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Allgemeiner Teil
Garantenstellung aus Ingerenz und entschuldigender Notstand (BGH, Urt. v. 02.08.2023 – 5 StR 80/23)
Garantenstellung aus Ingerenz und entschuldigender Notstand (BGH, Urt. v. 02.08.2023 – 5 StR 80/23)
16. Juli 2025
8 Kommentare
4,8 ★ (29.651 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
A zwingt B durch Androhung von Gewalt, sich auf den bereits von A misshandelten C zu knien, damit A diesen fotografieren kann. Dann lässt er B gehen, während er C weiter misshandelt. Schließlich lässt A den C allein in der Wohnung. Als B zurückkehrt, sieht er den schwerverletzten, reglosen C, bleibt aber untätig. C wird nur durch den Notruf eines Dritten gerettet.
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Einordnung des Falls
Garantenstellung aus Ingerenz und entschuldigender Notstand (BGH, Urt. v. 02.08.2023 – 5 StR 80/23)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Durch das Knien auf C hat B sich des versuchten Totschlags strafbar gemacht (§§ 212 Abs. 1, 22, 23 StGB).
Nein, das ist nicht der Fall!
2. Durch das Knien auf C hat B den Tatbestand der einfachen Körperverletzung erfüllt (§ 223 StGB).
Ja, in der Tat!
3. Zudem hat B den C „auf andere Weise“ der Freiheit beraubt (§ 239 StGB).
Ja!
4. Da B aber seinerseits von Misshandlungen bedroht war, handelte er aus Notwehr und damit gerechtfertigt (§ 32 StGB).
Nein, das ist nicht der Fall!
5. B befand sich in einer Notstandslage (§ 34 StGB).
Ja, in der Tat!
6. Wurde ein Täter - wie B - selbst zur Verletzung der Rechte Dritter genötigt (=Nötigungsnotstand), so ist umstritten, ob die Notstandshandlung des Täters gerechtfertigt sein kann (§ 34 StGB).
Ja!
7. Nach h.M. könnte B aber nach § 35 StGB entschuldigt gehandelt haben.
Genau, so ist das!
8. Indem B bei seiner Rückkehr untätig blieb, könnte er sich aber wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen strafbar gemacht haben (§§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB).
Ja, in der Tat!
9. Eine Strafbarkeit des B wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen setzt voraus, dass er objektiv gegenüber C eine Garantenstellung innehatte.
Nein!
10. Eine Garantenstellung aus Ingerenz würde objektiv ausscheiden, weil Bs Handeln infolge des entschuldigenden Notstands nicht schuldhaft erfolgte (§ 35 StGB).
Nein, das ist nicht der Fall!
11. Die Rechtfertigung als Notstand scheitert nach der h.M., da B sich in einem Nötigungsnotstand befand.
Ja, in der Tat!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Erik_1995
8.5.2025, 23:38:13
Ich werfe mal die provokante Frage auf, ob es bereits Gesinnungsstrafrecht ist, die
Garantenstellung beim versuchten
Unterlassungsdeliktsubjektiv zu bestimmen. Beispiel: A ist im Einkaufszentrum unterwegs und glaubt seinen Sohn zu sehen. In Wahrheit ist es es ein anderes Kind, das seinem Sohn nur ähnlich sieht. Das Kind blutet stark am Kopf. A tut nichts und findet sich mit dem Tod seines Sohnes ab. Das Kind entkommt nur knapp dem Tod. Objektiv hat A nichts gemacht. Alles spielte sich ausschließlich in seinem Kopf ab. Objektiv hat er auch nichts mit dem Kind zu tun. Ist es rechtsstaatlich zulässig hier A wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen mehrere Jahre Haft aufzulasten? Oder: A frühstückt mit B. B läuft blau an und bekommt Ausschläge. A tut nichts, glaubt aber, B habe einen allergischen Schock wegen des von ihm servierten Brotes. In Wahrheit hat C die B am Vortag vergiftet. Auch hier: Hier wird doch ausschließlich die Gesinnung des A heftigst unter Strafe gestellt? Er hat objektiv nichts mit der Situation zutun und soll jetzt wegen eines versuchten Totschlags verurteilt werden? In beiden Fällen wird zwar wie beim untauglichen Versuch die Gesinnung bestraft. Jedoch ist mE hier der bedeutende Unterschied, dass die Person einfach gar nichts tut. Beim untauglichen Versuch tut die Person wenigstens etwas, sie schießt auf eine Puppe, lauert seinem Opfer zur falschen Zeit auf etc. Aber hier? Hier sitzt der "Täter" die ganze Zeit ruhig auf einem Fleck und hat nur Kopfkino. Ich persönlich finde das höchst unverhältnismäßig, lasse mich aber gerne vom Gegenteil überzeugen :=)
Leo Lee
5.7.2025, 17:32:32
Hallo Erik_1995, vielen Dank für die sehr gute und interessante Frage! Das ist ganz und gar nicht "provokant", sondern ein juristisch völlig berechtigter Einwand. Denn in dem von dir genannten Fall liegt ein
untauglicher Versuch, der nochmal "flankiert" wird durch die Untätigkeit. Krass gesagt: Man wird bestraft, obwohl man nichts tut und - untechnisch gesprochen - "hofft", dass jemand stirbt (sehr problematisch). Die wohl h.L. bejaht die Strafbarkeit, allerdings gibt es auch Gegenansichten, aufgrund der von dir genannten Gründe. Auch bei mir im Rep wurde dieser Streitstand unterrichtet. Wenn man die grds. Strafbarkeit des unt. Versuchs durch das Unterlassen bejaht, besteht auch später das Problem des Fehlschlags (wie ist ein solcher dann zu bewerten) bzw.
Rücktrittshandlung. Am Rande: Sehr interessant ist auch, dass unsere italienischen Kollegen den untauglichen Versuch allgemein NICHT BESTRAFEN, mit dem Argument des Gesinnungsstrafrechts. Also folgst du gewissermaßen der "italienischen" Schule ;)! Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre vom MüKo-StGB 5. Auflage, Freund/Rostalski § 13 Rn. 253 ff. sehr empfehlen :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo
Roxxin
14.5.2025, 19:05:52
die verlinkte Entscheidung ist eine andere (Betrug)
Roxxin
14.5.2025, 19:06:56
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&nr=135355&pos=0&anz=1 Das ist der richtige Link

Rüsselrecht 🐘
25.5.2025, 15:53:44
Dieser Link leitet direkt hin 🥳 https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/5/23/5-80-23.php