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Examensklassiker Beweisverwertungsverbot: Verwertung von EncroChat-Daten?
Examensklassiker Beweisverwertungsverbot: Verwertung von EncroChat-Daten?
27. Juni 2023
8 Kommentare
4,7 ★ (21.641 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
T verkauft in Deutschland illegal Kokain in großen Mengen. Ein zentrales Beweismittel für seine Verurteilung sind SMS-Nachrichten, die er über EnchroChat - einen Anbieter von sog. Kryptohandys - versendet hat. Die Daten wurden von französischen Behörden abgefangen und im Rahmen eines Rechtshilfeersuchens an die deutsche Justiz übermittelt.
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Einordnung des Falls
Die BGH hat entschieden, dass Beweismittel, die von dem verschlüsselten Telefonanbieter EncroChat erhalten wurden, vor Gericht zulässig sind. Französische Behörden beschlagnahmten EncroChat-Telefone und erhielten Daten, die zu vielen Strafverfahren in Deutschland führten. § 261 StPO lasse die Verwendung von im Ausland erhaltenen Beweismitteln durch Rechtshilfeersuchen zu. Es lägen keine Gründe vor, um zu glauben, dass die gehemin gebliebenen Methoden der französischen Behörden bei der Beschaffung der Beweise grundlegende Rechte verletzt haben. Deutsche Gerichte müssten nicht prüfen, ob ausländische Behörden Beweise rechtmäßig gemäß ihren eigenen nationalen Regeln erlangt haben.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Hat T sich wegen des unerlaubten Handelns mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 29a Abs. 1 Nr. 2 Var. 1 BtMG strafbar gemacht?
Genau, so ist das!
Jurastudium und Referendariat.
2. Um T die Tat nachzuweisen, bedarf es der von den französischen Behörden an die deutsche Justiz übermittelten SMS-Nachrichten als Beweismittel. Richtet sich die Frage, ob die Nachrichten in einem Strafprozess in Deutschland als Beweismittel verwertet werden dürfen, dabei nach französischem Recht?
Nein, das trifft nicht zu!
3. Sind Beweismittel im deutschen Strafprozess nur dann unverwertbar, wenn in der StPO explizit ein Beweisverwertungsverbot angeordnet ist?
Nein!
4. Die Erlangung der SMS-Nachrichten wäre nach deutschem Recht nicht zulässig gewesen. Unterliegen die von den französischen Behörden erlangten Nachrichten deshalb einem ungeschriebenen, unselbstständigen Beweisverwertungsverbot?
Nein, das ist nicht der Fall!
5. Kommt ein ungeschriebenes, selbstständiges Beweisverwertungsverbot in Betracht, da die gerichtliche Berücksichtigung von SMS-Nachrichten im Beweisverfahren in Grundrechte des T eingreift?
Ja, in der Tat!
6. Unterliegt die Nutzung der Nachrichten einem Verwertungsverbot, wenn der Eingriff in das APR nicht gerechtfertigt war?
Ja!
7. Folgt die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs bereits daraus, dass die Erhebung der Daten nach französischem Recht rechtmäßig erfolgte?
Nein, das ist nicht der Fall!
8. Ist die Verwertung der SMS-Nachrichten, die T über das EnchroChat-Handy versendet hat, nach Auffassung des BGH in jedem Fall unverhältnismäßig und damit unzulässig?
Nein, das trifft nicht zu!
Fundstellen
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Saufen_Fetzt
16.7.2023, 00:43:54
Schwer erträgliches Urteil. Zu recht von vielen kritisiert.
Vanilla Latte
22.10.2023, 23:40:56
Darf ich fragen wieso?

Wendelin Neubert
6.12.2024, 10:53:05
@[Saufen_Fetzt](393) danke für Deine Einschätzung, aber Deine Gründe würden mich auch interessieren, so wie schon @[Vanilla Latte](217055). Das BVerfG hat die Entscheidung des BGH vor Kurzem übrigens bestätigt (Beschl. v. 01.11.2024 – 2 BvR 684/22).

