Strafrecht
Examensrelevante Rechtsprechung SR
Entscheidungen von 2023
Ärztliches Instrument als gefährliches Werkzeug & Münchhausen-Stellvertretersyndrom (BGH, Beschl. v. 19.12.2023 – 4 StR 325/23)
Ärztliches Instrument als gefährliches Werkzeug & Münchhausen-Stellvertretersyndrom (BGH, Beschl. v. 19.12.2023 – 4 StR 325/23)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
M leidet an einer psychischen Erkrankung, aufgrund derer sie eine Krankheit ihres Babies Z erfindet. Sie schildert Arzt A genaue Symptome. A geht deshalb von einem Darmverschluss aus und operiert Z unter Vollnarkose mit einem Skalpell. Der Eingriff ist potenziell lebensgefährlich, verläuft aber komplikationslos.
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Einordnung des Falls
Ärztliches Instrument als gefährliches Werkzeug & Münchhausen-Stellvertretersyndrom (BGH, Beschl. v. 19.12.2023 – 4 StR 325/23)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 23 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. A könnte den objektiven Tatbestand einer gefährlichen Körperverletzung erfüllt haben, indem er Z narkotisierte und mit einem Skalpell operierte (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1, Nr. 2 Alt. 2, Nr. 5 StGB).
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. A müsste Z zunächst körperlich misshandelt oder an der Gesundheit geschädigt haben. Erfüllt ein ärztlicher Heileingriff unstreitig immer den objektiven Tatbestand des § 223 Abs. 1 StGB?
Nein, das ist nicht der Fall!
3. Z war tatsächlich kerngesund und musste nicht operiert werden. Ist in diesem Fall ein Streitentscheid zwischen den Ansichten der Rspr. und der h.L. nötig?
Nein, das trifft nicht zu!
4. Z wurde für die OP narkotisiert. Ist ein Narkosemittel ein Gift im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 StGB?
Ja!
5. Ohne Narkose wäre die OP für Z sehr schmerzhaft gewesen. Ist es deshalb denkbar, dass das Narkosemittel unter dem Gesichtspunkt der Risikoverringerung nicht vom Tatbestand erfasst wird?
Genau, so ist das!
6. Das Skalpell, das A für den Eingriff genutzt hat, könnte grundsätzlich ein gefährliches Werkzeug sein (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB).
Ja, in der Tat!
7. A hat das Skalpell fachgerecht und nicht zum Angriff oder zur Verteidigung verwendet. Könnte dies dafür sprechen, das Skalpell als gefährliches Werkzeug abzulehnen?
Ja!
8. Mit der Neufassung des § 224 StGB Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB ist die Waffe zum Unterfall eines gefährlichen Werkzeugs geworden. Spricht das dafür, dass ein Täter das gefährliche Werkzeug weiterhin waffenähnlich benutzen muss?
Nein, das ist nicht der Fall!
9. Auf Grundlage der aktuellen Rspr. des BGH ist der Skalpell, den A für die OP verwendete, ein gefährliches Werkzeug i.S.v. § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB.
Ja, in der Tat!
10. In der OP könnte zudem eine das Leben gefährdende Behandlung liegen (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB).
Ja!
11. As Handeln könnte allerdings durch eine Einwilligung gerechtfertigt (= nicht rechtswidrig) sein. Hat Z selbst wirksam in die OP eingewilligt?
Nein, das ist nicht der Fall!
12. M ist zwar psychisch erkrankt, aber dennoch einsichts- und urteilsfähig bezüglich der Auswirkungen ihres Tuns. War sie danach grundsätzlich einwilligungsfähig?
Ja, in der Tat!
13. M darf zwar als Mutter grundsätzlich in eine Operation ihres Kindes einwilligen. Ergibt sich aus den §§ 1627 S. 1, 1631 Abs. 1 BGB, dass Eltern kein Recht haben, ihrem Kind zu schaden?
Ja!
14. As Strafbarkeit entfällt nicht bereits deswegen, weil M in die Operation eingewilligt hat. Wusste A zum Zeitpunkt des Eingriffs, dass Ms Einwilligung unwirksam war?
Nein, das ist nicht der Fall!
15. As Strafbarkeit könnte entfallen, weil er glaubte, M hätte wirksam in den Eingriff eingewilligt. Ist die rechtliche Behandlung dieses sog. Erlaubnistatbestandsirrtum umstritten?
Ja, in der Tat!
16. Der Irrtum des A war unvermeidbar (§ 17 StGB). Scheidet daher nach allen Ansichten As Strafbarkeit aus?
Ja!
17. A hat sich nicht nach §§ 223, 224 StGB strafbar gemacht. Kommt für A dennoch eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung in Betracht (§ 229 StGB)?
Genau, so ist das!
18. A hat die erforderliche Diagnostik durchgeführt und nach den von M beschriebenen Symptomen lege artis gehandelt, als er die OP durchführte. Hat er seine Sorgfaltspflicht objektiv verletzt?
