Strafrecht
Examensrelevante Rechtsprechung SR
Allgemeiner Teil
Stoß aus dem zweiten Stock – Tötungsvorsatz? (BGH, Beschl. v. 19.06.2024 – 6 StR 340/24)
Stoß aus dem zweiten Stock – Tötungsvorsatz? (BGH, Beschl. v. 19.06.2024 – 6 StR 340/24)
22. Februar 2025
14 Kommentare
4,7 ★ (11.810 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Content-Note: Der Sachverhalt enthält transfeindliche Verhaltensweisen.
T, O und U nehmen in Us Wohnung Drogen. U und T flirten. Später teilt O T mit, dass U transgender ist. T ist wütend, dass O ihn nicht „früher aufgeklärt hat“, ergreift O und stößt ihn wuchtvoll gegen den halb offenen Rollladen, der bricht. O stürzt mehrere Stockwerke hinab auf den Gehweg, aber überlebt.
Diesen Fall lösen 88,3 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Stoß aus dem zweiten Stock – Tötungsvorsatz? (BGH, Beschl. v. 19.06.2024 – 6 StR 340/24)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 15 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Indem T den O gegen den halb offenen Rollladen stieß, könnte er sich wegen versuchten Totschlags strafbar gemacht haben (§§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB).
Genau, so ist das!
Jurastudium und Referendariat.
2. T müsste zumindest mit bedingtem Vorsatz gehandelt haben. Ist es nach allen Ansichten Voraussetzung, dass dafür ein voluntatives Element vorliegen muss?
Nein, das trifft nicht zu!
3. Um Eventualvorsatz und bewusste Fahrlässigkeit voneinander abzugrenzen, ist nach der h.M. auch ein voluntatives Element erforderlich.
Ja!
4. Ts Handlungen waren objektiv derart gefährlich, dass auf das Vorliegen des Wissenselement geschlossen werden kann.
Genau, so ist das!
5. Bei besonders gefährlichen Handlungen kann man immer darauf schließen, dass auch das Wollenselement bei dem Täter vorlag.
Nein, das trifft nicht zu!
6. Weil T sauer auf O war und diesen bestrafen wollte, hatte er ein Tötungsmotiv. Kann man allein daraus schließen, dass T Os Tod billigend in Kauf nahm?
Nein!
7. Angenommen, T nahm zumindest billigend in Kauf, dass O auf den asphaltierten Gehweg prallte und schlimme Kopfverletzungen erlitt. Hat T sich nach §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB strafbar gemacht?
Genau, so ist das!
8. Nach dem Sturz kann O nur noch eingeschränkt sprechen und laufen. Kommt damit auch eine Strafbarkeit des T nach § 226 StGB in Betracht?
Ja, in der Tat!
9. O verlor infolge des Sturzes dauerhaft sein Sprechvermögen. Würde es für eine Strafbarkeit nach § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB auch ausreichen, dass das Sprechvermögen nur für einige Wochen vermindert ist?
Nein!
10. O hat zwar kein Glied verloren, allerdings kann er seine Beine nicht mehr benutzen. Ist damit auch die schwere Folge aus § 226 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB eingetreten?
Genau, so ist das!
11. Neben §§ 226 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 Alt. 2 StGB liegt auch § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB (Lähmung) vor.
Ja, in der Tat!
12. Die Körperverletzung des T ist kausal für die bei O eingetretenen schweren Folgen.
Ja!
13. In Os eingeschränkter Sprech- und Lauffähigkeit als schwerer Folgen müsste sich zudem gerade die spezifische Gefährlichkeit der Körperverletzung als Grunddelikt verwirklicht haben (= besonderer Gefahrzusammenhang).
Genau, so ist das!
14. Handelte T in Bezug auf die schweren Folgen objektiv fahrlässig (§ 18 StGB)?
Ja, in der Tat!
15. T hat auch rechtswidrig und schuldhaft, insbesondere subjektiv fahrlässig bezüglich der schweren Folge gehandelt.
Ja!
Fundstellen
Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!
Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

FW
11.2.2025, 00:17:07
Krank, dass der man jemanden wegen so unbedeutsamer Gründe aus dem 6. Stock stoßen darf, sein Leben für den Rest des Lebens zerstören kann und nach 4 Jahren wieder auf freiem Fuß ist. Ist doch ein absoluter Witz als Geschädigter.
Timurso
11.2.2025, 23:52:09
Wie kommst du auf den 6. Stock? Die Wohnung lag im zweiten Obergeschoss. Außerdem: Das
Urteilwurde aufgehoben, es steht demzufolge noch nicht fest, welche Strafe der Täter bekommen wird. Zudem hat das Opfer auch umfangreiche zivilrechtliche Ansprüche, die wegen
vorsätzlicher Verletzung auch nicht der Rest
schuldbefreiung unterliegen. Der Täter kommt daher zwar nach einiger Zeit wieder frei, aber damit ist die Sache für ihn noch lange nicht vorbei. Vielmehr wird er dem Opfer wohl lange Zeit eine Geldrente zahlen müssen, um es zu entschädigen.

