Abredewidrige Blankettausfüllung
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Unternehmer U kauft bei V (ebenfalls Unternehmer) eine neue Ledersofagarnitur für sein Büro für €10.000 (Kaufvertrag). Zur Finanzierung will U zudem ein Darlehen von V aufnehmen (€10.000). U unterzeichnet dazu ein Blankettformular. V trägt abredewidrig €15.000 als Darlehenssumme ein.
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Einordnung des Falls
Abredewidrige Blankettausfüllung
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Ohne schriftlich festgehaltene Darlehenssumme ist der Darlehensvertrag zwischen U und V formnichtig (§§ 492, 125 S. 1 BGB).
Nein!
Jurastudium und Referendariat.
2. U unterlag beim Unterzeichnen des Darlehensvertrags einem Erklärungsirrtum (§ 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB).
Genau, so ist das!
3. Zwischen V und U ist ein Darlehensvertrag über €15.000 zustande gekommen, den U durch Anfechtung beseitigen kann.
Nein, das trifft nicht zu!
4. Die Erklärung des U ist dahingehend auszulegen, dass er einen Darlehensvertrag über €15.000 abschließen will.
Nein, das trifft nicht zu!
Fundstellen
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
QuiGonTim
1.3.2022, 16:53:39
Der Fall hat eine gewisse Ähnlichkeit zum vorletzten Fall, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer
arglistigtäuschte. Könnte mir vielleicht nochmal jemand erklären warum dort ein Vertragsschluss nach dem
objektiven Empfängerhorizontbejaht wurde, hier aber ein Vertragsschluss nach dem wirklichen Willen des U angenommen wird?
Lukas_Mengestu
7.3.2022, 13:31:57
Hallo QuiGonTim, der maßgebliche Unterschied ist, dass der Arbeitnehmer eine vollständige Willenserklärung abgegeben hat. An dieser muss er sich zunächst festhalten lassen. Will er sich von der Erklärung lösen, muss er anfechten. Hier dagegen wurde ein unvollständiges Blankett von U an V übergeben. Zu einer Willenserklärung wird diese erst durch die Eintragung des V. Die Haftung des U für die Willenserklärung beruht letztlich allein auf Rechtsscheinsgrundsätzen. Relevant wird dies insbesondere in 3-Personen-Konstellationen. Auf den Rechtsschein kann sich aber nur berufen, wer im Hinblick auf den Erklärungsinhalt redlich ist. Dies ist bei V nicht der Fall. Insofern bedarf es hier noch nicht einmal einer Anfechtung. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
silasowicz
8.8.2023, 14:46:30
Wäre es sehr abwegig, den Fall über § 120 zu lösen? Bzw. wo würde man rausfliegen? Dem Wortlaut nach muss die zur Übermittlung verwendete Person ja nicht personenverschieden vom Anfechtungsgegner sein...
Leo Lee
9.8.2023, 15:15:08
Hallo silasowicz, eine direkte Anwendung scheint hier eher abwegig, da §
120 BGBdiejenigen Fälle betrifft, wo der Bote (also jemand der eine bereits AUSFORMULIERTE WE überbringt), die Willenserklärung eben einer anderen Person (die eben nicht deckungsgleich ist mit dem Boten) überbringt. Auch wenn der Wortlaut nicht explizit besagt, dass der Bote nicht der Anfechtungsgegner sein darf, so indiziert "übermittelt", dass dies eben doch der Grundsatz ist. Abgesehen davon jedoch ist §
120 BGBdeshalb nicht nötig, weil wir hier überhaupt keine Anfechtung brauchen (worauf der §
120 BGBuns jedoch a.E. verweist), denn die Anfechtung soll eben nur dann greifen, wenn der Erklärende einen Fehler macht und der andere Teil hierauf vertrauen darf (siehe insoweit etwa den §
122 BGB). Wenn der andere Teil aber weiß, dass - wie hier - der Vertrag i.H.v. 10.000 Euro zustande kommen sollte, dann sollten wir ihn nicht "schützen" mit den Rechtsfolgen der Anfechtung (etwa Schadensersatz):). Liebe Grüße - für das Jurafuchsteam - Leo
Niklas3461
7.6.2024, 07:07:59
Ich hatte das so im Kopf, wenn das subjektiv gewollte und das objektiv erklärte aufgrund einer Fehlvorstellung auseinander fallen, dass man dann von einem
Inhaltsirrtumausgehen kann.
