Zivilrecht

Examensrelevante Rechtsprechung ZR

Entscheidungen von 2021

Nachlieferung eines erheblich höherwertigen Nachfolgemodells gegen Zuzahlung ("Diesel-Abgasskandal")

Nachlieferung eines erheblich höherwertigen Nachfolgemodells gegen Zuzahlung ("Diesel-Abgasskandal")

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Verbraucher K kauft von V einen fabrikneuen VW Caddy III für €20.000, der über eine unzulässige Abschalteinrichtung verfügt. Ein Jahr später verlangt K Nachlieferung. VW produziert mittlerweile ausschließlich den Caddy IV für 26.000€. Ein Softwareupdate würde V nur €100 kosten.

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Einordnung des Falls

Nachlieferung eines erheblich höherwertigen Nachfolgemodells gegen Zuzahlung ("Diesel-Abgasskandal")

Dieser Fall lief bereits im 1./2. Juristischen Staatsexamen in folgenden Kampagnen
Examenstreffer Berlin/Brandenburg 2023
Examenstreffer NRW 2023

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ein Anspruch des K gegen V auf Nachlieferung (§§ 437 Nr. 1, 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB) setzt voraus, dass der VW Caddy III bei Gefahrübergang sachmangelhaft war (§§ 434 Abs. 1, 446 S. 1 BGB).

Ja, in der Tat!

Ein Nachlieferungsanspruch entsteht (§§ 437 Nr. 1, 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB), wenn die Kaufsache im Zeitpunkt des Gefahrübergangs mangelhaft ist (§§ 434 Abs. 1, 435, 446 S. 1 BGB) und die Gewährleistungsrechte des Käufers tatbestandlich nicht ausgeschlossen sind (§§ 442, 444 BGB). Der BGH betont, derselbe Mangel müsse im Zeitpunkt des Gefahrübergangs, sowie auch im Zeitpunkt des Nachlieferungsverlangens bestehen (RdNr. 37 m.w.N.). Das ist aber richtigerweise keine Voraussetzung der Entstehung eines Nachlieferungsanspruchs, sondern eine Frage seines Untergangs nach § 275 Abs. 1 BGB (rechtsvernichtende Einwendung).
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2. Der VW Caddy III war bei Gefahrübergang sachmangelhaft, weil er sich nicht für die gewöhnliche Verwendung eignete (§§ 434 Abs. 1, Abs. 3 S. 1 Nr. 1, 446 S. 1 BGB).

Ja!

Für die gewöhnliche Verwendung eignet sich eine Sache nicht, sobald ihre Tauglichkeit auch nur herabgesetzt ist (§§ 434 Abs. 1, Abs. 3 S. 1 Nr. 1 BGB). Ein Fahrzeug eignet sich daher für die gewöhnliche Verwendung nicht, wenn seine Zulassung zum Straßenverkehr gefährdet oder seine Gebrauchsfähigkeit anderweitig aufgehoben oder beeinträchtigt ist (RdNr. 37 m.w.N.). Die unzulässige (Art. 5 Abs. 2 VO 715/2007/EG) Abschalteinrichtung begründet seit Gefahrübergang die latente Gefahr einer Betriebsuntersagung nach § 5 FZV (RdNrn. 38). Siehe zur Begründung des Sachmangels auch diesen Fall (BGH NJW 2019, 1133).

3. Ks Nachlieferungsanspruch ist untergegangen, wenn er auf Lieferung eines fabrikneuen Caddy III gerichtet ist (§ 275 Abs. 1 BGB).

Genau, so ist das!

Ein Anspruch ist ausgeschlossen, soweit die Leistung für den Schuldner (subjektiv) oder für jedermann (objektiv) unmöglich ist (§ 275 Abs. 1 BGB). Subjektive Unmöglichkeit setzt voraus, dass für den Schuldner ein auch mit Hilfe Dritter unüberwindbares Leistungshindernis besteht. BGH: Da der Caddy III nicht mehr produziert werde, sei dessen Nachlieferung unmöglich (§ 275 Abs. 1 BGB) (RdNr. 36, 40, 62). Eine Entscheidung zwischen subjektiver oder objektiver Unmöglichkeit kann dahinstehen, da selbst ein von V mit Hilfe Dritter noch zu beschaffender Neuwagen bereits ein Jahr nach seiner Produktion nicht mehr fabrikneu wäre (BGH NJW 2004, 160).

