Grundfall § 254 I

24. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

LKW-Fahrerin F fährt am rechten Fahrbahnrand, ohne den Gehweg zu befahren. Bretter auf ihrem LKW ragen 10cm in den Gehweg hinein und treffen das Handy von S, wodurch das Display zerspringt (Reparaturkosten: €200). S stand zwar noch auf dem Gehweg, aber direkt an der Bordsteinkante und schaute auf ihr Handy.

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Einordnung des Falls

Grundfall § 254 I

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. S hat einen Schaden erlitten.

Genau, so ist das!

Ob ein Schaden entstanden ist, wird durch die Differenzhypothese ermittelt, indem ein Vergleich zwischen zwei Güterlagen vorgenommen wird: (1) Was ist jetzt die konkrete tatsächliche Lage des Geschädigten mit schädigendem Ereignis und (2) wie wäre jetzt seine hypothetische Lage, wenn das Schadensereignis nicht eingetreten wäre? Durch das schädigende Ereignis wurde das Handy der S beschädigt, sodass sich ihre Vermögenslage verringert hat.
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2. Wenn der Geschädigte den Schaden mitverschuldet hat, kann sein Schadensersatzanspruch gekürzt werden.

Ja, in der Tat!

Wenn ein Schadensersatzanspruch und sein Umfang festgestellt sind, kann der Anspruch des Geschädigten durch ein Mitverschulden des Geschädigten zu einer Kürzung führen (§ 254 BGB). § 254 Abs. 1 BGB betrifft Mitverschulden bei der Schadensentstehung, § 254 Abs. 2 BGB (Unterlassungs-) Mitverschulden bei der Schadensabwendung- bzw. minderung. § 254 Abs. 1 BGB setzt dabei voraus, dass (1) der Geschädigte die Schadensentstehung zurechenbar mitverursacht hat und (2) ihn ein Verschulden gegen sich selbst trifft (Obliegenheitsverletzung).

3. S hat den Schaden zurechenbar mitverursacht.

Ja!

Die zurechenbare Mitverursachung setzt voraus, dass der Geschädigte eine Handlung vorgenommen oder unterlassen hat, die den Schadenseintritt zurechenbar mitverursacht hat. Die Zurechenbarkeit bestimmt sich nach den gleichen Grundsätzen wie bei der Haftung des Schädigers (Äquivalenz, Adäquanz, Schutzzweckzusammenhang). S's Herantreten an die äußerste Kante des Gehwegs sowie ihre Ablenkung durchs Schauen auf das Handy haben den Unfall zurechenbar mitverursacht.

4. Vom Verschulden gegen sich selbst sind nur Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit umfasst.

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Geschädigte muss schuldhaft gehandelt haben. Voraussetzung dafür ist, dass er in vorwerfbarer Weise gegen seine eigenen Interessen verstößt (Verschulden gegen sich selbst): Hat der Geschädigte diejenige Sorgfalt außer Acht gelassen, die ein ordentlicher und verständiger Mensch in der Situation des Geschädigten anzuwenden pflegt, um Schaden von sich und seinen Rechtsgütern fernzuhalten, kann er vom Schädiger nicht vollen Ersatz verlangen. Das Verschulden gegen sich selbst kann dabei analog § 276 BGB vorsätzlich oder fahrlässig sein.

5. S hat vorwerfbar gegen seine eigenen Interessen verstoßen (Verschulden gegen sich selbst).

Ja, in der Tat!

BGH: Ein Fußgänger dürfe sich zwar grundsätzlich auf dem Gehweg vor der Berührung mit vorbeifahrenden Kfz sicher fühlen. Wer aber so nahe an die Straße herantrete, dass ein Kontakt mit Fahrzeugen nahe liegt, habe entweder vorher nach Fahrzeugen Ausschau zu halten, die ihm gefährlich werden können, oder dürfe nur so nahe an die Fahrbahn herantreten, dass eine Gefahr erst gar nicht entstehe. S hat fahrlässig gegen seine eigenen Interessen verstoßen.

6. Wenn ein Mitverschulden vorliegt, wird stets 50/50 gequotelt.

Nein!