Paulah
9.6.2024, 21:27:49
Die Antwort ist falsch - siehe in dem anderen Thread. Ich habe es gerade mal unter einem andern Tagg gemeldet.
Lukas_Mengestu
10.6.2024, 11:20:17
Hallo ihr beiden, Inhalts- und
Erklärungsirrtumwerden letztlich nach der Art des Irrtums differenziert. Beim
Inhaltsirrtumirrt der Erklärende über Bedeutung und Tragweite von dem, was er erklärt, wohingegen beim
Erklärungsirrtumbereits nach der äußeren Form die Fehlvorstellung zutage tritt (Klassiker: Vertippen, Verschreiben...). Die Rechtsprechung unterscheidet in den Blankettfällen in der Regel nicht zwischen den beiden Varianten, da sich die Unterscheidung letztlich auch auf das Ergebnis nicht auswirkt. Sowohl ein Inhalts- als auch ein
Erklärungsirrtumberechtigen ja grundsätzlich zur Anfechtung. In der Literatur wird dieser Fall überwiegend als
Erklärungsirrtumeingeordnet (so z.B. Ellenberger, in: Grüneberg, BGB AT, § 119 RdNr. 10; Brox/Walker, BGB AT, § 18 RdNr. 16). Es geht hier nicht nur um die geleistete Unterschrift, sondern um den Gesamt
tatbestandder Willenserklärung. Wenn U sich das ausgefüllte Formular anschaut, so würde ihm auf den ersten Blick (äußere Form) auffallen, dass die eingetragenen 15.000€ eben nicht mit den von ihm subjektiv gewollten 10.000€ übereinstimmen. Insofern liegt ein
Erklärungsirrtumvor. Der Empfänger, der das unterschriebene Formular selbst
abredewidrigausfüllt, ist auch nicht schutzwürdig. Es gilt im 2-Personen-Verhältnis also das Gewollte (hier: 10.000€). Im 3-Personen-Verhältnis (also ein Dritter zwischen Erklärendem und Erklärungsempfänger füllt das Formular aus) kommt es darauf an, ob der Erklärungsempfänger auf die Erklärung vertrauen durfte. Ist er gutgläubig, so kann sich der Erklärende nicht auf die
abredewidrigausgefüllte Erklärung berufen, da er dieses Risiko durch seine Unterschrift selbst gesetzt hat (mehr dazu im nächsten Fall). Sein Anfechtungsrecht ist dann ausgeschlossen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Niklas3461
11.6.2024, 09:23:58
Danke für die ausführliche Erklärung
BenRie
14.8.2024, 15:48:08
Damit unterlag der U jedoch nicht "beim Unterschreiben" einem
Erklärungsirrtum. Dieser entsteht hier erst später durch das
abredewidrige Ausfüllen des Blanketts und dessen Weiterleitung. Erst dadurch wurde der äußere
Tatbestandder Willenserklärung geschaffen, der dann entsprechend der Auslegung vom Willen des U abweicht.
jc1909
15.10.2024, 11:15:07
Dann unterlag U doch gar keinem Irrtum, weil er jederzeit „10.000€“ erklärt hat und auch kein gegenteiliger Vertrag zustande gekommen ist, oder nicht?
Antonia
4.9.2024, 18:20:47
Ich habe gelesen, dass das Ausfüllen des Blanketts nur ein Realakt und keine Willenserklärung ist mit der Folge, dass eine Zurechnung über eine Stellvertretung nicht möglich ist. Kann mir jemand bitte erklären, warum das Ausfüllen ein Realakt darstellt? Wenn man von der Definition einer Willenserklärung ausgeht, könnte man dann nicht in dem Ausfüllen eine Willenserklärung sehen (Äußerung eines auf Herbeiführung einer Rechtsfolge (=Entstehung Darlehensvertrag über 15000€) gerichteten Willens)?
juramen
1.11.2024, 11:22:27
Könnte man nicht auch sagen, dass U sich durch das Verwenden einer Blanketterklärung, das zurechnen lassen muss, was V einträgt? Das Risiko der falschen Eintragung hat er ja selbst so geschaffen.
