+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
A zwingt B durch Androhung von Gewalt, sich auf den bereits von A misshandelten C zu knien, damit A diesen fotografieren kann. Dann lässt er B gehen, während er C weiter misshandelt. Schließlich lässt A den C allein in der Wohnung. Als B zurückkehrt, sieht er den schwerverletzten, reglosen C, bleibt aber untätig. C wird nur durch den Notruf eines Dritten gerettet.
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Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Durch das Knien auf C hat B sich des versuchten Totschlags strafbar gemacht (§§ 212 Abs. 1, 22, 23 StGB).
Nein, das ist nicht der Fall!
Eine Strafbarkeit wegen Versuchs setzt voraus, dass der Täter mit(1) Tatentschluss zur Tatbestandsverwirklichung,(2) unmittelbar ansetzt,(3) rechtswidrig und schuldhaft handelt und(4) nicht strafbefreiend zurückgetreten ist.B handelte auf As Anweisung. Es ist nicht ersichtlich, dass er billigend in Kauf nahm, durch sein Knien Cs Tod hervorzurufen. Insoweit fehlt es bereits an einem entsprechenden Tatentschluss.Mangels Vorsatz bezüglich Cs Tod würde auch eine Beihilfe zum versuchten Totschlag (§§ 212 Abs. 1, 22, 23, 27 StGB) ausscheiden. Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
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2. Durch das Knien auf C hat B den Tatbestand der einfachen Körperverletzung erfüllt (§ 223 StGB).
Ja, in der Tat!
Die Körperverletzung (§ 223 StGB) setzt objektiv eine körperliche Misshandlung und/oder eine Gesundheitsschädigung voraus. Eine körperliche Misshandlung ist jede üble und unangemessene Behandlung, durch die das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit nicht nur unerheblich beeinträchtigt wird. Eine Gesundheitsschädigung ist das Hervorrufen oder Steigern eines nicht nur unerheblich krankhaften (=pathologischen) Zustandes.
Indem B C sein Knie in den Rücken gedrückt hat, hat er ihn übel behandelt und C hat dadurch nicht nur unerhebliche Schmerzen erlitten. Mithin hat B den C körperlich misshandelt. Er handelte dabei auch vorsätzlich.
3. Zudem hat B den C „auf andere Weise“ der Freiheit beraubt (§ 239 StGB).
Ja!
Die Freiheitsberaubung „auf andere Weise“ umfasst jedes Tun oder Unterlassen, durch das die Fortbewegung vollständig verhindert wird. Beispiele einer Freiheitsberaubung „auf andere Weise“ sind Betäubung, Fesseln und gewaltsames Festhalten.
B hat C mit seinem Knie gewaltsam so fixiert, dass Cs Bewegungsfreiheit vollständig aufgehoben warn. Er hat ihm mithin „auf andere Weise“ der Freiheit beraubt.
Mit dem Fixieren hat B zugleich den Tatbestand der Nötigung erfüllt (§ 240 StGB).
Aus didaktischen Gründen haben wir hier zunächst die verschiedenen verwirklichten Tatbestände dargestellt. In einer Klausur schließt sich daran gesondert bei jeder Norm die Prüfung von Rechtswidrigkeit und Schuld an. Zur Vermeidung von Wiederholungen kannst Du aber auf vorangehende Ausführungen verweisen. 4. Da B aber seinerseits von Misshandlungen bedroht war, handelte er aus Notwehr und damit gerechtfertigt (§ 32 StGB).
Nein, das ist nicht der Fall!
Der Rechtfertigungsgrund der Notwehr setzt(1) einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff (Notwehrlage) sowie(2) eine erforderliche und gebotene Verteidigungshandlung (Notwehrhandlung), die(3) von einem Verteidigungswillen gedeckt ist, voraus.
Die Notwehrhandlung darf sich dabei nur gegen den Angreifer und dessen Rechtsgüter richten, nicht aber gegen einen Dritten.
B durfte sich zur Abwehr des Angriffs auf seine Willensfreiheit durch A nicht gegen den unbeteiligten Dritten C richten. Bs Handeln war somit nicht durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt.
