Examensrelevante Rechtsprechung

Rechtsprechung Zivilrecht

Schadensrecht

Werkstattrisiko bei Kfz-Reparaturen (BGH, Urt. v. 16.01.2024 - VI ZR 38/22 u.a.)

Werkstattrisiko bei Kfz-Reparaturen (BGH, Urt. v. 16.01.2024 - VI ZR 38/22 u.a.)

6. Juli 2025

18 Kommentare

4,8(26.911 mal geöffnet in Jurafuchs)

[...Wird geladen]

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Infolge eines Unfalls mit einem bei H haftpflichtversicherten PKW lässt G seinen PKW in Ws Werkstatt reparieren. Hs Haftung ist dem Grunde nach unstreitig. Ws Rechnung enthält eine überteuerte Lackierung sowie eine von W zum Schutz der Beteiligten vorgegebene, aber tatsächlich nicht durchgeführte Covid-Desinfektion (was G nicht erkennen konnte). H zahlt daher nicht.

Diesen Fall lösen [...Wird geladen] der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

...Wird geladen

Einordnung des Falls

Werkstattrisiko bei Kfz-Reparaturen (BGH, Urt. v. 16.01.2024 - VI ZR 38/22 u.a.)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. G hat grundsätzlich einen Anspruch auf Schadensersatz gegen H wegen der Beschädigung seines Autos. Ergibt sich der Umfang des Schadensersatzes aus den §§ 249ff. BGB?

Ja, in der Tat!

Nach § 249 Abs. 1 BGB kann die geschädigte Person zunächst die Herstellung des Zustands vor dem schädigenden Ereignis verlangen kann (sog. Naturalrestitution). Wenn wegen Verletzung einer Person oder wegen Beschädigung einer Sache Schadensersatz zu leisten ist, so kann der Geschädigte gemäß § 249 Abs. 2 S. 1 BGB statt der Herstellung den dazu erforderlichen Geldbetrag verlangen (sog. Ersetzungsbefugnis). Hs Haftung ergibt sich aus § 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG. Da sie dem Grunde nach unstreitig ist, wird sie hier nicht weiter thematisiert. Übungsfälle zur Haftung bei einem Verkehrsunfall findest du hier . Parallel zur hier zitierten Entscheidung ergingen vier weitere Urteile des BGHs, in denen er in verschiedenen Konstellationen präzisierte, wer das Risiko trägt, wenn der Schädiger einwendet, die von der Werkstatt gestellte Rechnung sei überhöht (Werkstattrisiko). Wir haben hier die wichtigsten Punkte aus allen Entscheidungen zusammengefasst.
Rechtsgebiet-Wissen in 5min testen
Teste mit Jurafuchs kostenlos dein Rechtsgebiet-Wissen in nur 5 Minuten.

2. Nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB kann G von H den erforderlichen Geldbetrag zur Wiederherstellung seines Autos verlangen.

Ja!

Besteht ein Schadensersatzanspruch wegen der Beschädigung einer Sache, so kann der Geschädigte gemäß § 249 Abs. 2 S. 1 BGB den Geldbetrag verlangen, der zur Wiederherstellung der Sache erforderlich ist. Erforderlich i.S.d. Norm sind die Kosten dann, wenn sie vom Standpunkt eines verständigen, wirtschaftlich denkenden Menschen in der Lage des Geschädigten zur Behebung des Schadens zweckmäßig und notwendig erscheinen (= Wirtschaftlichkeitsgebot) (RdNr. 11). Grundsätzlich sind Reparaturkosten über § 249 Abs. 2 S. 1 BGB ersatzfähig. Allerdings muss der konkrete Reparaturaufwand auch erforderlich sein.

3. Die Kosten zur Wiederherstellung von Gs Auto müssten dem Wirtschaftlichkeitsgebot entsprechen. War der überteuerte Lack erforderlich i.S.v. § 249 Abs. 2 S. 1 BGB?

Nein, das ist nicht der Fall!