as.mzkw
2.11.2024, 21:34:02
Ja, so kenne ich das zumindest für Blankobürgschaften: Der Bürge setzt dadurch einen Rechtsschein, den er analog § 172 II BGB gegen sich gelten lassen muss. Wüsste nicht, wieso hier was anderes gelten sollte.
hannabuma
22.11.2024, 12:13:53
Ist auf jeden Fall ein sinnvolles Argument. Ich würde es i.E. dann aber dahinter zurücktreten lassen, dass der
abredewidrighandelnde V nicht schutzwürdig ist. U schafft zwar das Risiko der falschen Eintragung selbst, jedoch muss er sich im 2-Personen Verhältnis das durch V eingetragene nur insoweit zurechnen lassen, wie es ihren gemeinsamen Vereinbarungen entspricht. Hier weicht V wissentlich erheblich vom vereinbarten Betrag ab, sodass es an zwei übereinstimmenden WE fehlt.
benjaminmeister
11.11.2024, 11:36:45
Wo liegt der didaktische Sinn erst richtigerweise einen Vertrag/Willenserklärung über 10.000 € anzunehmen, dann aber bewusst mit 15.000 € weiter zu machen und (sinnloserweise) einen
Erklärungsirrtumzu bejahen, um dann im dritten Schritt wieder zu sagen, dass keine Anfechtung notwendig ist, weil der Vertrag über 10.000 € zustandegekommen ist? Das ergibt mMn. vorne und hinten keinen Sinn. Es liegt richtigerweise kein
Erklärungsirrtumvor, weil der Vertrag nach dem
objektiven Empfängerhorizontnur zu 10.000 € zu Stande kommt. Eine Anfechtung ist nicht nötig. Dabei sollte man es belassen.
hannabuma
22.11.2024, 12:27:40
Ich könnte mir vorstellen, dass der didaktische Sinn dahinter war, in der Prüfung bis zur Anfechtung zu kommen. Ich fand die Ausführungen zur Anfechtung trotzdem hilfreich, aber vielleicht könnte man das klarer hilfsgutachterlich formulieren. Vor allem bei der letzten Frage fand ich es auch unklar, dass man jetzt wieder aus der Perspektive eines fehlenden Vertragsschlusses antworten soll, obwohl in den vorherigen Fragen ein Vertragsschluss unterstellt werden sollte.
benjaminmeister
24.11.2024, 16:46:03
@[hannabuma](171851) ich bin auch der Meinung, dass hier Ausführungen zur (entbehrlichen) Anfechtung sehr angebracht sind, aber die Art und Weise (dafür nämlich einen
Erklärungsirrtumzu fingieren, den es nicht gibt) ist einfach super unpassend.
Antonia
16.11.2024, 01:53:57
Warum reicht eine Blankounterschrift bei dem Verbraucherdarlehnsvertrag für das
Formerfordernisnach §492 nicht, für das Schrift
formerfordernisder Bürgschaftserklärung nach §766 reicht es aber aus, wenn zusätzlich die Vollmacht/Ausfüllermächtigung schriftlich erteilt wird? Das Schriftformerfodernis hat in beiden Fällen eine Warnfunktion.
Li
22.11.2024, 16:54:27
Warum wird bei der Auslegung der WE auf den
objektiven Empfängerhorizontabgestellt und nicht nur auf den wirklichen Willen des U? V wusste doch, dass U einen Darlehensvertrag iHv 10000 € wollte.
Kind als Schaden
4.12.2024, 21:38:11
Nach der Lösung soll ein objektiver Dritter erkennen, dass eine Erklärung über 15.000€ vorliegt, weshalb das Erklärte vom Gewollten abweiche ->
Erklärungsirrtumwäre nach der Lösung daher grundsätzlich einschlägig. Das stimmt aber eigentlich ja nicht, weil der objektive Dritte ja in der Rolle des Erklärungsempfängers, die Erklärung auszulegen hat. Vorliegend weiß der V ja aber, dass nur eine Erklärung über 10.000€ in Betracht kommt. Oder stimmt das nicht? Wird bei der Auslegung in Bezug auf den objektiven Dritten im Rahmen der Anfechtung anders ausgelegt als bei §§ 133, 157, wenn es zum Beispiel um Vertragsschluss geht? Wird der objektive Dritte also praktisch als Aussenstehender und nicht mehr als Erklärungsempfänger gewertet?