Das Notwehrrecht dient dem Interesse des Einzelnen an einem effektiven Rechtsgüterschutz und verfolgt zudem generalpräventive Zwecke: Jeder erfolgreich abgewehrte Angriff zeigt, dass die Rechtsordnung nicht risikolos verletzt werden kann.
5. B befand sich in einer Notstandslage (§ 34 StGB).
Ja, in der Tat!
Eine Notstandslage besteht bei einer gegenwärtigen Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut. Notstandsfähige Rechtsgüter sind nach der h.M. sowohl Individualgüter als auch Allgemeingüter. Eine Gefahr liegt vor, wenn bei ungestörtem Fortgang des Geschehens die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts besteht. Die Gefahr ist gegenwärtig, wenn sich die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts so verdichtet hat, dass die zum Schutz des bedrohten Rechtsguts notwendigen Maßnahmen sofort einzuleiten sind.
Durch die ausgesprochene Drohung des A, liegt eine Gefahr für Bs Leib vor. Dabei handelt es sich um ein geschütztes Rechtsgut des § 34 StGB. Die Gefahr war auch gegenwärtig. B befand sich in einer Notstandslage. 6. Wurde ein Täter - wie B - selbst zur Verletzung der Rechte Dritter genötigt (=Nötigungsnotstand), so ist umstritten, ob die Notstandshandlung des Täters gerechtfertigt sein kann (§ 34 StGB).
Ja!
Teilweise wird vertreten, dass die Handlung des genötigten Täters auch bei Verletzungen Dritter gerechtfertigt sein könne, sofern sie angemessen ist („Rechtfertigungslösung“).
Nach anderer Ansicht handele der Täter in Fällen des Nötigungsnotstandes nie gerechtfertigt, sodass allenfalls eine Entschuldigung nach § 35 StGB möglich sei („Entschuldigungslösung“). Eine dritte Ansicht differenziert: Bei geringfügigen Beeinträchtigungen des Opfers könne die Notstandshandlung des Täters durchaus angemessen und damit gerechtfertigt sein. In gravierenden Fällen (gravierende Beeinträchtigung von Körper und Freiheit), komme dagegen allenfalls eine Entschuldigung in Betracht.
7. Nach h.M. könnte B aber nach § 35 StGB entschuldigt gehandelt haben.
Genau, so ist das!
Der entschuldigende Notstand (§ 35 StGB) ähnelt strukturell dem rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB): Er setzt
(1) eine Notstandslage,
(2) eine Notstandshandlung sowie
(3) einen Rettungswillen voraus.
Die Norm ist aber sowohl hinsichtlich der geschützten Rechtsgüter als auch des geschützten Personenkreises enger gefasst als der rechtfertigende Notstand.
Auch beim entschuldigenden Notstand ist zu prüfen, ob die vom Täter gewählte Notstandshandlung das geeignetste, mildeste Mittel war. Dabei verlangt die Rspr., dass schon im Rahmen des mildesten Mittels gewissenhaft zu prüfen ist, inwieweit zumutbare Handlungsalternativen bestehen. Einer Interessenabwägung bedarf es dagegen nicht.B sah sich mit einem Angriff auf seine körperliche Gesundheit bedroht, befand sich also in einer Notstandslage. Es ist nicht ersichtlich, dass er As Aufforderung durch Ausweichen, Flucht oder die Hilfe Dritter hätte abwenden können, sodass sein Handeln mangels Alternativen entschuldigt war.Im Originalfall hatten dem BGH dagegen die Auseinandersetzung der Ausgangsinstanz mit alternativen Handlungsmöglichkeiten unter anderem deshalb nicht genügt, weil noch andere Mitbewohner anwesend waren bzw. unklar blieb, ob A sich nicht auch durch die Drohung mit der Polizei von seinem Verhalten hätte abbringen lassen (RdNr. 15). 8. Indem B bei seiner Rückkehr untätig blieb, könnte er sich aber wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen strafbar gemacht haben (§§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB).
Ja, in der Tat!
Tatbestandlich setzt ein versuchter
Totschlag durch Unterlassen (1) Tatentschluss voraus. B müsste also den Vorsatz gehabt haben, eine Tat zu begehen, die alle objektiven Tatbestandsmerkmale des Totschlags durch Unterlassen erfüllt (Unterlassen der erforderlichen Handlung bei physisch-realer Möglichkeit zur Vornahme der Handlung, hypothetische Kausalität zwischen Unterlassen und Erfolg sowie
Garantenstellung).
