Öffentliches Recht

Europarecht

Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV

Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV – Unterschiedslose Beschränkung („Gebhard")

Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV – Unterschiedslose Beschränkung („Gebhard")

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die deutsche Rechtsanwältin G eröffnet in Mailand eine zweite Kanzlei und führt den Titel avvocata. Die Mailänder Rechtsanwaltskammer untersagt ihr die Anwaltstätigkeit, da sie die Voraussetzung für den Titel - das Ablegen der italienischen Anwaltsprüfung - nicht erfülle.

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Einordnung des Falls

Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV – Unterschiedslose Beschränkung („Gebhard")

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit ist vorliegend eröffnet.

Ja, in der Tat!

Der sachliche Anwendungsbereich setzt nach ständiger Rechtsprechung eine Niederlassung voraus, also eine feste Einrichtung oder Infrastruktur, die der tatsächlichen Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit auf unbestimmte Zeit dient oder zu dienen bestimmt ist. Persönliche Begünstigte der Niederlassungsfreiheit sind Unionsbürger und Gesellschaften mit Unionsbezug. In räumlicher Hinsicht ist ein grenzüberschreitender Bezug erforderlich. Die Tätigkeit als Anwältin setzt u.a. das Anmieten von Räumlichkeiten und das Anstellen von Personal voraus. Ferner handelt es sich um eine selbstständige Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert. Eine Niederlassung ist damit gegeben. Das Eröffnen von Zweitniederlassungen ist auch durch Angehörige der selbstständigen Berufe sachlich erfasst. G ist als Deutsche ferner Unionsbürgerin, sodass auch der persönliche Anwendungsbereich eröffnet ist. Schließlich ist auch ein grenzüberschreitender Bezug gegeben und es liegt keine Bereichsausnahme vor. In einem so eindeutigen Fall wie hier kannst Du wortwörtlich wie hier geschehen subsumieren.
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2. Die Untersagung der Anwaltstätigkeit stellt eine offene Diskriminierung dar.

Nein!

Eine Diskriminierung besteht darin, dass rechtlich gleiche Sachverhalte unterschiedlich bzw. rechtlich unterschiedliche Sachverhalte gleich behandelt werden. Eine offene Diskriminierung ist dann gegeben, wenn die Ungleichbehandlung auf dem Differenzierungskriterium der Staatsangehörigkeit beruht. Offene Diskriminierungen führen also zu einer Ungleichbehandlung von Inländern und Ausländern, indem sie Personen aufgrund der Staatsangehörigkeit an dem Zugang zum Markt hindern. Vorliegend wird G die Anwaltstätigkeit nicht deshalb untersagt, weil sie nicht die italienische Staatsbürgerschaft innehat. Hintergrund der Untersagung ist vielmehr die Tatsache, dass G den Titel avvocata unberechtigterweise geführt hat, da nur Personen, die in Italien die Anwaltszulassung erworben haben, den Titel führen dürfen.

3. Die Aufnahme und Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit darf von dem Erwerb gewisser Qualifikationen abhängig gemacht werden.

Genau, so ist das!

Die Mitgliedstaaten können grundsätzlich gewisse Voraussetzungen festlegen, die für die Ausübung einer spezifischen Tätigkeit erforderlich sind. Dazu zählen der Erwerb eines Diploms oder besondere Befähigungsnachweise. Die Festlegung von Voraussetzungen für die Führung des Titels „avvocata“ ist also grundsätzlich zulässig. Ein Selbstständiger muss also grundsätzlich die Bedingungen erfüllen, denen die Aufnahme oder Ausübung einer spezifischen Tätigkeit im Aufnahmeland unterliegt.

4. Die Untersagung der Anwaltstätigkeit stellt eine versteckte Diskriminierung dar.

Nein, das trifft nicht zu!

Eine versteckte Diskriminierung liegt vor, wenn die Ungleichbehandlung an ein anderes Differenzierungskriterium als die Staatsangehörigkeit geknüpft wird. Formal liegt bei der versteckten Diskriminierung eine gleiche (unterschiedslose) Behandlung von Inländern und Ausländern vor. Durch die versteckt diskriminierende Maßnahme werden ausländische Unionsbürger, die sich im betroffenen Mitgliedstaat niederlassen, jedoch typischerweise stärker und häufiger betroffen als Inländer. Das Kriterium der Erwerbs der italienischen Anwaltszulassung ist von der Staatsangehörigkeit unabhängig. Auch benachteiligt es ausländische Staatsbürger nicht faktisch häufiger. Der Erwerb einer italienischen Anwaltszulassung ist für ausländische Unionsbürger möglich und die Voraussetzung zur Sicherung eines Qualitätsstandards im Beruf erlaubt. Eine versteckte Diskriminierung liegt daher nicht vor. Die Abgrenzung der versteckten Diskriminierung zu Maßnahmen, die unterschiedlos wirken, ist schwammig und wird vom EuGH oftmals offengelassen.

5. Es handelt sich vorliegend um eine unterschiedslose Beschränkung der Niederlassungsfreiheit.

Ja!