Nein, das trifft nicht zu!
19. M könnte sich wegen gefährlicher Körperverletzung in mittelbarer Täterschaft strafbar gemacht haben, indem sie A vorspiegelte, Z sei schwer krank, woraufhin A die Z mit einem Skalpell operierte (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2, Nr. 5, 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB).
Ja!
20. M hat A falsche Symptome bei Z vorgespiegelt. Liegt darin ein Verursachungsbeitrag im Sinne des § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB?
Genau, so ist das!
21. M müsste die tatbestandliche gefährliche Körperverletzung des A auch täterschaftlich zugerechnet werden (§ 25 Abs. 2 StGB).
Ja, in der Tat!
22. Nach beiden Theorien hatte M im vorliegenden Fall Tatherrschaft und handelte als Täterin.
Ja!
23. M könnte sich zudem wegen rohen Misshandelns von Schutzbefohlenen in mittelbarer Täterschaft gemäß § 225 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2, 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB strafbar gemacht haben.
Genau, so ist das!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
YanWing
16.11.2024, 19:31:33
Ich frage mich, ob ein Skalpell einfach so problemlos als gefährliches Werkzeug bestimmt werden kann. Bei der Abgrenzung kommt es ja auf die Widmung durch den Hersteller an. (Pistole -> geschaffen, um Menschen zu verletzen -> Waffe; Baseballschläger -> geschaffen für Sport -> keine Waffe; Baseballschläger mit Stacheldraht umwickelt -> Herstellung einer neuen Sache, um damit Menschen zu verletzen -> Waffe) Das Skalpell wurde geschaffen, um damit Menschen aufzuschneiden. Denkt man die h.M. bezüglich der Körperverletzungseigenschaft des ärztlichen Heileingriffs konsequent weiter, stellt das Aufschneiden mittels Skalpell eine
Verletzungshandlunggegen den menschlichen Körper dar. Damit wurde es geschaffen, um Menschen zu verletzen. Es läge demnach eigentlich nahe, es als Waffe einzuordnen. Dies scheint wertungsmäßig zunächst fragwürdig. Das Skalpell wurde schließlich extra so gefertigt, dass die Verletzungen so gering wie für den Heileingriff nötig ausfallen. Dies läuft der Verletzungswidmung allerdings nicht entgegen. Eine Verletzung mittels Waffe muss nicht zwangsläufig gravierender ausfallen als die mit einem anderen gefährlichen Werkzeug. So wäre bspw. ein Beinschuss mit einer Pistole wohl weniger schädigend, als der mit einer Harpune (reine
Vermutungmeinerseits). Es kommt, denke ich, schlussendlich wieder auf die nuancierte Bewertung des ärztlichen Heileingriffs an. Während man bei der Subsumtion unter den obj. Tb der KV eine ergebnisrelevante Entscheidung trifft, ist es hier höchstens eine Typenbestimmung. Das "Werkzeug des Arztes" als Waffe zu bezeichnen wirkt wohl aus der Sicht eines Fachmannes sowie der breiten Bevölkerung als falsch. Waffen sind typischerweise für Kampfhandlungen gedacht; die Verletzung ist dabei der Hauptzweck des Gegenstandes. Wie auch bei dem Streit über den Heileingriff, steht bei dem Skalpell die Hilfe des Menschen im Vordergrund, wobei hier der Streitentscheid aufgrund anderer Ergebnisrelevanz auch anders ausfallen könnte. Jetzt stellt sich mir natürlich die Frage, inwiefern solche Ausführungen in einer Klausur sinnvoll wären und ob sie überhaupt das Potential haben Punkte einzubringen, da sie wohl kaum in der Musterlösung vorkommen und die Einordnung durch den BGH
augenscheinlich als eine Selbstverständlichkeit angesehen wird.
