Öffentliches Recht

Grundrechte

Allgemeine Grundrechtslehren

Grundfall zur mittelbaren Drittwirkung / Ausstrahlung der Grundrechte ins Privatrechtsverhältnis

Grundfall zur mittelbaren Drittwirkung / Ausstrahlung der Grundrechte ins Privatrechtsverhältnis

22. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Publizist P stellt sein Verlagsangebot radikal um: er verlegt nur noch Ernährungsbücher mit dem Themenschwerpunkt Steinzeit-Diät. Da er „Konflikte” befürchtet, entlässt er fristlos alle Vegetarier und Veganer, so auch Veganer V, der dagegen klagt. Arbeitsgericht A verkennt die Bedeutung der Weltanschauungsfreiheit grundlegend und weist Vs Klage ab.

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Einordnung des Falls

Grundfall zur mittelbaren Drittwirkung / Ausstrahlung der Grundrechte ins Privatrechtsverhältnis

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. P ist als Arbeitgeber Grundrechtsadressat und damit im Verhältnis zu seinen Mitarbeitern unmittelbar an die Achtung der Grundrechte gebunden.

Nein, das trifft nicht zu!

Grundrechte wie die Weltanschauungsfreiheit stellen dem klassischen Verständnis nach Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat dar. Privatpersonen sind somit keine unmittelbaren Grundrechtsadressaten und können daher nicht unmittelbar die Grundrechte anderer verletzen. P ist als privater Arbeitgeber kein Grundrechtsadressat und damit im Verhältnis zu seinen Mitarbeitern nicht unmittelbar an die Achtung der Grundrechte gebunden. Ausnahmsweise entfalten die Grundrechte auch dort zwischen Privaten unmittelbare Wirkung, wo sich dies aus dem Verfassungstext ergibt. Dies gilt nur für die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG) und die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG).
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2. Im Verhältnis zwischen Privaten – wie zwischen P und V – können die Grundrechte jedoch mittelbare Wirkung entfalten.

Ja!

Privatpersonen können keine unmittelbaren Grundrechtsadressaten sein und daher nicht unmittelbar die Grundrechte anderer verletzen. Grundrechte gelten jedoch trotzdem mittelbar im Verhältnis der Bürger untereinander als objektive Werteordnung (mittelbare Drittwirkung der Grundrechte). Die Grundrechte finden in das Privatrechtsverhältnis Eingang durch offene Rechtsbegriffe (z.B. Treu und Glauben i.S.d. § 242 BGB). Zur Durchsetzung dieser mittelbaren Drittwirkung müssen Gerichte die Grundrechte bei der Begutachtung privatrechtlicher Verhältnisse beachten.Im Verhältnis Privater untereinander, wie hier zwischen P und V, gelten die Grundrechte somit mittelbar, bilden sie auch hier die Grundlage der rechtlichen Verhältnisse als Teil einer objektiven Wertordnung.

3. Veganismus, wenn stringent und ganzheitlich praktiziert, kann eine Weltanschauung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG darstellen.

Genau, so ist das!

Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthalten ein einheitliches Grundrecht. Über den Wortlaut hinaus ist nicht nur das „weltanschauliche Bekenntnis“ geschützt, sondern umfassend die Weltanschauungsfreiheit. Im Unterschied zum Glauben kennzeichnet die Weltanschauung i.S.d. Art. 4 Abs. 1 GG eine areligiöse oder atheistische Sinndeutung der Welt. Eine Weltanschauung weist daher in der Regel keine außerweltlichen oder überirdischen Bezüge auf. Soweit die vegane Ernährung als Ausdruck einer verfestigten, konsequenten, ethisch begründeten umfassenden veganen Lebensweise ist, fällt diese nach der Rechtsprechung unter die Definition der Weltanschauungsfreiheit als ganzheitliche areligiöse Sinndeutung der Welt. Veganismus kann somit eine Weltanschauung nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG darstellen.

4. Die Entlassung durch P stellt einen Eingriff in den Schutzbereich der Weltanschauungsfreiheit von V dar.

Nein, das trifft nicht zu!