Zwar ist der Geschädigte nach schadensrechtlichen Grundsätzen in der Wahl der Mittel zur Schadensbehebung frei und darf zur Schadensbeseitigung grundsätzlich den Weg einschlagen, der aus seiner Sicht seinen Interessen am besten zu entsprechen scheint. Jedoch kann er vom Schädiger nach § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB als erforderlichen Herstellungsaufwand nur die Kosten erstattet verlangen, die vom Standpunkt eines verständigen, wirtschaftlich denkenden Menschen in der Lage des Geschädigten zur Behebung des Schadens zweckmäßig und notwendig erscheinen (Wirtschaftlichkeitsgebot) (RdNr. 11). Vom Standpunkt eines wirtschaftlich denkenden Menschen hätte ein günstigerer Lack, der den Schaden gleichermaßen behoben hätte, ausgereicht. Ohne den überteuerten Lack auf der Rechnung anzuführen, hätte die Reparatur günstiger ausfallen können. Mithin entsprechen solche überhöhten Rechnungspositionen nicht dem wirtschaftlichsten Weg und sind daher nicht erforderlich im Sinne des § 249 Abs. 2 BGB.

4. Zu beachten ist aber, dass der Geschädigte regelmäßig begrenzte Erkenntnis- und Einwirkungsmöglichkeiten bei der Schadensregulierung hat. Könnte das dafür sprechen, dass G die Kosten für den teuren Lack doch von H verlangen kann?

Ja, in der Tat!

BGH: Der Geschädigte ist nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot gehalten, im Rahmen des ihm Zumutbaren den wirtschaftlichsten Weg der Schadensbehebung zu wählen, sofern er die Höhe der Kosten beeinflussen kann. Allerdings ist bei der Beurteilung, welcher Herstellungsaufwand erforderlich ist, auch Rücksicht auf die spezielle Situation des Geschädigten, insbesondere auf seine Erkenntnis- und Einflussmöglichkeiten sowie auf die möglicherweise gerade für ihn bestehenden Schwierigkeiten zu nehmen (sog. subjektbezogene Schadensbetrachtung).

5. Gs Fahrzeug befand sich zur Reparatur in einer Fachwerkstatt und damit außerhalb von Gs Einflussmöglichkeiten. Kann G daher von H die Kosten für die überteuerte Lackierung ersetzt verlangen?

Ja!

Sobald der Geschädigte das Unfallfahrzeug in die Hände von Fachleuten gibt, entzieht sich die Schadensbeseitigung seinem Einfluss. Dies ist zu berücksichtigen. BGH: Übergibt der Geschädigte das beschädigte Fahrzeug an eine Fachwerkstatt zur Instandsetzung, ohne dass ihn insoweit ein (insbesondere Auswahl- oder Überwachungs-)Verschulden trifft, sind die anfallenden Reparaturkosten im Verhältnis des Geschädigten zum Schädiger wegen der subjektbezogenen Schadensbetrachtung auch dann vollumfänglich ersatzfähig, wenn sie etwa wegen überhöhter Ansätze von Material oder Arbeitszeit oder wegen unsachgemäßer oder unwirtschaftlicher Arbeitsweise der Werkstatt unangemessen, mithin nicht erforderlich im Sinne von § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB sind. Das Risiko von unnötigen Reparaturschritten trägt insofern grundsätzlich der Schädiger (sog. Werkstattrisiko).

6. Nach dem BGH sind Grundsätze des sog. Werkstattrisikos auch auf tatsächlich nicht durchgeführten Maßnahmen - wie hier die Covid-Desinfektion - anwendbar. Kann G daher auch diesen Rechnungsposten von H ersetzt bekommen?

Genau, so ist das!