(2) Ferner müsste er unmittelbar angesetzt,(3) rechtswidrig und schuldhaft gehandelt haben und(4) nicht strafbefreiend zurückgetreten sein.
9. Eine Strafbarkeit des B wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen setzt voraus, dass er objektiv gegenüber C eine Garantenstellung innehatte.
Nein!
Für ein versuchtes unechtes Unterlassungsdelikt genügt es, dass der Täter sich (subjektiv) Umstände vorgestellt hat, die (objektiv) eine Garantenstellung i.S.d. § 13 Abs. 1 StGB begründen würden. Man unterscheidet zwischen Beschützer- und Überwachergarantenstellung. Letztere kann sich z.B. aus Ingerenz ergeben. Dafür muss der Täter durch ein objektiv pflichtwidriges Vorverhalten die Gefahr selbst geschaffen bzw. erhöht haben.
BGH: Derjenige, der sich an Misshandlungen eines Menschen beteilige, sei nach § 13 Abs. 1 StGB verpflichtet, einen drohenden Tötungserfolg abzuwenden, wenn durch sein Vorverhalten die nahe Gefahr des Eintritts des tatbestandsmäßigen Erfolges bestehe (RdNr. 21).
B wusste, dass er sich auf C gekniet und hierdurch As Misshandlungen unterstützt hat. Damit könnte er sich Umstände vorgestellt haben, die eine Garantenstellung aus Ingerenz begründen. 10. Eine Garantenstellung aus Ingerenz würde objektiv ausscheiden, weil Bs Handeln infolge des entschuldigenden Notstands nicht schuldhaft erfolgte (§ 35 StGB).
Nein, das ist nicht der Fall!
BGH: Ein sozial übliches und von der Allgemeinheit gebilligtes Vorverhalten führe nicht zu einer Garantenstellung aus Ingerenz. Das Vorverhalten müsse objektiv pflichtwidrig sein. Nicht erforderlich sei dagegen ein schuldhaftes Handeln. Auch ein nach § 35 Abs. 1 StGB entschuldigtes Verhalten bleibe rechts- und deshalb objektiv pflichtwidrig (RdNr. 22).Dementsprechend stellte sich B Umstände vor, nach denen er eine Garantenstellung aus Ingerenz innehätte.
Da der BGH den Fall insgesamt zurückverwies, befasste er sich nicht im Detail mit den übrigen Voraussetzungen. Allerdings bemängelte er noch fehlende Angaben des LG zur Frage, ob B überhaupt damit rechnete und es billigte, dass C ohne von ihm gerufene notfallmedizinische Hilfe versterben würde. Bejaht man hier letztlich den versuchten Totschlag durch Unterlassen, so tritt dahinter die unterlassene Hilfeleistung (§ 323c StGB) zurück.
Der Fall eignet sich hervorragend, um zahlreiche weitere Fragestellungen des allgemeinen Teils (u.a. unmittelbares Ansetzen und Rücktritt beim versuchten Unterlassungsdelikt) noch einmal zu wiederholen. Schau hierzu auch gerne einmal bei unseren systematischen Kursen vorbei. 11. Die Rechtfertigung als Notstand scheitert nach der h.M., da B sich in einem Nötigungsnotstand befand.
Ja, in der Tat!
Die wohl h.M. vertritt die Entschuldigungslösung, wonach der Nötigungsnotstand stets die Angemessenheit entfallen lasse. Begründet wird dies damit, dass dem Opfer - hier C - andernfalls kein Notwehrrecht gegen den Genötigten mangels eines rechtswidrigen Angriffs zustünde (Notwehrprobenargument). Zudem wird argumentiert, dass sich der Notstandstäter selbst im Unrecht befinde. Rechtsprinzipien und Rechtswerte würden durch eine Rechtfertigung nicht mehr beachtet, weshalb die Notstandshandlung nie angemessen sein könne.
Der Nötigungsnotstand lässt nach h.M. die Angemessenheit stets entfallen, sodass B sich nicht auf eine Rechtfertigung berufen kann.