FW
11.2.2025, 23:58:20
@@[Timurso](197555) meinte 6m. War etwas spät als ich die Nachricht geschrieben hab. Ja, das zivilrechtlich der Täter umfangreiche zivilrechtliche Ansprüche hat ändert aber nichts am Unwert der Tat. Wenn dieser jetzt sehr viel Vermögen hat, dann hat das nicht wirklich große negative Auswirkung für ihn. Und wenn er kaum Vermögen hat, ist sowieso nicht viel zu holen. In beiden Fällen für das Opfer ziemlich unfair. Außerdem muss man doch auch die negative Vorbildwirkung berücksichtigen. Warum sollten Menschen Angst haben solche schwerwiegenden Straftaten zu begehen, wenn sie doch nach 4 Jahren wieder auf freiem Fuß sind?
Timurso
12.2.2025, 00:01:17
@[FW](139488) ich finde es schwierig, rein aus dem Sachverhalt die Strafzumessung zu kritisieren. Dafür sind so viele Kriterien maßgeblich, die weder hier noch im BGH-
Urteilwiedergegeben werden. Möglicherweise fand beispielsweise ein Täter-Opfer-Ausgleich statt und das Opfer hat dem Täter verziehen und ist nicht an einer Bestrafung interessiert. Wir wissen es nicht und daher können wir auch nicht bewerten, ob die Strafe tat- und
schuldangemessen ist, oder nicht.
Timurso
12.2.2025, 00:03:14
Außerdem machen sich die wenigsten in solchen Situationen, gerade wenn Alkohol und Drogen im Spiel sind, über die Konsequenzen ihres Verhaltens Gedanken. Und selbst wenn, ich wette auch 4 Jahre Gefängnis ist den meisten eine solche Tat nicht wert und wäre geeignet, sie abzuschrecken.

FW
12.2.2025, 10:05:05
@[Timurso](197555) Hinsichtlich der Strafzumessung wegen Täter-Opfer Ausgleich stimme ich Dir voll zu. Möglicherweise war das der Grund für die geringe Strafe. Das man den Alkohol- oder Drogenrausch mitberücksichtigen muss auch auf jeden Fall. Aber das 4 Jahre abschrecken sollen, weiß ich nicht ganz. 4 Jahre sind jetzt nicht die Welt und in deutschen Gefängnissen lebt es sich jetzt nicht soooo schlecht. Außerdem muss man berücksichtigen: beim Raub, wo der Täter seine Waffe verwendet - d.h. ausreichend wäre ein einfacher nicht lebensbedrohender Stich ins Bein zwecks Ermöglichen der
Wegnahme- ist die Mindestfreiheitsstrafe schon 5 Jahre. Jetzt vergleich das mal mit den 4 Jahren hier.
Timurso
12.2.2025, 10:24:24
@[FW](139488) man kann die gesetzliche Mindeststrafe eben nur schwer mit dem Ergebnis der Strafzumessung vergleichen, wenn vorliegend mindestens eine, realistischerweise wenigstens beim versuchten Totschlag mehrere
Strafmilderungen nach § 49 StGB auf Ebene der Strafzumessung in Betracht kommen. Mit zwei
Strafmilderungen für Rausch und Versuch bliebe auch in deinem Beispiel beim Raub nur eine Mindeststrafe von sechs Monaten übrig. Im Verhältnis dazu wären vier Jahre nicht gerade wenig. Aber ich bleibe allgemein dabei, dass wir das nicht konkret bewerten können, ohne die vollständigen Strafzumessungskriterien zu kennen. Wir wissen ja beispielsweise nicht mal, ob das Gericht hier von einer, zwei oder drei
Strafmilderungen (bspw. eben noch § 46a StGB) ausging.
M***** K******
11.2.2025, 13:40:24
Wieso gibt es an dieser Stelle einen "Content-Note" und was bezweckt dieser? Habe sonst nirgends einen solchen bisher gesehen, weder bei Fällen mit sexuellen Übergriffen, Rassismus oder sonst Fällen mit möglicherweise "kritischen" Themen.

Major Tom(as)
11.2.2025, 15:55:38
Naja, der Fall ist neu eingefügt und mittlerweile hat man vermutlich bei Jurafuchs die Guidelines dahingehend angepasst und sensibilisiert :) Das wird sicher auch noch kommen, aber hier laufen Veränderungen doch immer langsam von einem Gebiet in das andere.

Linne_Karlotta_
12.2.2025, 08:44:52
Hey ihr beiden, es ist genau, wie @[Major Tom(as)](258980) sagt: Die Content Notes haben wir neu eingeführt, damit User*innen sich bewusst für oder gegen die Auseinandersetzung mit einem Sachverhalt entscheiden können oder zumindest etwas darauf „vorbereitet“ sind. Unsere vielen Inhalte nachträglich mit dieser Note zu versehen, ist leider sehr zeitaufwendig und wir werden das daher nicht von heute auf morgen umsetzen können. Es liegt uns aber sehr am Herzen, unsere Inhalte noch sensibler zu gestalten und wir sind – wie ihr seht – dabei, das immer stärker zu tun. Danke für eure Geduld! Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team