+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Soweit das Wahlverfahren zum Europäischen Parlament nicht durch Unionsrecht geregelt ist, wird dies von den Mitgliedstaaten selbst festgelegt. Das deutsche Europawahlgesetz enthält eine Regelung, wonach bei der Verteilung der Sitze nur Wahlvorschläge berücksichtigt werden, die mindestens 3% der im Wahlgebiet abgegeben gültigen Stimmen erhalten haben.
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Einordnung des Falls
3%-Sperrklausel Europawahl
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Deutschland stehen 96 Sitze im Europäischen Parlament zu. Die Sitzverteilung auf die Listen der Parteien erfolgt nach den Grundsätzen der Verhältniswahl.
Genau, so ist das!
Die insgesamt 750 Sitze im Europäischen Parlament werden durch Beschluss des Europäischen Rates auf die Mitgliedstaaten verteilt. Deutschland steht danach die maximale Anzahl von 96 Sitzen zu. Das Wahlverfahren wird in Deutschland durch das Europawahlgesetz (EuWG) festgelegt. Danach erfolgt die Wahl nach den Grundsätzen einer Verhältniswahl mit Listenwahlvorschlägen. Die Wahlberechtigten haben eine Stimme, die sie für die Liste einer Partei abgeben können. Die 96 Sitze werden dann nach dem Verhältnis der für die jeweiligen Listen abgegeben gültigen Stimmen aufgeteilt. Eine ausführlichere Erklärung, wie die Europawahl in Deutschland ausgestaltet ist, findest Du im Kapitel zu den Wahlsystemen. Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
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2. Die 3%-Sperrklausel könnte gegen Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG verstoßen. Gilt die Vorschrift auch für die Wahl des Europäischen Parlaments?
Nein, das trifft nicht zu!
Das Europawahlgesetz (EuWG) muss als einfaches Bundesgesetz im Einklang mit der Verfassung stehen. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG legt die Wahlrechtsgrundsätze ausdrücklich nur für die Wahl des Deutschen Bundestages fest. Die Ausgestaltung des Wahlverfahrens zur Wahl des Europäischen Parlaments im EuGW ist daher nicht an Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG zu messen.
3. Die Sperrklausel könnte gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen.
Ja!
Die Wahlrechtsgleichheit aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG ist eine spezielle Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG. Ist Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG nicht einschlägig, kommt dennoch ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz als Auffanggrundrecht in Betracht. Aus Art. 3 Abs. 1 GG ergibt sich nach der Rspr. des BVerfG der Grundsatz der Gleichheit der Wahl der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments (BVerfGE 51, 222, RdNr. 234 f.). Es werden daher dieselben Grundsätze angewandt, wie i.R.d. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG. Im Originalurteil prüft das BVerfG zudem einen Verstoß gegen den Grundsatz der politischen Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG. Wir konzentrieren uns an dieser Stelle auf die Gleichheit der Wahl.
4. Aus dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit folgt für das Wahlgesetz, dass die Stimme eines jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zähl- und Erfolgswert haben muss. Beeinträchtigt die 3%-Sperrklausel die Erfolgswertgleichheit?
Genau, so ist das!
Die Wahlgleichheit gebietet, dass alle Wählenden mit ihrer Stimme den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben. Im Rahmen einer Verhältniswahl muss jede Stimme grundsätzlich den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden Vertretung haben. Denn das Ziel des Verhältniswahlsystems ist es, dass die die Zusammensetzung des Parlaments die abgegeben Stimmen für die Parteien möglichst genau widerspiegelt. Bei der Zusammensetzung der 96 Sitze im Parlament werden nur die Stimmen berücksichtigt, die für eine Liste abgegeben wurde, die insgesamt mehr als 3 % aller abgegeben Stimmen erhalten hat. Demgegenüber werden alle Stimmen, die für eine Liste abgegeben werden, die an der 3%-Hürde scheitert, bei der Zusammensetzung des Parlaments nicht berücksichtigt. Hierin liegt eine Beeinträchtigung der Erfolgswertgleichheit.
5. Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit unterliegt einem absoluten Differenzierungsverbot.
Nein, das trifft nicht zu!
Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit unterliegt keinem absoluten Differenzierungsverbot. Das bedeutet, dass eine Beeinträchtigung grundsätzlich gerechtfertigt sein kann. Aus dem formalen Charakter der Grundsätze der Wahlgleichheit folgt allerdings, dass dem Gesetzgeber bei der Bestimmung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen verbleibt. Differenzierungen bedürfen nach st. Rspr. des BVerfG zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten, zwingenden Grundes. Das bedeutet nicht, dass sich die Notwendigkeit der Differenzierung direkt aus der Verfassung ergeben muss. Differenzierungen im Wahlrecht können vielmehr auch durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, welches mit dem Gewicht der Wahlrechtsgrundsätze die Waage halten kann. Hierzu zählen vor allem auch die mit einer Wahl verfolgten Ziele. Die Rechtfertigung einer Beeinträchtigung der politischen Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG unterliegt nach Rspr. des BVerfG ebenfalls diesem Maßstab. Es kommen daher dieselben Rechtfertigungsgründe in Betracht.
