Zivilrecht
Examensrelevante Rechtsprechung ZR
Schadensrecht
Werkstattrisiko bei Kfz-Reparaturen (BGH, Urt. v. 16.01.2024 - VI ZR 38/22 u.a.)
Werkstattrisiko bei Kfz-Reparaturen (BGH, Urt. v. 16.01.2024 - VI ZR 38/22 u.a.)
19. April 2025
11 Kommentare
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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Infolge eines Unfalls mit einem bei H haftpflichtversicherten PKW lässt G seinen PKW in Ws Werkstatt reparieren. Hs Haftung ist dem Grunde nach unstreitig. Ws Rechnung enthält eine überteuerte Lackierung sowie eine von W zum Schutz der Beteiligten vorgegebene, aber tatsächlich nicht durchgeführte Covid-Desinfektion (was G nicht erkennen konnte). H zahlt daher nicht.
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Einordnung des Falls
Werkstattrisiko bei Kfz-Reparaturen (BGH, Urt. v. 16.01.2024 - VI ZR 38/22 u.a.)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. G hat grundsätzlich einen Anspruch auf Schadensersatz gegen H wegen der Beschädigung seines Autos. Ergibt sich der Umfang des Schadensersatzes aus den §§ 249ff. BGB?
Ja, in der Tat!
Jurastudium und Referendariat.
2. Nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB kann G von H den erforderlichen Geldbetrag zur Wiederherstellung seines Autos verlangen.
Ja!
3. Die Kosten zur Wiederherstellung von Gs Auto müssten dem Wirtschaftlichkeitsgebot entsprechen. War der überteuerte Lack erforderlich i.S.v. § 249 Abs. 2 S. 1 BGB?
Nein, das ist nicht der Fall!
4. Zu beachten ist aber, dass der Geschädigte regelmäßig begrenzte Erkenntnis- und Einwirkungsmöglichkeiten bei der Schadensregulierung hat. Könnte das dafür sprechen, dass G die Kosten für den teuren Lack doch von H verlangen kann?
Ja, in der Tat!
5. Gs Fahrzeug befand sich zur Reparatur in einer Fachwerkstatt und damit außerhalb von Gs Einflussmöglichkeiten. Kann G daher von H die Kosten für die überteuerte Lackierung ersetzt verlangen?
Ja!
6. Nach dem BGH sind Grundsätze des sog. Werkstattrisikos auch auf tatsächlich nicht durchgeführten Maßnahmen - wie hier die Covid-Desinfektion - anwendbar. Kann G daher auch diesen Rechnungsposten von H ersetzt bekommen?
Genau, so ist das!
7. Unterstellt, G hat die Rechnung der Werkstatt bisher selbst nicht beglichen. Schließt dies Gs Schadensersatzanspruch gegen H aus?
Nein, das trifft nicht zu!
8. G durfte grundsätzlich darauf vertrauen, dass die Werkstatt wirtschaftlich handelt. Hätte er also vor Beauftragung der Werkstatt zunächst ein Sachverständigengutachten einholen müssen, um dem Wirtschaftlichkeitsgebot Rechnung zu tragen?
Nein!
9. Im Ergebnis muss H dem G für die überteuerte Lackierung sowie die nicht durchgeführte Covid-Desinfektion Schadensersatz leisten (§ 249 Abs. 2 Satz 1 BGB).
Genau, so ist das!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
jonas0108
16.11.2024, 08:35:30
Hat die Versicherung dann wiederum Regressansprüche gegen die Werkstatt? Gerade im Hinblick auf die tatsächlich nicht durchgeführte Covid-D
esinfektion erscheint es mir unbillig, die Werkstatt zu bevorteilen. Vielen Dank im Voraus für eine Antwort :)

Sebastian Schmitt
5.1.2025, 11:37:07
Hallo @[jonas0108](145364), deine Idee ist völlig richtig. Es gibt hier keinen Grund, der Werkstatt ihren Vorteil zu belassen, den sie ja ohnehin nur dadurch erlangt hat, dass sie unwirtschaftlich gearbeitet/überteuerte Kosten angesetzt hat (Lackierung) bzw die abgerechnete Leistung (bewusst?) überhaupt nicht erbracht hat (D
esinfektion). Wie man das Ganze in der Abwicklung genau löst, ist keine ganz leichte Frage und führt in den Details tief ins komplexe SchadensR der §§ 249 ff BGB. Ausgangspunkt ist das sog Werkstattrisiko, das wir auch in der Aufgabe ansprechen: "Übergibt der Geschädigte das beschädigte Fahrzeug an eine Fachwerkstatt zur Instandsetzung, ohne dass ihn insoweit ein (insbesondere Auswahl- oder Überwachungs-)Verschulden trifft, sind die dadurch anfallenden Reparaturkosten im Verhältnis des Geschädigten zum Schädiger deshalb auch dann voll umfänglich ersatzfähig, wenn sie aufgrund unsachgemäßer oder unwirtschaftlicher Arbeitsweise der Werkstatt im Vergleich zu dem, was für eine entsprechende Reparatur sonst üblich ist, unangemessen sind. In einem solchen Fall bestehende Ansprüche des Geschädigten gegen den Werkstattbetrieb spielen nur insoweit eine Rolle, als der Schädiger im Rahmen des Vorteilsausgleichs deren
Abtretungverlangen kann. Diese subjektbezogene Schadensbetrachtung kommt auch zur Anwendung, wenn der Geschädigte die Werkstattrechnung (noch) nicht bezahlt hat." (BGH NJW 2022, 2840, Ls 4) Überhöhte Rechnungen und tatsächlich nicht erbrachte, aber abgerechnete Leistungen sind also zunächst mal das Risiko und Problem des Schädigers, falls der Geschädigte die Werkstatt iR seiner Möglichkeiten ordentlich ausgesucht hat. Natürlich verhält die Werkstatt sich aber vertragswidrig, wenn sie zu teuer abrechnet oder abgerechnete Leistungen überhaupt nicht erbringt. Bei bereits bezahlter Rechnung reden wir also in der Sache jedenfalls über teilweise Rückzahlungsansprüche, wobei uns an dieser Stelle nicht interessieren muss, worauf genau sie beruhen. Nun juckt das unseren Geschädigten oft nur bedingt, denn er bekommt das
Geldja sowieso und grds in voller Höhe vom Kfz-Haftpflichtversicherer der Gegenseite. Der Schädiger hat dann nach dem BGH aber iRd
schadensrechtlichen Vorteilsausgleichs (TdL: § 255 BGB analog) wiederum einen
Anspruch auf Abtretungder Ersatzansprüche des Geschädigten gegen die Werkstatt: "[Direkt im Anschluss an das Zitat oben:] In einem solchen Fall bestehende Ansprüche des Geschädigten gegen den Werkstattbetrieb spielen nur insoweit eine Rolle, als der Schädiger im Rahmen des Vorteilsausgleichs deren
Abtretungverlangen kann." (BGH NJW 2022, 2840, Ls 4) Diese Ansprüche müssen aber natürlich erstmal gegen die Werkstatt geltend gemacht werden, das Prozess- und Insolvenzrisiko liegt also insoweit beim Schädiger bzw dessen Haftpflicht-Versicherer. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team
jonas0108
8.1.2025, 14:13:13
Vielen Dank für deine Antwort, das hat mir sehr geholfen
Niro95
16.11.2024, 09:14:41
Inwiefern ist denn eine Covid-D
esinfektion iSv § 249 II erforderlich für die Wiederherstellung des Fahrzeugs? Das erschließt sich mir nicht.