Moltisanti
22.11.2024, 00:09:23
Dann lieber so eine präzise Frage einem Prüfer des JPA stellen, eine Klausur diesen Inhalts abgeben (an Korrektoren) oder notfalls den Professor der Prüfer war/ist fragen, und nicht hier meiner Meinung nach. Das ist hier ist ja „bloß“ eine Lernapp von Juristen für Juristen, aber für deine speziellen Frage ist hier niemand wirklich qualifiziert, behaupte ich mal dreist heheh
Sebastian Schmitt
29.11.2024, 19:15:23
Hallo @[YanWing](260239), spannende Gedanken, danke fürs Teilen! Du hast sicherlich Recht, dass Skalpelle gerade zum medizinischen "Aufschneiden" von Menschen (aber auch Tieren) konzipiert sind und man daher diskutieren könnte, ob es sich nicht um eine Waffe handelt. Nach dem formalen Waffenbegriff des WaffG (dort § 1 II Nr 2 lit a) wäre das schon dem eindeutigen Wortlaut zufolge nicht der Fall. Das WaffG ist aber iRd § 224 I Nr 2, 1. Var StGB nicht (allein) relevant, vielmehr sind Waffen iSd § 224 StGB Gegenstände, die generell zum Verletzen von Menschen bestimmt sind (wohl allgM, statt aller Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl 2019, § 224 Rn 4). Die von Dir genannten Argumente wird man zum Wort "verletzen" anbringen können - und dann zu einer sehr ähnlichen Diskussion wie der kommen, die wir iRd Aufgabe erläutert haben: Handelt es sich bei einem medizinisch indizierten Eingriff, den ein qualifizierter Arzt nach fachlichen Standards durchführt, um ein "Verletzen" und müsste man ggf schon vor diesem Hintergrund das Skalpell bei einer solchen Verwendung von § 224 I Nr 2 StGB ausnehmen? In der Praxis ist die Differenzierung zwischen Waffe und gefährlichem Werkzeug allerdings völlig irrelevant. Schon systematisch ist die Waffe ohnehin nur ein Unterfall des gefährlichen Werkzeugs und für § 224 I Nr 2 StGB spielt es iE keine Rolle, ob wir eine Waffe oder ein gefährliches Werkzeug annehmen. Bei tatsächlichen Zweifeln über die Waffeneigenschaft soll sogar die Wahlfeststellung zulässig sein (MüKoStGB/Hardtung, 4. Aufl 2021, § 224 Rn 13). Deine Argumente kann ich inhaltlich zwar durchaus nachvollziehen, soweit ersichtlich stehst Du mit der Einordnung des Skalpells als Waffe aber allein auf weiter Flur. Die wohl allgM sieht im Skalpell ohne jegliche Diskussion höchstens ein gefährliches Werkzeug, aber keine Waffe. Im Zusammenspiel mit der fehlenden Praxisrelevanz würde ich davon abraten, diese Einordnung in einer Prüfungsaufgabe in Frage zu stellen. In der Lösungsskizze wird dazu ohnehin nichts stehen. Im besten Fall stoßen Deine Gedanken bei der Korrektur auf mildes Interesse, in "Bonuspunkten" wird sich das allerdings selbst dann kaum niederschlagen. Im schlechtesten Fall werden Dir entsprechende Ausführungen als überflüssig und/oder fernliegend angekreidet, zumal Dir deshalb weniger Zeit für die wirklichen Schwerpunkte bleiben dürfte. Eine Klausur ist leider nicht der richtige Ort für solche akademischen "Experimente", ein wissenschaftlicher Aufsatz oder eine Dissertation schon eher. Und falls das angesichts des Kommentars von Moltisanti eine Rolle spielt: Dieser Beitrag stammt von einem Volljuristen, der während seiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an einem Lehrstuhl immerhin einige hundert Klausuren und Hausarbeiten aus verschiedenen Rechtsgebieten korrigiert hat. Falls Du Dir nach wie vor unsicher bist, YanWing, sprich dazu natürlich auch gerne nochmal mit prüfungserfahrenen juristischen Kolleginnen und Kollegen. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team
YanWing
29.11.2024, 20:40:07
@[Sebastian Schmitt](263562) vielen Dank für die ausführliche Antwort. Ich hatte schon damit gerechnet, dass sich derartige "Experimente" wohl kaum positiv auf die Klausurbewertung auswirken würden. Allerdings, auch wenn ich mich in der Prüfung dem Willen der Korrektoren beugen werde, würde ich persönlich in diesem Fall anders bewerten. Wenn man schon die "dogmatische Schublade" der Abgrenzung Waffe/anderes gefährliches Werkzeug öffnet, dann sollte man hier auch sauber subsumieren. Bei der gängigen Definition von Waffe im Rahmen der gefährlichen KV kommt man unweigerlich zu dem von mir angesprochenen Problem. Auch ich würde das Skalpell im Ergebnis nicht als Waffe einordnen, so hatte ich oben auch argumentiert, sehe es aber nicht als völlig offensichtlich und strenggenommen sogar als dogmatisch falsch an unproblematisch die Waffeneigenschaft zu verneinen. Dies könnte man freilich umgehen, indem man die "Schublade" von vornherein geschlossen hält und sich bereits im Obersatz auf Var. 2 festlegt, wobei dies eigentlich wissenschaftlich unehrlich ist. Anhand der fehlenden Ergebnis- und Paxisrelevanz werde ich das aber wohl verkraften können. :)
Jojo23
21.11.2024, 00:52:27
Warum wird bei dem ETBI auf 17 abgestellt? Folgt man der h.M wird doch 16 analog angewendet?
Moltisanti
22.11.2024, 00:05:49
Weil das die Theorie ist die am „weitesten“ entfernt ist, aber wenn diese schon zur Lösung kommt, sollte kein ausführlicher Streit dargestellt werden. Würde ich sagen
Viooola
29.11.2024, 11:31:35
Muss man wirklich noch den Streit ansprechen, ob ein Skalpell eine Waffe ist, wenn der BGH nun aufgrund der Änderung des Wortlauts ebenfalls ein Skalpell als ein gefährliches Werkzeug einordnet?