Major Tom(as)
23.1.2025, 16:40:52
Als jemand, der diese Fälle im Schwerpunktbereich ausführlich behandelt hat, würde ich mich hier mal einschalten. Bezogen auf Europarecht hat @[Saufen_Fetzt](393) nämlich definitiv einen Punkt. Diese Funde wurden hier von Deutschland aufgrund einer Europäischen Ermittlungsanordnung (dazu gibt es von der EU die sog. EEA-Richtlinie) verwertet. Grundsätzlich funktioniert das so: Ein (Anordnungs-)Staat denkt, ein anderer Mitgliedsstaat könne in einem bestimmten Fall deren Ermittlungsmaßnahme besser durchführen. Dies ist auch für bereits bestehende Beweismittel anwendbar. Dabei ist Voraussetzung aber (Art. 6 RL-EEA): Die Maßnahme ist notwendig und verhältnismäßig und - (sehr wichtig:) hätte im Anordnungsstaat (hier also Deutschland) vergleichbar erlassen werden können. (Das gilt TROTZ des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung) Die maßgebliche Norm wäre in Deutschland §100b I Nr. 1 StPO gewesen. Danach sind **konkrete Verdachtsmomente** bezüglich einer **besonders schweren Straftat nötig, die im Einzelfall besonders schwer wiegt und bei denen die Ermittlung ansonsten erheblich erschwert oder aussichtslos wäre. Hier hat Frankreich einfach mal alle Encrochat-Nutzerdaten ausgelesen, solche Handys zu nutzen, sei ja "an sich schon verdächtig" (es verwenden aber im Übrigen gerade auch Politiker solche Verschlüsselungen). Auch sonst wurden im Grunde diese Voraussetzungen nicht eingehalten. Der BGH sagt jetzt: Ja, also die Vergleichbarkeit muss bei **bereits erhobenen** Beweisen nicht vorliegen. Das steht so nicht in der Richtlinie und hätte im Grunde genommen gem.
Art. 267 AEUVzwingend (es geht um eine Auslegungsfrage in einem laufenden Strafverfahren) dem EuGH vorgelegt werden müssen. Das ist hier nicht passiert. Zudem gibt es Anhaltspunkte für Verstöße gegen Art. 6 und 8 EMRK - vom BGH **aufgrund der Schwere der Straftaten offensichtlich als nicht berührt** angesehen - was wiederum stark problematisch ist, da es hier um Grundrechtsschutz geht, der allein durch eine hohe Kriminalität (die ja nicht einmal bei allen Nutzern vorliegt) als ausgeschlossen gilt. Das entspricht grds. nicht dem Gedanken der EMRK, Menschen so vom Schutz auszuschließen. Was nach diesem Fall passiert ist: Das LG Berlin (als einziges Vorlagegericht!) hat mittlerweile durch ein Vorlageverfahren erreicht, dass der EuGH am 30.04. 2024 genau das bestätigt, was die Literatur sagt: Deutschland hätte die Maßnahme anordnen können müssen. Der BGH rettet sich (auch 2024) raus, weil ja "tatsächlich mit BtmG-Delikten besonders schwere Straftaten vorliegen" - dass das aber zum Zeitpunkt der Ermittlungen nicht feststand, wird im Sinne des Verurteilungsdrangs mal ganz schnell vergessen.... Deswegen gibt es "in der Branche" von Menschen, die sich mit europäischem Strafrecht auseinander setzen, quasi niemanden, der das gut findet und eine unfassbar hohe Literaturkritik. @[Wendelin Neubert](409) ich hoffe, der obige Kommentar ergibt so Sinn. Sorry für den Aufsatz, ich habe das hier aber als wichtig erachtet und dachte, vllt interessiert es jemanden :)

Johannes Nebe
14.10.2024, 07:16:06
"Umsatz von Betäubungsmitteln" ist zwar auch die Formulierung des BGH. Dennoch ist sie fragwürdig. Die Drogen werden abgesetzt. Aus dem Absatz (der Ware) folgt der Umsatz (
Geld). Manchmal liest man "Umsatz mit Betäubungsmitteln". Das ist besser.

Wendelin Neubert
6.12.2024, 10:55:47
Berechtigter Hinweis @[Johannes Nebe](174311). Wir haben Deine Formulierung noch ergänzt. Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team