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Ersatzfähigkeit von Finanzierungskosten bei Diesel-Fällen

Ersatzfähigkeit von Finanzierungskosten bei Diesel-Fällen

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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Diesel-Abgasskandal

K kauft von T für €18.000 einen gebrauchten VW Bulli. Dieser ist vom „Dieselskandal“ betroffen und hat eine Restlaufleistung von 200.000km. Den Kaufpreis finanziert K über ein Darlehen bei der X-Bank in gleicher Höhe, das sie nebst Zinsen in Höhe von €3.000 vollständig zurückzahlt.

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Einordnung des Falls

Ersatzfähigkeit von Finanzierungskosten bei Diesel-Fällen

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der VW Bulli ist sachmangelhaft. Deshalb könnte K ein Recht zum Rücktritt von ihrem Kaufvertrag mit T haben (§ 437 Nr. 2 Alt. 1 BGB).

Genau, so ist das!

Eine Sache ist nicht frei von Sachmängeln, wenn sie sich nicht für die gewöhnliche Verwendung eignet (§ 434 Abs. 3 Nr. 1 BGB). Ein Pkw eignet sich für die gewöhnliche Verwendung nur, wenn er eine Beschaffenheit aufweist, die weder seine weitere Zulassung zum Straßenverkehr hindert noch ansonsten seine Gebrauchsfähigkeit aufhebt oder beeinträchtigt. Dem Bulli droht aufgrund einer unionsrechtswidrigen Abschalteinrichtung die Gefahr von Betriebsuntersagungen (§ 5 Abs. 1 Fahrzeug-Zulassungsverordnung) (vgl. BGH NJW 2019, 1133). Dieses Urteil findest Du: hier! Ist der Mangel behebbar (Softwareupdate), muss K zunächst eine Frist setzen (§ 323 Abs. 1 Hs. 2 BGB). Denn T hat die K nicht arglistig über den Mangel getäuscht (§ 323 Abs. 2 Nr. 3 BGB) und die Nacherfüllung ist K auch nicht unzumutbar (§ 440 S. 1 Var. 3 BGB) (vgl. BGH NJW 2021, 2958, RdNr. 90).
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2. VW hat K gegenüber sittenwidrig gehandelt (§§ 826, 31 BGB). Deshalb könnten K auch gegen VW Ansprüche zustehen, obwohl sie den Bulli bei T gekauft hat.

Ja, in der Tat!

Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter (Inhalt, Beweggrund und Zweck) gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Voraussetzung ist eine besondere Verwerflichkeit, die sich aus Ziel, Mitteln, Gesinnung und Folgen ergeben kann. Der Hersteller eines Fahrzeugs handle sittenwidrig, wenn er dessen Typengenehmigung mittels einer unzulässigen Abschalteinrichtung strategisch erschleiche und den Irrtum eines Käufers über diesen Mangel gezielt ausnutze (BGH NJW 2020, 1962). Auch dieses Urteil haben wir in einem eigenen Fall für Dich aufbereitet. VW ist das Verhalten ihrer leitenden Angestellten (Repräsentationsgedanke) zuzurechnen (§ 31 BGB). Vorsatzbegründende Tatsachen muss K selbst beweisen (§ 826 BGB). VW trifft insoweit aber eine sekundäre Darlegungslast.

3. Der Kaufvertrag ist ein Vermögensschaden der K. Hat VW vorsätzlich gehandelt, kann K von VW deshalb Rückabwicklung des Kaufvertrags verlangen (§ 826 BGB).

Ja!

Für die Ermittlung eines Vermögensschadens gilt die Differenzhypothese. Diese wird durch die Lehre vom normativen Schaden ergänzt: Unabhängig vom Ergebnis der Differenzhypothese können der Schutzzweck der Haftungsnorm und die Ausgleichsfunktion des Schadensersatzes unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände und der Verkehrsauffassung die Annahme eines normativen Schadens rechtfertigen (RdNr. 17). § 826 BGB schützt auch die bloße Dispositionsfreiheit (BGH NJW 2020, 1962, RdNr. 47f.). Deshalb ist selbst bei objektiver Werthaltigkeit von Leistung und Gegenleistung ein ungewollter und nach der Verkehrsauffassung objektiv unvernünftiger Kaufvertrag ein normativer Schaden des Käufers. Dieser ist im Wege der Naturalrestitution (§ 249 Abs. 1 BGB) durch Rückabwicklung zwischen Schädiger und Geschädigtem zu beseitigen (RdNr. 14).

4. Im Rahmen des Anspruchs aus § 826 BGB muss VW auch die Finanzierungskosten von €3.000 dem Grunde nach ersetzen (§ 249 Abs. 1 BGB).

Genau, so ist das!

Die Ersatzfähigkeit eines Schadenspostens (§ 249 Abs. 1 BGB) ist eine Frage der haftungsausfüllenden Kausalität (Zurechnungszusammenhang). Der Schaden muss (1) äquivalent-kausal und (2) adäquat-kausal auf die Rechtsgutsverletzung zurückzuführen sein; hierbei ist auch der Schutzzweck der Norm zu prüfen. VW hat K in ihrer Dispositionsfreiheit verletzt. Dadurch hat K einerseits den Kaufvertrag mit T und andererseits den Finanzierungsvertrag mit der X-Bank geschlossen. Dass die Finanzierungskosten bei K ohne den Kauf des Bulli nicht angefallen wären, „liegt auf der Hand“ (RdNr. 15). Dieser Schaden ist auch adäquat-kausal.

