Radfahrerfall (BGHSt 11, 1 – Pflichtwidrigkeitszusammenhang) - Jurafuchs


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs-Illustration zum Radfahrerfall (BGHSt 11, 1 – Pflichtwidrigkeitszusammenhang): Ein LKW überholt einen Fahrradfahrer, der sich daraufhin erschrickt.

LKW-Fahrer L lässt nur einen Abstand von 0,75 m zum Radfahrer R. R ist betrunken (1,96 Promille). Als L überholt, erschrickt sich R, gerät unter die Räder und ist tot. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wäre dies auch bei einem angemessenen Abstand von 1 bis 1,5 m passiert.

Einordnung des Falls

Pflichtwidrigkeitszusammenhang („Radfahrerfall“)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Hat L den Tod des R kausal verursacht?

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Ja!

Rspr. und hL bestimmen die Kausalität überwiegend nach der Äquivalenztheorie (= conditio sine qua non Formel). Eine Handlung ist danach kausal, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele.Hätte L nicht mit zu geringem Abstand überholt, wäre R nicht unter die Räder gekommen und gestorben. Dass L den R wahrscheinlich auch beim Überholen mit genügend Abstand überfahren hätte, ist als hypothetischer Kausalverlauf unbeachtlich. Im Rahmen der Kausalität kommt es nur auf das tatsächliche Geschehen an.

2. Ist der Tod des R dem L objektiv zuzurechnen?

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Nein, das ist nicht der Fall!

Bei Fahrlässigkeitsdelikten muss im Rahmen der objektiven Zurechnung auch ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang bestehen. Dieser ist nach der Vermeidbarkeitstheorie (h.M.) gegeben, wenn der konkrete Erfolg bei pflichtgemäßen Alternativverhalten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermeidbar gewesen wäre.Der Unfalltod des R wäre trotz genügend Sicherheitsabstand als rechtmäßigem Alternativverhalten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eingetreten.

3. Bejaht die Risikoerhöhungslehre bejaht den Pflichtwidrigkeitszusammenhang schon dann, wenn das pflichtwidrige Verhalten das Risiko verglichen mit dem rechtmäßigen Alternativverhalten erhöht hat?

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Ja, in der Tat!

Nach der Risikoerhöhungslehre (a.A.) ist der Pflichtwidrigkeitszusammenhang gegeben, wenn das pflichtwidrige Verhalten das Risiko verglichen mit dem rechtmäßigen Alternativverhalten erhöht hat.Der zu geringe Abstand des L beim Überholen hat das Risiko eines Unfalls mit R deutlich erhöht. R's Tod wäre hiernach trotz der Zweifel hinsichtlich des hypothetischen Geschehens dem L zurechenbar. Für die Risikoerhöhungslehre sprechen in Bezug auf rechtsgutskritische Fälle, bei denen sich die Vermeidbarkeit nicht sicher nachweisen lässt, kriminalpolitische Erwägungen.Dagegen spricht, dass durch sie die Verletzungsdelikte contra legem in Gefährdungsdelikte umgedeutet werden.

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Fiona

Fiona

15.3.2023, 13:22:10

Sollte man nicht auch berücksichtigen, dass ein nüchterner Radfahrer erhöht gefährdet worden wäre, durch das riskante Verhalten des L?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

20.3.2023, 16:25:40

Hallo Fiona, inwiefern siehst du eine erhöhte Gefährdung des nüchternen Radfahrers? Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

DE

Doris Eventualis

26.4.2023, 12:20:58

Liebes JuraFuchs Team, in diesem Fall habt ihr angegeben, dass bei der Vermeidbarkeitstheorie der Pflichtwidirgkeitszusammenhang vorliegt, wenn der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei pflichtgemäßem Alternativverhalten entfiele. In den Wiederholungen/Definitionen habt ihr aber betont, dass es nicht auf die Wahrscheinlichkeit ankommt, sondern er vorliegt, wenn der Erfolg bei pflichtgemäßem Alternativverhalten entfällt. Welche Antwort ist nun richtig?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

27.4.2023, 13:28:45

Hallo ElaMaNu, vielen Dank für Deine Nachfrage. In der Definitionsübersicht war bislang folgende Definition vorgegeben: "Der Pflichtwidrigkeitszusammenhang ist gegeben, wenn sich im konkreten Erfolg gerade die Gefahr verwirklicht, die der Täter durch sein pflichtwidriges Verhalten (Sorgfaltspflichtverletzung) geschaffen hat." Dies gilt auch weiterhin. Im Hinweistext war das dann noch einmal vertieft, das haben wir nun auch in die Definition aufgenommen. Der Streit, der sich hier entzündet betrifft die Frage, wann sich im konkreten Erfolg die Gefahr verwirklicht, die mit dem pflichtwidrigen Täterverhalten im Zusammenhang steht. Während die hM strenge Anforderungen hat und verlangt, dass bei ordnungsgemäßem Verhalten der Erfolg "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausbleibt", so liegt nach der Risikoerhöhungslehre ein Zusammenhang bereits in den Fällen vor, in dem das Täterverhalten die Gefahr erhöht hat. Hier kommt es dann nicht auf das Wahrscheinlichkeitsurteil an. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

