Zivilrecht

Deliktsrecht

§ 823 Abs. 1 BGB

Unterlassen (Pflicht zur Handlung aus Ingerenz)

Unterlassen (Pflicht zur Handlung aus Ingerenz)

23. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

A fährt nachts auf der Landstraße. Dabei übersieht sie B, der am Fahrbahnrand sein Fahrrad schiebt und fährt ihn an. Anstatt sich um den verletzten und bewusstlosen B zu kümmern, ergreift A die Flucht. B wird von einem LKW überfahren und stirbt.

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Einordnung des Falls

Unterlassen (Pflicht zur Handlung aus Ingerenz)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. A hat das Leben des B durch Unterlassen verletzt.

Genau, so ist das!

Eine Verletzungshandlung kann jedes Tun, Dulden oder Unterlassen sein, das durch beherrschbares menschliches Verhalten gesteuert werden kann. Aktives Tun liegt vor, wenn jemand eine Gefahr für ein fremdes Rechtsgut begründet oder erhöht. Ein Unterlassen liegt vor, wenn eine bestehende Gefahr, ohne sie durch ein Tun zu erhöhen, nicht abgewendet wird. Die Abgrenzung erfolgt - wie im Strafrecht - nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit. A hat den B angefahren. Damit hat sie nicht unmittelbar die Gefahr für das Leben des B geschaffen. Sie hat jedoch auch nicht dafür gesorgt, die Gefahr des Überfahrens abzuwenden. Damit liegt ein Unterlassen vor.
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2. Ein Unterlassen ist nur rechtlich relevant, wenn eine Pflicht bestand, tätig zu werden.

Ja, in der Tat!

Es besteht keine allgemeine Rechtspflicht, Dritte vor Gefahren zu schützen. Die Schädigung durch Unterlassen bildet damit eine Ausnahme. Notwendig ist, dass den Schädiger die Pflicht zum Handeln traf. Diese kann sich aus Verkehrssicherungspflichten oder einer Garantenstellung ergeben.

3. A ist Garant für Bs Wohlergehen.

Ja!

Eine Garantenstellung kann sich ergeben aus (1) vorangegangenem gefahrerhöhendem Tun (Ingerenz), (2) Gesetz, (3) Vertrag, (4) Lebens- oder Gefahrgemeinschaft, (5) Ehe und Familie sowie (6) §§ 138, 323c StGB. Die Garantenstellung der A kann sich aus Ingerenz ergeben. Dabei kann es sich um eine vorangegangene Rechtsgutsverletzung handeln, die sich bei einem unterlassenen Abwehrverhalten vertieft oder um ein Handeln, das erst die Gefahrenlage für die spätere Rechtsgutsverletzung schafft. A hat B angefahren und B dadurch in die Gefahr gebracht, überfahren zu werden. A hätte B für die Dauer der Situation schützen müssen.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Maitre68

Maitre68

2.4.2024, 11:44:00

Könnte man hier auch argumentieren, dass die RGV auf dem aktiven Tun der Schädigerin beruht? Also auf dem Anfahren? Es gibt einen ähnlichen Fall hier in der App, wo es um die Kausalitätsfrage geht und in von einem „Kettenschaden“ gesprochen wird. LG Maitre

Steinfan

Steinfan

5.4.2024, 15:44:37

Ich denke ja. Im Ergebnis macht das wahrscheinlich keinen großen Unterschied. Da es sich um eine mittelbare Verletzung handelt, müsste hier dann eine Verkehrssicherungspflichtverletzung geprüft werden. Im Gegensatz zum Strafrecht ist es hier aber nach meinem Verständnis nicht so relevant, ob nun an das aktive Tun oder an das spätere Unterlassen angeknüpft wird, da sich hieran keine unterschiedlichen Rechtsfolgen anschließen. Im Strafrecht hingegen wäre die Abgrenzung wegen der Milderung nach § 13 StGB wichtig.

Simon

Simon

30.6.2024, 00:05:10

Ebenso wie im Strafrecht ist auch im Zivilrecht für die Abgrenzung von Tun und Unterlassen auf den Schwerpunkt der

Vorwerfbarkeit

abzustellen. Zwar wurde hier durch

aktives Tun

eine Gefahrenlage geschaffen, aufgrund des Zeitraums bis zum Überfahren durch den Lkw, ist Schwerpunkt mE aber das Unterlassen. Denn auch wenn das Anfahren nicht rechtswidrig oder schuldhaft gewesen sein sollte, so hat A doch zurechenbar eine Gefahr geschaffen, die sie (zumutbar) beseitigen kann und muss.


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