5. Sind die Finanzierungskosten auch dann ein kausaler Schaden, wenn nicht ausgeschlossen ist, dass K ein Darlehen in gleicher Höhe für einen Alternativkauf aufgenommen hätte?

Ja, in der Tat!

Der Schädiger trägt die Beweislast dafür, dass ein Schaden auch aufgrund einer Reserveursache eingetreten wäre (hypothetische Kausalität) (BGH NJW 2016, 3522). VW hat die hypothetische Kausalität zwischen Alternativkauf und Darlehen nicht bewiesen. Dass diese nicht ausgeschlossen werden kann, genügt gerade nicht. Ob der Beweis der hypothetischen Kausalität VW überhaupt entlasten könnte, ist eine umstrittene Frage der haftungsausfüllenden Kausalität: Abgesehen von Sonderfällen der Schadensanlage und der Drittschädigung differenziert die hM: Die Reserveursache ist unbeachtlich, wenn der Schaden unmittelbar am verletzten Rechtsgut selbst eingetreten ist, aber beachtlich, wenn es sich um einen bloßen Vermögensfolgeschaden handelt. Der BGH musste diese Frage nicht entscheiden (RdNr. 16).

6. Hat K durch die Finanzierung einen Liquiditätsvorteil erlangt, der vom Ersatz der Finanzierungskosten abzuziehen ist (Vorteilsausgleichung)?

Nein!

Die Vorteilsausgleichung bringt das schadensrechtliche Bereicherungsverbot mit dem Grundsatz der Totalreparation in Ausgleich. Voraussetzungen: (1) Vorteile, die dem Geschädigten in adäquatem Zusammenhang mit dem Schadensereignis entstanden sind, wirken anspruchsmindernd, wenn (2) die Berücksichtigung des Vorteils dem Geschädigten zumutbar ist und (3) den Schädiger nicht unangemessen entlastet (RdNr. 19). Die Finanzierung habe allein dem Erwerb des Fahrzeugs gedient und K deshalb keinen Liquiditätsvorteil gegenüber dem Zustand verschafft, der bestanden hätte, wenn VW ihre Dispositionsfreiheit nicht verletzt und K deshalb vollständig vom Kauf abgesehen hätte (RdNr. 20).

7. K hat den Bulli bereits 200.000km gefahren. Mindert sich dadurch ihr Schadensersatzanspruch - auch in Bezug auf die Finanzierungskosten - auf Null (Vorteilsausgleichung)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Zur Berechnung der Vorteilsausgleichung bei Pkw sind Schaden und Gebrauchsvorteile (§ 100 Alt. 2 BGB) gegenüberzustellen. Der Wert von Gebrauchsvorteilen der Pkw-Nutzung ist objektiv wie folgt zu ermitteln: Kaufpreis x Gefahrene km / Restlaufleistung. BGH: Der Faktor Kaufpreis sei nicht durch Addition der Finanzierungskosten zu erhöhen, weil diese nicht den objektiven Wert der Fahrzeugnutzung je Kilometer erhöhten, sondern allenfalls deren subjektiven Wert (RdNr. 23). K hat die Restlaufleistung voll ausgeschöpft, sodass sich ihr Schadensersatzanspruch (ursprünglich €21.000) um Gebrauchsvorteile in Höhe des Kaufpreises (€18.000) mindert. Übrig bleiben also die Finanzierungskosten in Höhe von €3.000. Die Bewertung von Nutzungsvorteilen (§ 100 ZPO) erfolgt durch Schätzung (§ 287 Abs. 1 ZPO). Obige Formel hat sich in der Praxis etabliert.

8. K hat den Bulli bereits 220.000km gefahren. Mindert sich dadurch ihr Schadensersatzanspruch über den Kaufpreis hinaus auf unter €3.000 (Vorteilsausgleichung)?

Ja, in der Tat!

Im Rahmen der Vorteilsausgleichung mindert ein Vorteil nur diejenige Schadensposition, der er sachlich entspricht (Kongruenz von Vorteil und Nachteil). Das gilt selbst dann, wenn der Vorteil die Schadensposition betragsmäßig übersteigt. BGH: Die Gebrauchsvorteile entsprächen sachlich sowohl der Schadensposition „Kaufpreis“ als auch der Schadensposition „Finanzierungskosten“. Sie seien deshalb bis zur Erschöpfung beider Positionen anzurechnen (RdNr. 20). Der Wert der Gebrauchsvorteile beträgt €19.800 (= €18.000 Kaufpreis x 220.000 gefahrene km / 200.000km Restlaufleistung). Der Schadensersatzanspruch der K (ursprünglich €21.000) mindert sich deshalb auf €1.200. Die Ansicht des BGH unterliegt Zweifeln. Denn eine Vorteilsausgleichung findet nur statt, soweit sie den Schädiger nicht unbillig entlastet. VW profitiert hier aber davon, dass K den Bulli sorgsam gefahren und seine objektiv erwartbare Restlaufleistung überschritten hat.