Die Niederlassungsfreiheit verbietet nach herkömmlicher Leseart nur Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit. Der EuGH hat die Niederlassungsfreiheit in der Gebhard-Entscheidung zu einem Beschränkungsverbot weiterentwickelt. Jede unterschiedslose Maßnahme, welche die grenzüberschreitende Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit behindert oder weniger attraktiv macht, stellt eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar. Die Untersagung der Anwaltstätigkeit wegen der Führung des Titels „avvocata“ hindert die G daran, der Anwaltstätigkeit in Italien nachzugehen und damit daran, von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen. Die Maßnahme knüpft aber weder offen noch versteckt an die Staatsangehörigkeit der G an, sodass es sich vorliegend nicht um eine Diskriminierung, sondern um eine unterschiedslose Beschränkung handelt.

6. Unterschiedslose Beschränkungen können unter gewissen Voraussetzungen unionsrechtlich Bestand haben.

Genau, so ist das!

Grundsätzlich führen Beeinträchtigungen dann zur Verletzung der Niederlassungsfreiheit, wenn sie nicht gerechtfertigt werden können. Unterschiedslose Beschränkungen haben unionsrechtlich dann Bestand (können also dann gerechtfertigt werden), wenn sie (1) in nichtdiskriminierender Weise anwendbar sind, (2) aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls gerechtfertigt sind, (3) geeignet sind, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten und (4) nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist. Diese Voraussetzungen werden die sog. Gebhard-Formel genannt. Die Gebhard-Formel etabliert also einen ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund und wird auch auf die anderen Personenfreiheiten angewandt.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

BL

Blotgrim

14.7.2023, 22:09:26

Könnte man nicht für die

versteckte Diskriminierung

argumentieren, dass italienische Anwälte idR auch eine italienische Ausbildung machen, während ausländische diese idR zusätzlich machen müssen. Es werden grundsätzlich alle gleich behandelt, aber die ausländischen Anwälte werden stärker betroffen

Nora Mommsen

Nora Mommsen

16.7.2023, 15:51:42

Hallo Blotgrim, danke für deine Frage. Die Argumentation ist nicht ganz schlüssig - das Kriterium ist weder Sprache oder sonst ein Staatsangehörigkeitskriterium. Es steht allen ausländischen Staatsangehörigen auch frei die Ausbildung zu absolvieren. Das Studium stellt an alle Bewerber*innen die selben Anforderungen. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

BL

Blotgrim

16.7.2023, 23:05:23

Schon klar, also ist es egal, dass die Ausländer erst nach Italien einreisen müssen um den Abschluss zu machen, während die Inländer, dass Land nicht verlassen würden?

Jopies

Jopies

17.7.2023, 17:45:58

Nun man darf ja auch nicht die Herausforderungen die sich einfach tatsächlich-praktisch mit der Einreise und Niederlassung in einem anderen Staat mit speziellen Beschränkungen verwechseln. Will sagen: das ist möglicherweise anstrengender ist in einem anderen Land die Ausbildung zu machen liegt dann ja nicht unbedingt an Italien, sondern das es einfach ein anderes Land ist.

Caro

Caro

2.2.2024, 16:33:43

Ich hatte die

Gebhard-Formel

bisher immer anders verstanden, als im Fall dargestellt. Ich dachte, sie würde - ähnlich wie die Dassonville-Formel bei der

Warenverkehrsfreiheit

- klarstellen, wann eine Beschränkung vorliegt. Nämlich dann, wenn eine nicht-diskriminierende Maßnahme, die grenzüberschreitende Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit behindert oder weniger attraktiv macht. Hier wird sie jedoch auf Ebene der Rechtfertigungsgründe angewendet, um ungeschriebene Rechtfertigungsgründe zu definieren. Wäre das nicht viel eher die Cassis-de-Dijon-Formel?

Jakob

Jakob

10.2.2024, 21:28:57

Ja, da hast du recht. Die

Gebhard-Formel

ähnelt der Dassonville-Formel oder der Bosman-Formel, bei denen man in der Beschränkung prüfen muss. Nach meinem Wissen wird die Cassis-Formel in Bezug auf andere Grundfreiheiten auch als

Gebhard-Formel

bezeichnet, da in diesem Urteil die Kohärenz der Grundfreiheiten manifestiert wurde. Es handelt sich also um die Cassis-Formel, die jedoch auch als

Gebhard-Formel

dort bekannt ist.

GO

gova

16.4.2024, 15:34:17

Ist die

Gebhard-Formel

auf die weiteren Grundfreiheiten mit Ausnahme der

Warenverkehrsfreiheit

anwendbar? Wenn ja, soll ich in Fällen unterschiedsloser Beschränkung stets die

Gebhard-Formel

erwähnen?

Nedjem

Nedjem

16.4.2024, 18:25:39

So ist es! Du erwähnst die

Gebhard-Formel

zweimal: Eingriffsebene: Beschränkug liegt vor, wenn eine unterschiedslose Maßnahme die Ausübung der Grundfreiheit aus Art. 45 / 49 / 56 AEUV behindert oder weniger attraktiv macht. Rechtfertigungsebene: Rechtfertigung von unterschiedslosen Maßnahmen bei zwingenden Gründen des Allgemeinwohls, solange die Maßnahme verhältnismäßig ist. (Der EuGH hat die Grundsätze der Cassis-Rspr. mit der

Gebhard-Formel

auf alle GFH übertragen.)

GO

gova

16.4.2024, 18:39:13

Super Hilfe, danke dir!


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