4. Ist der Nachlieferungsanspruch stets auf Lieferung einer der Kaufsache - abgesehen von deren Mangelhaftigkeit - vollständig entsprechenden Ersatzsache gerichtet (§ 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB)?

Nein, das trifft nicht zu!

Der Inhalt des Nachlieferungsanspruchs (§ 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB) bestimmt sich nach der für den Gewährleistungsfall vertraglich übernommenen Beschaffungspflicht des Verkäufers. Deren Bestand und Reichweite sind durch interessengerechte Auslegung des Parteiwillens im Einzelfall zu ermitteln (§ 157 BGB). BGH: Regelmäßig sei dieser Parteiwille auf Nachlieferung einer mit der Kaufsache nicht identischen, sondern ihr subjektiv gleichartigen und gleichwertigen Sache gerichtet (BGH NJW 2021, 2958). Kernargument des BGH ist, dass selbst beim Stückkauf eine Nachlieferung nicht von vornherein ausscheide (str.).

5. Nach diesem Auslegungsmaßstab kann der Nachlieferungsanspruch auch auf Lieferung eines höherwertigen Nachfolgemodells gerichtet sein (§ 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB).

Ja!

BGH: Die für den Gewährleistungsfall vertraglich definierte Beschaffungspflicht des Verkäufers (§ 439 Abs. 1 Alt. 2 BG) könne dem Parteiwillen entsprechend über die ursprüngliche Leistungspflicht (§ 433 Abs. 1 S. 2 BGB) hinausgehen. Auch ein objektiv höherwertiges Nachfolgemodell könne daher dem Parteiwillen entsprechend gleichartig und gleichwertig sein (RdNr. 40; BGH NJW 2021, 2958). BGH: Gegen einen Willen zur Nachlieferung eines Nachfolgemodells könne sprechen, dass sich der Käufer (z.B. aus Kostengründen) bewusst für ein Auslaufmodell entschieden habe (RdNr. 43).

6. Ein Wille der Parteien zur Nachlieferung eines höherwertigen Nachfolgemodells unterliegt aber regelmäßig zeitlichen Grenzen (§ 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB).

Genau, so ist das!

BGH: Dem Parteiwillen entspreche es bei typisierender Betrachtung regelmäßig (§ 157 BGB), die Beschaffungspflicht des Verkäufers nur dann auf ein höherwertiges Nachfolgemodell zu erstrecken, wenn der Verbraucher binnen einer Frist von zwei Jahren ab Vertragsschluss Nachlieferung verlangt (RdNr. 46). Dies liege im Verkäuferinteresse, denn der Verbraucher habe - ungeachtet möglicherweise rascher Wertverluste - bei Rückgabe der Kaufsache (§ 439 Abs. 6 BGB) weder Nutzungs- noch Wertersatz zu leisten (§ 475 Abs. 3 S. 1 BGB). Diese Zwei-Jahres-Frist entscheidet anders als die Verjährung (§ 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB), nicht erst über die Durchsetzbarkeit des Nachlieferungsanspruchs, sondern bereits über dessen Inhalt. Sie beginnt auch nicht mit Ablieferung (§ 438 Abs. 2 BGB), sondern mit Vertragsschluss.

7. Verlangt der Käufer innerhalb der Zwei-Jahres-Frist Nachlieferung, muss der Verkäufer das im Zeitpunkt der Nachlieferung jeweils aktuellste Modell liefern (§ 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB).

Nein, das trifft nicht zu!

BGH: Dem Parteiwillen entspreche es regelmäßig (§ 157 BGB), dass der Nachlieferungsanspruch durch ein fristgemäßes Nachlieferungsverlangen auf dasjenige Modell konkretisiert werde, das im Zeitpunkt des erstmals binnen zwei Jahren nach Vertragsschluss erklärten Nachlieferungsverlangens das aktuellste ist. Das Interesse des Verkäufers an Vorhersehbarkeit und Planbarkeit seiner Gewährleistungspflichten erfordere, dass der Inhalt des Nachlieferungsanspruchs nach Ablauf der Zwei-Jahres-Frist materiell rechtssicher feststehe (Mehr dazu in diesem Fall (BGH NJW 2021, 2958))! Andernfalls riskiere der Verkäufer durch einen langjährigen Rechtsstreit, ein immer höhenwertigeres Modell liefern zu müssen.