6. Die Beeinträchtigung der Gleichheit der Wahl könnte hier zur Sicherung des Charakters der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes gerechtfertigt sein.
Ja!
Eine Differenzierung im Wahlrecht kann durch besondere sachliche Gründe gerechtfertigt sein. Hierzu zählen insbesondere die mit der Wahl verfolgten Zwecke. Dazu gehört die Sicherung des Charakters der Wahl Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes. Hiermit hängt nach st. Rspr. des BVerfG die Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung zusammen. Eine Wahl hat nicht nur das Ziel, einfach irgendeine Volksvertretung zu schaffen, sondern diese soll vielmehr auch ein funktionierendes Vertretungsorgan sein. Eine große Zahl kleiner Parteien und Wählervereinigungen in einer Volksvertretung kann zu ernsthaften Beeinträchtigungen ihrer Handlungsfähigkeit führen: Es ist schwieriger, Entscheidungen zu treffen, wenn es z.B. 180 verschiedene Parteien (und damit politische Ausrichtungen) in einem Parlament gibt, als z.B. nur 60.
7. Die 3%-Sperrklausel müsste geeignet und erforderlich sein, um die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments zu sichern.
Genau, so ist das!
Differenzierende Regelungen müssen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein. Der Gesetzgeber darf sich bei seiner Einschätzung und Bewertung nicht an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen, sondern nur an der politischen Wirklichkeit orientieren.
8. Ist die 3%-Sperrklausel geeignet und erforderlich, um die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments zu sichern, und damit verfassungsrechtlich gerechtfertigt?
Nein, das trifft nicht zu!
Das BVerfG führt aus, dass die 3%-Sperrklausel des EuWG anders beurteilt werden müsse, als die 5%-Sperrklausel des nationalen BWahlG. Denn ohne die 5%-Sperrklausel bestünde tatsächlich eine erhebliche Gefahr der Parlamentszersplitterung im Deutschen Bundestag. Dies sei bei der Wahl des Europäischen Parlaments anders. Aufgrund der besonderen Gegebenheiten bei einer Europawahl, nämlich dem Umstand, dass die anderen Mitgliedstaaten ebenfalls einen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments haben, seien präzise Prognosen zur Entwicklung des Parlaments zwar nicht möglich. Allerdings sei aufgrund der hohen Integrationsfähigkeit der Fraktionen im EU-Parlament nicht hinreichend ersichtlich, dass ohne die 3%-Sperrklausel des Deutschen Gesetzgebers eine Zersplitterung des Europäischen Parlaments zu erwarten ist. Die Regelung ist damit nicht erforderlich. Diese Argumentation hat das BVerfG ausführlich in dem vorangegangen Urteil zur ehemaligen 5%-Sperrklausel im EuWG entwickelt (BVerfGE 129, 300, RdNr. 96ff.). Bezüglich der 3%-Sperrklausel verweist das BVerfG im Wesentlichen auf diese Feststellungen (BVerfGE 135, 259, RdNr. 37). Die Sachlage habe sich nicht derart verändert, dass eine andere Einschätzung geboten wäre (RdNr. 60ff.)
9. Mangels Rechtfertigung ist die Sperrklausel nicht mit den Maßstäben aus Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Das Gesetz ist verfassungswidrig.
Ja!
Ist eine Ungleichbehandlung i.R.v. Art. 3 Abs. 1 GG nicht gerechtfertigt, so ist diese verfassungswidrig. Verstößt ein Gesetz gegen Verfassungsrecht, wird es vom BVerfG für nichtig erklärt. Die 3%-Sperrklausel (§ 2 Abs. 7 EuWG a.F.) war verfassungswidrig und wurde daher vom BVerfG – genau wie die vorangegangen 5%-Sperrklausel für Wahl des Europäischen Parlaments – für nichtig erklärt. Folglich gilt für die Wahl zum Europäischen Parlament keine Sperrklausel.
Es gab und gibt auf EU-Ebene diverse Bestrebungen, das zu ändern, insbesondere durch den so genannten Direktwahlakt 2018, nach dem Deutschland im Ergebnis eine Sperrklausel von mindestens 2% und höchstens 5% einführen müsste. Das BVerfG hat 2024 keine Einwände gegen eine solche Einführung auf EU-Ebene geäußert. Mangels Ratifizierung durch sämtliche Mitgliedstaaten bleibt es aber bisher dabei, dass in Deutschland keine Sperrklausel bei den Wahlen zum Europäischen Parlament gilt.