Rechtsfolge des § 254 BGB ist die quotenmäßige Verteilung des Schadens zwischen den Beteiligten (Quotenteilungsprinzip). Maßgeblich für die Verteilung sind die Umstände des Einzelfalls. Dabei ist in erster Linie nach dem Maß der Verursachung abzuwägen (Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge). Bei der Verschuldenshaftung ist daneben aber auch der Grad des Verschuldens zu berücksichtigen; bei der Gefährdungshaftung kommt es stattdessen auf das Maß der Sach- oder Betriebsgefahr an, die sich in dem schädigenden Ereignis realisiert hat. Folge dieser Abwägung kann eine Schadensminderung (Quotelung), ein Ausschluss der Haftung des Schädigers (Mitverschulden von 100%) sowie einen volle Haftpflicht des Schädigers (Mitverschulden von 0%) sein.

7. Wegen des Mitverschuldens des S kommt es zu einem Ausschluss der Haftung des F.

Nein, das trifft nicht zu!

Wägt man die beiderseitigen Verursachungsbeiträge von F und S ab, kommt dem Verhalten der S - Stehen an der Bordsteinkante und Schauen auf das Handy - ein nicht unerheblicher Verursachungsbeitrag zu. Fs Verursachungsbeitrag - Fahren am Fahrbahnrand und in den Gehweg hineinragende Bretter - überwiegt jedoch deutlich. Ausgehend hiervon erschiene eine Quotelung 75% F zu 25% S vertretbar. In einem kürzlich entschiedenen Fall, in dem ein elfjähriges Kind direkt an der Bordsteinkante stand und von einem vorbeifahrenden Auto erfasst wurde, hat das OLG Zweibrücken einen Mitverschuldensbeitrag des Kindes von mehr als 20% abgelehnt (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 26.04.2021 - U 141/19).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

TH

Thorsten

12.9.2021, 10:15:42

Ist das wirklich ein Fall von 1965? Gab es da schon Handys?

FML

FML

12.9.2021, 10:55:32

Im Orginalfall ging es mE um einen Personenschaden. Welches Rechtsgut verletzt ist, ist ja grundsätzlich egal, Schwerpunkt ist ein mögliches Mitverschulden.

Isabell

Isabell

4.2.2022, 11:56:46

Da war ich jetzt auch neugierig. Kommerzielle Handys gibt es seit Anfang der 80er 🤓

Artimes

Artimes

23.12.2023, 16:43:59

Ist die allgemeine Betriebsgefahr eines Kfz bei der Teilnahme am Straßenverkehr im Rahmen des § 254 I BGB zu berücksichtigen? Wie hoch wäre eine solche Haftungsquote?

LELEE

Leo Lee

24.12.2023, 17:42:50

Hallo ART., vielen Dank für diese sehr gute Frage! Bei der Teinahme am Straßenverkehr mit KfZ (wo die Gefährdungshaftung gem. §

7 StVG

relevant wird) gilt, dass der Geschädigte sich auch eine Sach- bzw. Betriebsgefahr anrechnen lassen muss. Becahte jedoch, dass gerade in dem von dir geschilderten Fall (Verkehr) es den 1

7 StVG

gibt, der lex specialis ggü. § 254 I ist, womit die „allgemeine Betriebsgefahr“ sich hiernach lösen dürfte. Hierzu kann ich die Lektüre von MüKo-BGB 9. Auflage, Oetker § 254 Rn. 12 f. sehr empfehlen :). Besinnliche Feiertage und einen guten Rutsch wünscht dir das Jurafuchsteam!

Artimes

Artimes

30.8.2024, 17:33:16

Und was ist, wenn wir uns außerhalb des besonderen DeliktsR im allgemeinen DeliktsR (z.B. § 823 I BGB) befinden? Dort entfaltet § 1

7 StVG

doch keine Wirkung, sodass dann (nur) die allgemeine Vorschrift des § 254 BGB eingreift. Auf diesen Fall zielte meine Frage ab. Ich hätte im Rahmen des § 254 I BGB dann § 1

7 StVG

jedenfalls rechtsgedanklich herangezogen. Allerdings wollte mich absichern und gerne wissen, welche Lösung hier herrschend vertreten wird.


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