Öffentliches Recht

VwGO

Anfechtungsklage

Schutznormtheorie: Klagebefugnis bei schwieriger Drittschutznorm

Schutznormtheorie: Klagebefugnis bei schwieriger Drittschutznorm

23. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

W wohnt in der Nähe des geplanten Kraftwerks K. Es ist abzusehen, dass K einen vorsorglichen Schadstoffgrenzwert, der dem langfristigen Klimaschutz dient, nicht wird einhalten können. W findet dies unerhört und klagt fristgemäß gegen die Betriebsgenehmigung.

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Einordnung des Falls

Schutznormtheorie: Klagebefugnis bei schwieriger Drittschutznorm

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Das Klagebegehren des W ist auf die Beseitigung der Betriebsgenehmigung für K gerichtet. Die Anfechtungsklage ist statthaft.

Ja, in der Tat!

Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Klagebegehren (§§ 88, 86 Abs. 3 VwGO). W begehrt die Beseitigung der Betriebsgenehmigung für K. Aus rechtlicher Sicht möchte er damit die Aufhebung der Genehmigung erreichen. Die Betriebsgenehmigung ist ein Verwaltungsakt (§ 35 S. 1 VwVfG). Mithin begehrt W die Aufhebung eines Verwaltungsakts. Die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) ist statthaft.
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2. W könnte klagebefugt sein, wenn die Betriebsgenehmigung eine drittschützende Norm verletzt und diese ihn schützt.

Ja!

Verwaltungsakte können Doppel- und Drittwirkung (§§ 80 Abs. 1 S. 2, 80a VwGO) haben. Auch hier ist die Klagebefugnis danach zu ermitteln, ob der Kläger möglicherweise in einem subjektiv-öffentlichen Recht verletzt ist (Möglichkeitstheorie). Dies setzt voraus, dass der Kläger die Verletzung eines geschützten Rechts geltend macht, das auch ihn schützt (Drittschutz).

3. W ist klagebefugt, weil er geltend machen kann, durch einen Verstoß der Betriebsgenehmigung gegen § 6 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG in einem geschützten Recht verletzt zu sein.

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Kläger ist klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO), wenn er durch einen Verstoß gegen drittschützende Vorschriften möglicherweise in subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt worden ist. Eine Norm ist drittschützend, wenn sie nicht nur Interessen der Allgemeinheit schützen soll, sondern zumindest auch den Interessen des Klägers zu dienen bestimmt ist (Schutznormtheorie). § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG ist eine drittschützende Norm. Sie dient nach ihrem Wortlaut auch dem Schutz des Nachbarn vor erheblichen Belastungen (Gefahrenabwehr). Sie ist aber nicht verletzt, weil sie erhebliche schädliche Umwelteinwirkungen voraussetzt.

4. W ist klagebefugt, weil er geltend machen kann, durch einen Verstoß der Betriebsgenehmigung gegen § 6 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG in einem geschützten Recht verletzt zu sein.

Nein, das trifft nicht zu!

Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Genehmigung wegen der erwarteten Verletzung des vorsorglichen Schadstoffgrenzwerts gegen § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG verstößt. W ist klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO), wenn § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG nicht nur Interessen der Allgemeinheit schützen soll, sondern zumindest auch die Interessen des W. Der Wortlaut lässt nicht auf einen Drittschutz schließen. Nach Sinn und Zweck dient § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG der langfristigen Gefahrenvorsorge und schützt damit allein Allgemeininteressen. Die Norm ist nicht drittschützend. W ist nicht klagebefugt.

5. W kann als Adressat der Betriebsgenehmigung geltend machen, durch diese in einem seiner subjektiv-öffentlichen Rechte verletzt zu sein.

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) beurteilt sich danach, ob der Kläger durch den angegriffenen Verwaltungsakt möglicherweise in einem subjektiv-öffentlichen Recht verletzt ist (sog. Möglichkeitstheorie). Ist der Kläger Adressat eines belastenden Verwaltungsakts, ergibt sich die Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) auch ohne Sachvortrag aus dem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) (sog. Adressatentheorie). Da W nicht Adressat des Verwaltungsakts ist, greift die Adressatentheorie hier nicht.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Henk

Henk

20.3.2020, 07:06:15

Die vorletzte Frage finde ich missverständlich. 5 I Nr. 1 BImschG ist auch drittschützend. Wenn W einen Verstoß geltend machen kann, dann ist er als in Der Nähe Wohnender doch klagebefugt. Die Frage war ja nicht, ob er sie geltend machen kann, sondern ob er klagebefugt ist, WENN er sie geltend (wenn die VSS vorliegen) macht. Vielleicht habe ich auch nur etwas missverstanden.