9. VW muss nur Zug um Zug gegen Herausgabe des Bulli Ersatz leisten.

Ja!

Die Naturalrestitution (§ 249 Abs. 1 BGB) berücksichtigt Nachteile ebenso wie Vorteile (Vorteilsausgleichung). Lassen sich Nachteile und Vorteile mangels Gleichartigkeit nicht saldieren, erfolgt die Vorteilsausgleichung durch Verurteilung Zug um Zug (RdNr. 13). K hat Nachteile (Kaufpreis, Finanzierungskosten) und Vorteile (Nutzungsvorteile, Eigentum, Besitz) erlangt. Nutzungsvorteile, Kaufpreis und Finanzierungskosten werden als gleichartige Positionen miteinander verrechnet. Der übrige Geldbetrag, Besitz und Eigentum sind dagegen ungleichartig. Deshalb muss VW Schadensersatz in Geld nur Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des Bulli leisten (§§ 273 Abs. 1, 274 Abs.1 BGB).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

medoLaw

medoLaw

23.2.2022, 08:25:41

Bei der Frage bei der hypothetischen Kausalität finde ich irreführend, weil die Frage danach fragt, ob "nicht ausgeschlossen ist" (Möglichkeit der anderweitigen Verwendung) ausreicht, aber dann in der Antwort vom sicheren Beweisen (definitiv andere Verwendung) die Rede ist

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

25.2.2022, 15:20:43

Hallo medoLaw, das ist in der Tat etwas tricky. Wir haben die Frage insoweit etwas präzisiert. Der Kniff an der Frage ist aber gerade, dass hier nach unterschiedlichen Maßstäben gefragt wird. Die bloße Möglichkeit, dass der Schaden auch so eingetreten werde, genügt eben nicht aus, um ihn entfallen zu lassen. Vielmehr muss sicher bewiesen werden, dass die gleichen Finanzierungskosten K auch bei einem Alternativkauf entstanden wären. Da diese Anforderungen von VW nicht erfüllt wurden, lag ein kausaler Schaden vor. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

KI

kithorx

18.2.2023, 23:48:20

Müsste es im Sachverhalt nicht heißen, dass der Wagen eine "Total"laufleistung von 200.000km hat, statt Restlaufleistung? Die Restlaufleistung beträgt doch hier quasi -20.000km, weil mehr als 200.000km gefahren, oder verstehe ich das falsch?

TI

Timurso

19.2.2023, 16:37:47

Die Angabe im Sachverhalt stellt auf den Zeitpunkt bei Kauf ab. Nachdem der Wagen, wie später in der Frage angegeben, 220.000 km gefahren wurde, beträgt die Restlaufleistung tatsächlich -20.000 km

KI

kithorx

19.2.2023, 17:05:39

@[Timurso](197555) so ergibt es Sinn, ja! Die Angabe in der Lektion versteht man in meinen Augen aber anders. Vielleicht kann das Team das klarer formulieren :)

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

21.2.2023, 10:38:17

Hallo ihr beiden, vielen Dank für eure Anmerkungen. Wir haben nun im Sachverhalt noch präzisiert, dass es sich in dem zugrunde liegenden Urteil um ein Gebrauchtfahrzeug gehandelt hat, weswegen es zum Zeitpunkt des Kaufes nicht um die Total- sondern nur die Restlaufzeit ging. Sofern es sich um einen Neuwagen gehandelt hätte, hätte man in der Tat auf die Totallaufleistung abstellen müssen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

CR7

CR7

11.4.2023, 08:54:06

Gute Aufarbeitung, ich habe aber zwei Anmerkungen: Zum einen wird mitten in der Aufgabe auf eine weitere Aufgabe verwiesen, was für mich absolut keinen Sinn macht, weil ich ja die Aufgabe fertig machen will und ggf. danach die verlinkte Aufgabe aufrufen will. Dazu müsste ich aber dann wieder die eben gelöste Aufgabe aufrufen und bis zu dieser Frage die Antworten „wegdrücken“. Besser wäre es daher, die Aufgaben am Ende der letzten Frage nochmal zu verlinken, so dass man da anknüpfen kann. Zweitens finde ich die dargestellten Voraussetzungen in dieser Aufgabe zu der Vorteilsanrechnung nicht gut. Gestartet wird mit (1) der Rechtsfolge der Vorteilsanrechnung (Anspruchsminderung), und erst (2) und (3) geben die Voraussetzungen wieder. Das ist unüblich. Die Darstellungsweise finde ich auch nicht gut, ich würde es hier lieber als Nummerierung untereinander machen anstatt mitten im Satz. Nehmt es mir nicht böse, soll nur ein kleines Feedback sein!

IS

IsiRider

24.2.2024, 09:20:50

Die Relativität von Schuldverhältnissen findet hier keinerlei Berücksichtigung, warum? Mir fehlt die Differenzierung von schuldrechtlicher und dinglicher Ebene.


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