BGH: Die Grundsätze zum Werkstattrisiko gelten auch für Rechnungspositionen, die sich auf - für den Geschädigten nicht erkennbar - tatsächlich nicht durchgeführte einzelne Reparaturschritte und -maßnahmen beziehen. Denn auch diese haben ihren Grund darin, dass die Schadensbeseitigung in einer fremden, vom Geschädigten nicht kontrollierbaren Einflusssphäre stattfinden muss (RdNr. 15). Für G war nicht erkennbar, dass die Covid-Desinfektion tatsächlich nicht durchgeführt wurde. Das Werkstattrisiko trägt also ebenfalls der Schädiger. G kann die Zahlung der Rechnungsposition für die nicht durchgeführte Maßnahme verlangen. Nicht erfasst vom Werkstattrisiko sind jedoch Reparaturen von nicht unfallbedingten Schäden, die nur bei Gelegenheit der Instandsetzungsarbeiten mitausgeführt worden sind.

7. Unterstellt, G hat die Rechnung der Werkstatt bisher selbst nicht beglichen. Schließt dies Gs Schadensersatzanspruch gegen H aus?

Nein, das trifft nicht zu!

BGH: Die Anwendung der Grundsätze zum Werkstattrisiko setzt nicht voraus, dass der Geschädigte die Reparaturrechnung der Werkstatt bereits beglichen hat. Soweit der Geschädigte die Rechnung noch nicht bezahlt hat, kann er - wenn er das Werkstattrisiko nicht selbst tragen will - die Zahlung aber nur an die Werkstatt verlangen und nicht an sich selbst (RdNr. 16). Näheres dazu erläutert der BGH im Urteil VI ZR 253/22. Lies zur Vertiefung auch die Urteile BGH VI ZR 38/22 sowie BGH VI ZR 239/22. Hier urteilte der Senat, dass sich die Option des Geschädigten, sich auch bei unbeglichener Rechnung auf das Werkstattrisiko zu berufen, aus Gründen des Vorteilsausgleichs nicht im Wege der Abtretung auf Dritte übertragen lässt.

8. G durfte grundsätzlich darauf vertrauen, dass die Werkstatt wirtschaftlich handelt. Hätte er also vor Beauftragung der Werkstatt zunächst ein Sachverständigengutachten einholen müssen, um dem Wirtschaftlichkeitsgebot Rechnung zu tragen?

Nein!

Bei Beauftragung einer Fachwerkstatt darf der Geschädigte grundsätzlich darauf vertrauen, dass diese keinen unwirtschaftlichen Weg für die Schadensbeseitigung wählt. Er ist daher aufgrund des Wirtschaftlichkeitsgebots nicht gehalten, vor der Beauftragung der Werkstatt zunächst ein Sachverständigengutachten einzuholen und den Reparaturauftrag auf dieser Grundlage zu erteilen (RdNr. 21).

9. Im Ergebnis muss H dem G für die überteuerte Lackierung sowie die nicht durchgeführte Covid-Desinfektion Schadensersatz leisten (§ 249 Abs. 2 Satz 1 BGB).

Genau, so ist das!

Aufgrund des Werkstattrisikos kann G gegen H einen Schadensersatzanspruch auch für die überteuerte Lackierung und die tatsächlich nicht durchgeführte Covid-Desinfektion des PKW geltend machen. Hat G die Werkstattrechnung selbst noch nicht beglichen, kann er jedoch Zahlung nur direkt an die Werkstatt verlangen. In einer späteren Entscheidung im Jahre 2024 hat der BGH die Grundsätze der Werkstattrisikos auf einen Sachverständigen angewendet. Die Entscheidung haben wir hier für Dich aufbereitet! Der Problemkreis des Werkstattrisikos und die dahinterstehenden Überlegungen bieten viel Stoff für Examensklausuren. Mache dich daher mit dieser Problematik gut vertraut.
Dein digitaler Tutor für Jura
Rechtsgebiet-Wissen testen
Jurafuchs
Eine Besprechung von:
Jurafuchs Brand
facebook
facebook
facebook
instagram

Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Dein digitaler Tutor für Jura
Rechtsgebiet-Wissen testen