzeichnet ist. Daneben hat die Behörde natürlich auch ein Problem, wenn sich der Empfänger darauf beruft, dass er den Brief nie erhalten hat. Denn nach § 41 Abs. 2 S. 3 VwVfG hat sie im Zweifel den entsprechenden Nachweis zu führen, dass der Verwaltungsakt bekanntgegeben wurde. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

2.7.2021, 16:25:20

*Kleiner Nachtrag: Ein Fall des fehlenden Zustellungswillen liegt auch in Konstellationen vor, in denen die Behörde davon ausgeht, dass eine förmliche Zustellung vorliegend nicht notwendig ist und eine formlose Bekanntgabe ausreicht. Dies ergibt sich oftmals aus dem Bescheid selbst, da in der Regel oben links die vorgesehene Zustellungsart vermerkt wird. Wenn also geplant ist, den Bescheid per Postzustellungsurkunde zu verschicken und dann gerät er versehentlich in den einfachen Postlauf, so kommt eine Heilung in Betracht. Hat die Behörde dagegen nie geplant eine förmliche Zustellung durchzuführen, so scheidet eine Heilung nach § 8 VwZG aus (vgl. hierzu auch BGH, NJW 2003, 1192).

KER

Kerstin

8.8.2022, 17:43:46

Wenn bei Heilungen von Bekanntgaben immer der tatsächliche Zugang gilt, ist die gesetzliche Drei-Tages-Fiktion dann unbeachtlich? Wenn der Brief am 01.02 aufgegeben wird und am 02.02 zugeht, gilt der 02.02 als Bekanntgabe nicht der 04.02?

simon175

simon175

10.5.2024, 18:27:10

Die Formulierung "der Zustellungswille ist grundsätzlich nicht zu verneinen" verwirrt mich sehr. Zum einen gibt der Wortlaut des § 8 VwZG einen solchen Rückschluss nicht her, zum anderen ist die Behörde auch nicht verpflichtet die aus § 73 III S. 1 VwGO erforderliche Begründung und Rechtsmittelbelehrung nachholen. Gerade der letzte Punkt unterscheidet sich wesentlich zum Verfahrensfehler der Anhörung, die grundsätzlich geheilt werden kann, falls sie nachgeholt wird. Der Gesetzgeber wollte offenbar mit § 73 III S. 1 VwGO bewirken, dass der Adressat des Widerspruchsbescheids durch die Begründung die Entscheidung der Behörde nachvollziehen kann und sich mit einer Rechtsmittelbelehrung weiter schützen kann. Ich verstehe nicht, warum der Zustellungswille der Behörde in diesem Fall so schwer gewichtet wird, dass dadurch die gesetzlichen Formerfordernisse überwunden werden. Dass zusätzlich die

Klagefrist

der Anfechtungsklage nach § 74 I VwGO anfängt zu laufen, finde ich besonders bedenklich, weil der durchschnittliche Bürger ohne Rechtsmittelbelehrung im Zweifel nicht über solche Rechtsfolgen aufgeklärt wird. Vielleicht könntet ihr diese Problematik anders erklären oder begründen. Danke.

Maximilian Puschmann

Maximilian Puschmann

12.5.2024, 14:46:18

Hallo Simon175, an der Formulierung würde ich mich nicht zu sehr aufhängen, und die ist auch nicht die Begründung, weswegen eine nicht ordnungsgemäße Bekanntgabe grundsätzlich geheilt werden kann. Es geht nur darum, dass eine Heilung ausscheidet, wenn die Behörde gar nicht zustellen wollte. Beispielsweise wenn ein Schreiben aus Versehen verschickt wurde.  Dass bei einer Verletzung von Zustellungsvorschriften eine Heilung grundsätzlich möglich ist, steht wortwörtlich im § 8 VwZG: "(...) oder ist es unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, gilt es als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist."  Auch deine Argumentation mit der fehlenden Rechtsmittelbelehrung nach § 73 III S.1 VwGO läuft etwas fehl, da dies nach § 58 II VwGO auch nur zu dem Start einer verlängerten 1-jährigen Rechtsbehelfsfrist führt, welche mit Zustellung anfängt zu laufen. Dementsprechend ist eine analoge Verwendung des § 58 II VwGO aufgrund einer planwidrigen Regelungslücke in der VwZG und einer vergleichbaren Interessenlage zu folgen.  Deine Bedenken, dass der Bürger ansonsten nicht weiß, was er tun soll, kann ich verstehen, jedoch hat hier der Gesetzgeber sich eindeutig für die Rechtssicherheit entschieden. Ansonsten könnten Entscheidungen noch Jahrzehnte später angefochten werden. Dieses Prinzip durchzieht das Verwaltungsrecht, was auch der Grund ist, weswegen rechtswidrige, unangefochtene Verwaltungsakte in Bestandskraft erwachsen und nicht mehr angefochten werden können.  Beste Grüße  Max - für das Jurafuchs-Team 


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