Zivilrecht

Examensrelevante Rechtsprechung ZR

Entscheidungen von 2021

Verkehrssicherungspflicht in Bezug auf rutschige Treppe zum Watt?

Verkehrssicherungspflicht in Bezug auf rutschige Treppe zum Watt?

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Tourist T besucht die öffentliche „Familienlagune Perlebucht“ der Stadt B. Dort führt eine Betontreppe, die B von Fachplanerin F hat errichten lassen, ins Wattenmeer. Als T eine unter Wasser liegende Stufe betritt, rutscht er aus und bricht sich das Bein.

Diesen Fall lösen 84,0 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

Einordnung des Falls

Verkehrssicherungspflicht in Bezug auf rutschige Treppe zum Watt?

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. T verlangt Schadensersatz von B. Als Anspruchsgrundlage kommt § 823 Abs. 1 BGB in Betracht.

Ja!

Vorrangig ist grundsätzlich an vertragliche Ansprüche zu denken. Die Lagune ist jedoch öffentlich zugänglich; für ein Vertragsverhältnis zwischen B und T ist nichts ersichtlich. Auch ist das allgemeine Deliktsrecht nicht durch den Amtshaftungsanspruch (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) verdrängt. Das schlichte Bereitstellen von Einrichtungen ist nämlich kein hoheitliches Handeln, solange dem Hoheitsträger nicht etwa durch Gesetz ausdrücklich hoheitliche Verkehrssicherungspflichten auferlegt sind (so z.B. im Straßenrecht). B haftet deshalb nach den allgemeinen Vorschriften (vgl. Sprau, in: Palandt, 80.A. 2021, § 839 RdNr. 3, 16, 23).
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. Der Anspruch gemäß § 823 Abs. 1 BGB setzt in diesem Fall voraus, dass B eine Verkehrssicherungspflicht verletzt hat.

Genau, so ist das!

Die Anspruchsvoraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB sind: (1) Rechtsgutverletzung; (2) Verletzungshandlung; (3) „haftungsbegründende“ Kausalität (zwischen Verletzungshandlung und -erfolg); (4) Rechtswidrigkeit; (5) Verschulden; (6) Schaden; (7) „haftungsausfüllende“ Kausalität (zwischen Verletzungserfolg und Schaden). Als Verletzungshandlung kommt hier das Unterlassen ausreichender Sicherungsmaßnahmen in Betracht. Ein solches Unterlassen ist nur dann eine tatbestandsmäßige Verletzungshandlung, wenn auch eine entsprechende Verkehrssicherungspflicht bestand und diese verletzt ist (Sprau, in: Palandt, 80.A. 2021, § 823 Rn. 26).

3. B trifft eine Verkehrssicherungspflicht hinsichtlich der Betontreppe.

Ja, in der Tat!

Nach ständiger Rechtsprechung hat jeder, der Gefahrenquellen schafft oder unterhält, die nach Lage der Verhältnisse erforderlichen Vorkehrungen zum Schutz anderer Personen zu treffen, soweit diese Maßnahmen nach den Gesamtumständen zumutbar sind (vgl. BGH NJW 1990, 1236). B hat mit der teilweise unter Wasser verlaufenden Betontreppe eine Gefahrenquelle geschaffen. Sie muss deshalb, soweit zumutbar, die für den Schutz der Benutzer vor Verletzungen erforderlichen Vorkehrungen treffen.

4. B hat ihre Verkehrssicherungspflicht hinsichtlich der Betontreppe verletzt.

Nein!

OLG: Ein Verkehrssicherungspflichtiger müsse nicht allen denkbaren Gefahren vorbeugen, sondern nur solchen, die über das übliche Risiko einer Anlagenbenutzung hinausgingen und für Benutzer nicht ohne weiteres vorhersehbar oder erkennbar seien (RdNr. 6). OLG: Die Treppennutzung berge eine gesteigerte Gefahr, da die Stufen durch Ablagerungen von Schwebstoffen während einer Flut schnell rutschig würden. Diese Gefahr sei allerdings auch offenkundig. Jeder Nutzer könne ihr eigenverantwortlich begegnen, indem er die Treppe vorsichtig benutze und sich an den Handläufen festhalte. Zusätzliche Sicherungseinrichtungen seien nicht angezeigt.