LO

Lorenz

7.9.2023, 11:02:09

Im Fall ist von "hoher Wahrscheinlichkeit" die Rede und in der Erklärung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Dementsprechend müsste die Zurechnung doch vorliegen...?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

7.9.2023, 11:46:05

Hallo Lorenz, danke für deine Rückfrage. Mit hoher Wahrscheinlichkeit und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sind zwei verschiedene Dinge. Bei letzterer kann man andere Geschehensabläufe quasi ausschließen, weil eben so sicher ist, dass es trotzdem so gekommen wäre. Bei einer hohen Wahrscheinlichkeit ist es eben sehr wahrscheinlich, aber es sind auch andere Alternativen denkbar und nicht ausgeschlossen. Das reicht aber nach der h.M. nicht für eine strafrechtliche Zurechnung. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

LO

Lorenz

14.9.2023, 11:51:30

Ok, aber dann ist die Erklärung im Fall falsch. Dort ist die Rede von an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit.

Christopher M.

Christopher M.

13.1.2024, 11:08:26

Sehe ich wie Lorenz, dann müsste die Antwort "mit hoher Wahrscheinlichkeit" falsch sein. Ist ja eben nicht mit "an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit".

BAP

Bastian P.

26.12.2023, 14:18:14

Hallo JuraFuchs Team, ich habe eine Frage zu dem Fall. Es wird ja gesagt, dass bei pflichtgemäßen Alternativverhalten der Erfolg entfallen muss, damit ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang besteht. Wäre der LkW jedoch hinter dem Radfahrer geblieben, hätte also nicht überholt, wäre der Erfolg ausgeblieben. Würde hier dann nicht ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang bestehen?

Jan

Jan

26.12.2023, 18:18:01

Das plichtgemäße Alternativverhalten liegt ja aber nicht darin, den R nicht zu überholen, man darf Radfahrer schließlich, wenn man genug Abstand hält, überholen. Und wenn jetzt genug Anstand gehalten worden wäre, also der Fahrer sich pflichtgemäß verhalten hätte, wäre der Erfolg laut SV trotzdem eingetreten. Deshalb entfällt die Obj. Zurechnung.

BAP

Bastian P.

26.12.2023, 18:30:51

Danke für die Antwort! Ja das stimmt, ich habe mich jedoch gefragt, ob im Zusammenhang mit § 5 IV StVO das selbe Ergebnis raus kommt. Der LkW Fahrer darf demnach den Radfahrer nicht gefährden. Hier ist jedoch der Sachverhalt ungenau, weil nicht gegeben ist ob der LkW Fahrer hätte erkennen können, dass der Fahrrad Fahrer betrunken ist und er daher NICHT ÜBERHOLEN durfte bzw. nur mit mehr Abstand. Hätte der LkW Fahrer dies erkennen können, hätte er nicht überholen dürfen oder?

Jan

Jan

26.12.2023, 23:52:46

Hmm.. gute frage.. Wenn man dann tatsächlich sagt, die Pflichtverletzung liegt Im Überholen selbst, dann wäre ja zumindest die obj. Zurechnung gegeben. Aber ob man das Überholen als Pflichtverletzung sehen kann weiß ich nicht, müsste man wohl zumindest gut argumentieren.

nullumcrimen

nullumcrimen

9.6.2024, 09:27:44

Entspricht dies der Prüfung der Quasi- Kausalität bei Unterlassungsdelikten? Oder gibt es dort diesbezüglich einen Unterschied?

LELEE

Leo Lee

10.6.2024, 07:14:25

Hallo nullumcrimen, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! Vorab: DU hast völlig Recht! Auch bei der Fahrlässigkeit i.R.d. Alternativverhaltens wird geschaut, was passiert wäre, hätte er sich ordnungsgem. Verhalten. Dies ist im Grunde auch deckungsgleich mit dem Unterlassen insofern, als das Unterlassen eben auch darauf schaut, was der Täter hätte machen MÜSSEN. Summa summarum: Du hast völlig Recht, es sind die gleichen Maßstäbe hier wie bei 13 StGB. Allerdings raten wir dir davon abzusehen, bei der Klausur selbst i.R.d. Fahrlässigkeit den 13 StGB als „Maßstab“ zu erwähnen, da diese TBe streng voneinander zu trennen sind :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo


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