8. Dem Parteiwillen entspricht es zudem regelmäßig, dass der Verkäufer ein höherwertiges Nachfolgemodell nur nachliefern muss, wenn der Käufer hierfür eine Zuzahlung anbietet (§ 157 BGB).

Nein!

BGH: Die Parteien wollten die Nachlieferung eines höherwertigen Nachfolgemodells vom Angebot einer Zuzahlung eines Käufers regelmäßig nur dann abhängig machen (§ 157 BGB), wenn der Mehrwert des Nachfolgemodells erheblich sei. Erheblichkeit liege bei generalisierender Betrachtung des Parteiwillens erst vor, wenn der Listenpreis des Nachfolgemodells im Zeitpunkt des Nachlieferungsverlangens den Listenpreis der Kaufsache zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses um mindestens 25% übersteige (RdNr. 52f.). Der Käufer kann die Zuzahlung zu jedem Zeitpunkt, auch nachträglich anbieten. Tut er das nicht, bleibt der Nachlieferungsanspruch auf Lieferung des Ausgangsmodells beschränkt (RdNr. 55).

9. Beträgt die Differenz der Listenpreise mindestens 25%, entspricht es regelmäßig dem Parteiwillen, dass der Käufer die volle Differenz zuzahlt (§ 157 BGB).

Nein, das ist nicht der Fall!

BGH: Differierten die Listenpreise um mindestens 25%, entspreche es regelmäßig dem Parteiwillen, dass der Käufer nicht die gesamte Differenz, sondern nur ein Drittel hiervon im Wege der Zuzahlung auszugleichen habe (RdNr. 53f.). Im Einzelfall komme ausnahmsweise eine höhere Zuzahlung in Betracht, die jedoch die Hälfte der Differenz nicht überschreiten dürfe. (RdNr. 54). Der BGH begründet dies damit, dass die Zuzahlungsobliegenheit den Nachlieferungsanspruch nicht aushöhlen dürfe. Der Verkäufer müsse auch keineswegs von jeder wirtschaftlichen Mehrbelastung durch die Nachlieferung befreit werden (RdNr. 54 m.w.N.).

10. Wenn K der V eine Zuzahlung in Höhe von €2.000 anbietet, ist ein Anspruch auf Nachlieferung eines fabrikneuen Caddy IV entstanden (§ 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB).

Ja, in der Tat!

BGH: Dem Parteiwillen entspreche es bei typisierender Betrachtung regelmäßig (§ 157 BGB), die Nachlieferung auch auf ein höherwertiges Nachfolgemodell zu erstrecken, wenn der Käufer binnen Zwei Jahren nach Vertragsschluss Nachlieferung verlange und dem Verkäufer im Fall einer Differenz der Listenpreise von mindestens 25% eine Zuzahlung von einem Drittel dieser Differenz anbiete. K hat binnen zwei Jahren nach Vertragsschluss Nachlieferung verlangt. Die Differenz der Listenpreise beträgt €6.000, also 30% des ursprünglichen Listenpreises. K hat eine Zuzahlung in Höhe eines Drittels dieser Differenz (€2.000) angeboten. Der Inhalt des Nachlieferungsanspruchs hat sich durch Eintritt dieser Bedingungen nachträglich geändert. Er ist anstelle eines Caddy III (§ 275 Abs. 1 BGB) nunmehr auf einen Caddy IV gerichtet, also das zum Zeitpunkt des erstmals fristgemäßen Nachlieferungsverlangens aktuellste Modell.

11. Ist Ks Anspruch auf Nachlieferung eines fabrikneuen Caddy IV auch durchsetzbar (§ 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB), wenn V seine Erfüllung verweigert?

Nein!