Der Schutzbereich der Weltanschauungsfreiheit ist betroffen, wenn der Staat eine der geschützten Verhaltensweisen in irgendeiner Weise regelt oder faktisch behindert. Voraussetzung eines Grundrechtseingriffs ist somit grundsätzlich staatliches Handeln. Bei der Entlassung des V durch P handelt es sich nicht um staatliches Handeln, da P eine Privatperson ist. Es bestehen keinerlei Hinweise dafür, dass der Staat Träger von Ps Verlag ist. Die Entlassung durch P stellt somit keinen staatlichen Eingriff in den Schutzbereich der Weltanschauungsfreiheit von V dar.

5. Die Entscheidung des Gerichts, welche die Bedeutung von Vs Weltanschauungsfreiheit grundlegend verkennt und seine Klage abweist, greift in Vs Weltanschauungsfreiheit ein.

Ja!

Grundrechte gelten mittelbar im Verhältnis von Bürgern untereinander als objektive Werteordnung (mittelbare Drittwirkung der Grundrechte). Zur Durchsetzung dieser mittelbaren Drittwirkung müssen Gerichte die Grundrechte bei der Begutachtung privatrechtlicher Verhältnisse beachten. Dabei müssen sie bei der Auslegung einfachgesetzlicher Vorschriften die Bedeutung und Tragweite potentiell relevanter Grundrechtsnormen ausreichend in Betracht ziehen.Im Falle einer gerichtlichen Entscheidung einer Rechtssache zwischen Privatpersonen hat das Gericht die Bedeutung und Tragweite der relevanten Grundrechte als objektive Werteordnung zu beachten. Verkennt es diese – wie hier – grundlegend, greift es damit als staatlicher Akteur in den Schutzbereich der Weltanschauungsfreiheit ein.Wir behandeln die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte vertieft im weiteren Verlauf dieses Kurses.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Philip

Philip

31.10.2024, 22:54:10

Ist damit z.B. gemeint, dass es weitere Gesetze gibt, die ein Verhalten, welches unter anderem auch gegen die Grundrechte einer Person geht, bestrafen? Z.B. eine Körperverletzung gem. §

223 StGB

geht gegen Art. 2 II 1 GG und somit ist man als Privatperson an die Grundrechte gebunden?

LELEE

Leo Lee

3.11.2024, 12:03:05

Hallo Philip, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! Vorab: Die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte betrifft private Beziehungen, also Verhältnisse zw. zwei Privaten und nicht zw. einem Privaten und dem Staat. Beim Strafrecht stimmt es zwar, dass

223 StGB

gegen die Werte in Art. 2 II 1 GG verstößt. Allerdings geht es beim StGB um das Verhältnis zw. dem Angeklagten und dem Staat bzw. um die Schutzpflicht des Staates ggü. dem Opfer (was sich dann tats. auch aus Art. 2 II 1 GG ergibt), weshalb hier die Grundrechte wenn schon unmittelbar Anwendung finden würden. Dieser Grundsatz ist deshalb im Zivilrecht relevant, wo zw. zwei Privaten das Grundrecht eben nicht unm. gelten kann, da keine Partei hier den Staat darstellt oder repräsentiert. Es gibt zudem sehr wohl ein Gesetz, das allerdings nicht spezifisch ist, sondern eine Generalklausel darstellt (wie etwa 138 oder 242 BGB). Hier könnte man sich z.B. die Frage stellen ob das Verw

ehre

n einer Übernachtung eines NPD-Funktionärs im Hotel von 242 oder 138 BGB erfasst sein könnte, weil es zu den guten Sitten oder Treu und Glauben gehören könnte, dass man Menschen eben nicht aufgrund deren politischer Ansichten anders behandelt. Hierzu gibt es i.Ü. einen sehr guten und detailliert aufbereiteten Fall bei uns, den du unter

Examensrelevante Rechtsprechung

ÖR --> Entscheidungen von 2019 --> "Erteilung eines Hausverbots für Parteifunktionär der NPD durch Hotelier" finden kannst. Alternativ kannst du auch den Titel der Aufgabe bei der Suche (unter dem Reiter "Entdecken") eingeben. Außerdem kann ich ebenfalls die Lektüre vom BeckOK-GG, Ogorek Art. 10 Rn. 78 sehr empfehlen :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo


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