5. T kann von B Schadensersatz verlangen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Mangels Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht liegt schon keine Verletzungshandlung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB vor. Ein Anspruch des T auf Schadensersatz scheidet daher aus. OLG: Selbst wenn man die Verwendung ungeeigneten Materials unterstellte, so habe B darauf vertrauen dürfen, dass die betraute Fachplanerin für die Einhaltung erforderlicher Sicherheitsstandards Sorge trage. Auch äußerlich seien keine Baufehler erkennbar. B habe deshalb in jedem Fall auch nicht fahrlässig gehandelt.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

Jurafuchs kostenlos testen


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

phiob

phiob

8.10.2021, 14:13:53

Könnte man den Fall vllt etwas genauer formulieren? Also z.B. ob das Geländr auch bis ins Wasser geht?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

8.10.2021, 15:45:15

Hallo phiob, um unsere Sachverhalte möglichst knapp zu halten, sehen die Illustrationen bei uns nicht nur schön aus, sondern dienen auch dazu, den Sachverhalt zu ergänzen. In der Tat liegt der Fall hier also so, dass das Geländer bis ganz nach unten reichte. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

ALFA

Alfa_Fox

8.11.2021, 19:17:57

Könnte man die Verkehrssicherungspflicht hier nicht weiter auffassen? Am Wattenmeer herrschen doch Gezeiten, dadurch liegt die besagte untere Stufe vermutlich nur bei Niedrigwasser frei und bei Hochwasser wird sie dann überspült, woraus letztlich die Stufe erst rutschig wird. Hätte hier nicht zB ein Warnschild erforderlich sein können? Zumindest Ortsunkundige dürften von der rutschigen Stufe ziemlich überrascht werden. Gerade bei der Bezeichnung „Familienlagune“ liegt es doch nahe, dass sich diese Einrichtung zumindest auch an Touristen wendet, die mit den Besonderheiten des Wattenmeers (Tidenhub) nicht vertraut sind. Daher könnte doch das zusätzliche Aufstellen eines entsprechenden Warnschildes bzgl. Ausrutschgefahr zumutbar gewesen sein, um der Verkehrssicherungspflicht gerecht zu werden.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

9.11.2021, 10:29:12

Hallo Alfa_Fox, vielen Dank für diese super Anmerkungen. Völlig richtig ist, dass auch hier der Umfang der Verkehrssicherungspflichten eine Wertungsfrage ist und vom Einzelfall abhängt. Das OLG und das LG haben die ständige Rechtsprechung des BGH angeführt, dass der Verkehrssicherungspflichtige nicht allen denkbaren Gefahren vorbeugen soll, sondern nur solchen, die über das übliche Risiko bei der Anlagenbenutzung hinausgehen und vom Benutzer nicht vorhersehbar und nicht ohne weiteres erkennbar sind. Das OLG und das LG sind dabei zu dem Schluss gekommen, dass die Gefahr hier hinreichend erkennbar für Dritte war und insofern die Verkehrssicherungspflicht nicht bestand. Das kann man aber natürlich auch anders sehen und mit deinen Argumenten hier die Erkennbarkeit verneinen und damit im Ergebnis eine umfangreichere Verkehrssicherungspflicht annehmen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

annkat.tt

annkat.tt

8.2.2022, 13:26:49

Hätte man hier vor § 823 I ein VSD anprüfen können?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

8.2.2022, 14:46:01

Hallo annkat.tt, vielen Dank für die Frage. Im Hinblick auf einen Anspruch gegen B wäre ein Vertrag mit Schutzwirkung Dritter (VSD) fernliegend. Denn der Vertrag zwischen B und F war darauf gerichtet, dass F die Betontreppe errichtet. B selbst hatte mit der Ausführung nichts zu tun. Denkbar wäre insofern aber ein Anspruch gegen F, wenn die Voraussetzungen der VSD (Leistungsnähe, Gläubigernähe, Erkennbarkeit, Schutzbedürftigkeit) vorliegen und die weiteren Schadensersatzvoraussetzungen (pflichtwidriges Handeln, Vertretenmüssen, Schaden) vorliegen. Hierfür fehlt es im Sachverhalt indes an Informationen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


© Jurafuchs 2024