Ein Anspruch ist durchsetzbar, wenn ihm der Schuldner keine rechtshemmenden Einwendungen (= Einreden im materiell-rechtlichen Sinne) entgegenhält. Eine solche steht dem Verkäufer nach Maßgabe des § 439 Abs. 4 S. 1 BGB im Fall der relativen Unverhältnismäßigkeit zu. Die Kosten der Nachlieferung sind insoweit mit den Beschaffungskosten abzüglich der Zuzahlung und des Restwerts der zurückzugebenden Sache anzusetzen (vgl. RdNrn. 21f., 107f.). Nach einem Jahr hat der Caddy III bei lebensnaher Betrachtung noch einen Wert von mindestens €10.000, sodass die Nachlieferungskosten €14.000 (= €26.000 - €10.000 - €2.000€) betragen (§ 287 Abs. 2 ZPO) und die Nachbesserungskosten (€100) somit um das 140-fache übersteigen. V hat die Nachlieferung daher zu Recht verweigert.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

PPAA

Philipp Paasch

6.10.2022, 23:58:49

Ganz schön vertieftes Kaufrecht, meint ihr, sowas kommt dran? LG

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

10.10.2022, 10:27:35

Hallo Philipp, der "Diesel-Abgasskandal" hat ja eine ganze Flut von Klagen ausgelöst, der die Gerichte landauf, landab in Atem gehalten hat. Insoweit ist durchaus damit zu rechnen, dass sich die Prüfungsämter aus diesem reichen Fundus bedienen werden. Bei der vorliegenden Entscheidung dürfte man aber wohl in der Tat einige Sachverhaltshinweise erwarten, gerade im Hinblick auf die Zuzahlungspflicht ab einer Differenz von 25%. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

JAEL

Jael

22.12.2022, 18:39:43

Sowas ähnliches kam heute in der ZII in NRW dran. Nur in Bezug auf Designer Smartwatches und nicht auf Autos.

•M

•M

30.6.2023, 20:17:06

Kann sich der Verkäufer die Art der Nacherfüllung nicht aussuchen ? Also laut SV gab es die Möglichkeit ein Softwareupdate durchzuführen.. wieso ist das nicht angesprochen worden oder habe ich etwa übersehen ?

lw1

lw1

18.7.2023, 12:35:55

Anders als im Werkvertragsrecht (hier hat der Unternehmer das Wahlrecht) hat der Käufer ein Wahlrecht welche Art der Nacherfüllung er begehrt, vergleich WL des § 439 I. Allerdings kann der Verkäufer nach § 439 IV S. 1 die gewählte Art der Nacherfüllung verweigern, wenn die Kosten der gewählten Art der Nacherfüllung relativ zur anderen Art der Nacherfüllung unverhältnismäßig sind (Faustformel: 10-20%). DerPunkt der geringen Kosten des Softwareupdates wurde dementsprechend unter dem Prüfungspunkt „Keine Einreden“ gegen Ende geprüft.

•M

•M

18.7.2023, 12:42:32

Lieben Dank für deine Antwort :) Ich habe hier die Normen durcheinandergebracht.. Konnte den Kommentar leider nicht mehr löschen :D

Blan

Blan

26.10.2023, 18:34:17

kam heute abgewandelt in der ZR III in NRW dran. Es ging um ein Soundsystem, dass nur mit der dazugehörigen App funktioniert hat. Der Käufer hat die erste Generation erworben und kurz darauf konnte er aufgrund fehlender Bereitstellung der Aktualisierung das System nicht mehr vollständig nutzen. Der Hersteller hat die Bereitstellung einer weiteren Aktualisierung für das Soundsystem der 1. Generation abgelehnt, weil er Aktualisierungen nur noch für die 2. Generation bereitstellt. Die war aber 1000€ teurer. Der Käufer hat trotzdem Nacherfüllung verlangt :)

Nora Mommsen

Nora Mommsen

27.10.2023, 14:39:08

Hey Blan, super Rückmeldung, danke dir! Weiterhin viel Erfolg beim Lernen. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

Doppelte Verfassungsunmittelbarkeit

Doppelte Verfassungsunmittelbarkeit

29.10.2023, 11:13:13

Lief so auch in Berlin im Oktober 2023 in Z III! Ich habe den Sachverhalt ein kleinwenig anders im Gedächtnis, aber letztlich ging es auch darum, ob der Käufer eines Soundsystem der 1. Generation im Rahmen der Nacherfüllung die 2. Generation erhalten kann. Meiner Erinnerung nach war es im Berliner Sachverhalt so, dass die Geräte der 1. und 2. Generation preislich ähnlich waren.


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