SVE

Sven

24.9.2020, 07:58:05

Richtig lesen! In der Frage steht nicht “WENN”, sondern “WEIL”. In diesem Fall liegt jedoch kein Verstoß gegen § 5 I Nr. 1 BImSchG vor.

ri

ri

3.8.2021, 23:02:02

Ist das auch im Lichte der Entscheidung des BVerfG zur Klimaklage noch so zu sehen?

Ferdinand

Ferdinand

4.8.2021, 12:52:14

M. E. ist nicht zu erwarten, dass die Entscheidungen de BVerfG zu den Klimaverfassungsbeschwerden nennenswerte Auswirkungen auf andere als die konkret entschiedene Konstellation haben wird. W müsste die Verletzung einer drittschützenden Norm geltend machen. An den Regelungen des BImSchG hat sich aber nichts geändert. Das BVerfG hat auch nicht etwa Art. 20a GG zu einem Grundrecht erhoben, sondern klargestellt, dass es sich um eine (rein objektive) Staatszielbestimmung handelt, daher kann W sich auch nicht hierauf berufen. Insgesamt halte ich es für eher unwahrscheinlich, dass die neugeschöpfte Figur der „intertemporalen Freiheitssicherung“ aufgrund der spezifischen (verfassungsrechtlichen) Situation und der dogmatischen Besonderheiten in absehbarer Zeit Auswirkungen auf das einfache Recht zeigen wird.

ri

ri

4.8.2021, 21:35:27

Danke für deine Einschätzung 👍

Isabell

Isabell

11.9.2021, 11:27:30

Ändert das Umweltschutz-Urteil des BVerfG etwas an den oftmals nicht als individuelle Schutznorm ausgelegten Normen zum Umweltschutz?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

26.10.2021, 12:29:22

Hallo Isabell, ich würde mich hier Ferdinand (siehe Parallelthread) anschließen und dies im Ergebnis verneinen. Denn das BVerfG hat ja in dem Urteil auch noch einmal explizit klargestellt, dass Art. 20a GG gerade keine subjektiven Rechte enthält (RdNr. 112), sondern eine bloße Staatszielbestimmung darstellt. Einen interessanten Überblick über die Entscheidung und ihre Folgen findest Du auch bei Faßbender, Der Klima-Beschluss des BVerfG - Inhalte, Folgen und offene Fragen, NJW 2021, 2085. Beste grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Isabell

Isabell

26.10.2021, 13:11:47

Super lieben Dank für die Fundstelle!

DeliktusMaximus

DeliktusMaximus

13.6.2023, 15:59:31

Es gibt demnach für W keine Möglichkeit, sich gegen das Kraftwerk zur Wehr zu setzen?

EVA

evanici

26.8.2023, 11:27:43

Scheitert der Drittschutz im Sinne der

Schutznormtheorie

jetzt an der Erheblichkeit? Ich verstehe leider gar nicht, warum man mit dem Wortlaut den Drittschutz ablehnt, zumal ja explizit auch auf die Nachbarschaft im Normtext eingegangen wird…

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

11.11.2023, 12:19:14

Hi evanici. So wie ich das verstanden habe, ist deine erste Aussage richtig. Grundsätzlich besteht Drittschutz, aber mit, wenn eine Erheblichkeitsschwelle überschritten wird. Dies ist hier wohl nicht der Fall, damit fällt der eigentlich mögliche Drittschutz in diesem konkreten Fall nicht. Lg Benny :)

PAT

Patrick4219

1.2.2024, 11:21:03

Der Drittschutz entfällt vorliegend weil vorliegend lediglich Vorsorgemaßnahmen nicht in ausreichendem Umfang getroffen werden. § 5 I Nr. 2 BImSchG ist für diese Einschlägig und enthält anders als § 5 I Nr. 1 BImSchG keinen Verweis auf die "Nachbarschaft". Bereits aus dem Wortlaut lässt sich daher entnehmen, dass Schutzzweck des § 5 I Nr. 2 BImSchG nicht der Nachbarschutz, also der Schutz des Einzelnen, ist. Vielmehr dient § 5 I Nr. 2 BImSchG primär dem Umweltschutz ("schädliche Umwelteinwirkungen") und damit dem Schutz der Allgemeinheit und gerade nicht dem Schutz von Individualinteressen.


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