Amelie
16.11.2024, 16:25:42
Vielleicht konnten die Mitarbeiter der Werkstatt nur nach erfolgter D
esinfektion die Reparatur beginnen
david1234
18.11.2024, 10:39:41
Die Frage habe ich mir auch gestellt - vllt. War das unter den damaligen C-Verordnungen gefordert oder wird aus dem Gesundheitsschutz abgeleitet, der ja auch wieder durch den Schädiger kausal ausgelöst wurde. Hierbei finde ich den Sachverhalt zu dünn, sollte die D
esinfektion lediglich eine Option gewesen sein und nicht von der Werkstatt vorgegeben, würde ich die
Erforderlichkeitablehnen und das allgemeine Lebensrisiko in den Vordergrund stellen.

Sebastian Schmitt
29.12.2024, 20:04:09
Hallo @[Niro95](239383), die Antworten von @[Amelie](127664) und @[david1234](229145) gehen schon genau in die richtige Richtung. Rechtlich vorgeschrieben waren solche D
esinfektionsmaßnahmen damals nicht, aber dennoch ein häufiges Thema. Ihr werdet Euch erinnern: Gerade in der Anfangszeit ging es häufig noch um die Oberflächend
esinfektion zur Eindämmung der Pandemie. Zu dieser Zeit wurden ua von Kfz-Werkstätten die Fahrzeuge häufig bei Einlieferung in die Werkstatt und/oder vor Auslieferung des reparierten Fahrzeugs an den Kunden d
esinfiziert. Eine Wahl hatte der Kunde insoweit typischerweise nicht, was wir jetzt auch in der Sachverhaltsdarstellung angedeutet haben. Der BGH hat entschieden, dass solche D
esinfektionskosten grds ersatzfähige Schadenspositionen waren. So hieß es in einer sehr aktuellen Entscheidung wörtlich: "Bei der Beurteilung, ob die durchgeführten Corona-Schutzmaßnahmen objektiv erforderlich waren, ist zu berücksichtigen, dass einem Werkstattbetreiber als Unternehmer gewisse Entscheidungsspielräume hinsichtlich seines individuellen Hygienekonzepts während der Corona-Pandemie zuzugestehen sind (vgl. entsprechend zu Sachverständigenkosten Senat NJW 2024, 2035 Rn. 29; NJW 2023, 1057 Rn. 16). Dabei geht es entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung nicht nur um den Schutz der Mitarbeiter der Werkstatt vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus, sondern auch um den Schutz, den der Auftraggeber der Reparatur während der Pandemie im Hinblick auf Maßnahmen, die in seinem Fahrzeug durchgeführt werden, üblicherweise bzw. aufgrund der Gepflogenheiten während der Pandemie erwarten darf; diesen Erwartungen zu entsprechen ist ein berechtigtes Anliegen der Werkstatt." (BGH NJW 2024, 2324, 2326, Rn 24) Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team
Tin
10.2.2025, 09:21:53
Sofern der teure Lack vorher mit G abgesprochen wurde, müsste man sagen, dass diese Ausgaben nicht erforderlich waren. Würde man G dann den Betrag zusprechen, der erforderlich gewesen wäre, sodass G die Differenz selber tragen muss ?

Meisterr
1.4.2025, 16:13:39
Ist es hier möglich bzgl. der Frage, ob der Geschädigte den Anspruch auch hat, wenn er die Rechnung noch nicht bezahlt hat, eine Anwendung von § 257 BGB analog anzuwenden? Zwar geht es hier nur um Aufwendungen und nicht um Schäden, aber ist es vom Sinn her nicht gleich (iS einer vergleichbaren Interessenslage). Inwiefern hier eine Regelungslücke bestehen könnte, kann man bestimmt mit etwaigen Sachverhaltsinformationen argumentieren oder?