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Lebensbeginn bei normalem Geburtsverlauf – Totschlag durch eine Hebamme? (BGH, Beschluss vom 02.11.2023 - 6 StR 128/23)

Lebensbeginn bei normalem Geburtsverlauf – Totschlag durch eine Hebamme? (BGH, Beschluss vom 02.11.2023 - 6 StR 128/23)

20. Januar 2025

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Hebamme H „glaubt“ nicht an Krankenhausgeburten und überzeugt Schwangere S von einer Hausgeburt. S' Fruchtblase platzt und die Eröffnungswehen setzen ein. Die Wehen ziehen sich mehrere Tage. Entgegen medizinischer Standards bringt H sie dennoch nicht ins Krankenhaus. S’ Kind stirbt daraufhin.

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Einordnung des Falls

Lebensbeginn bei normalem Geburtsverlauf – Totschlag durch eine Hebamme? (BGH, Beschluss vom 02.11.2023 - 6 StR 128/23)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 18 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. H könnte sich wegen Totschlags durch Unterlassen strafbar gemacht haben, indem sie S entgegen medizinischer Standards nicht ins Krankenhaus brachte (§§ 212 Abs. 1, 13 StGB).

Ja!

Objektive Voraussetzungen der Strafbarkeit nach §§ 212 Abs. 1, 13 StGB sind: (1) Tod eines anderen Menschen (2) Unterlassen einer gebotenen Handlung (3) Garantenstellung (4) Quasi-Kausalität (5) Entsprechungsklausel Zudem müsste H vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft gehandelt haben. Unsere Inhalte zum Unterlassen findest Du hier.
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2. Zunächst müsste „ein anderer Mensch“ gestorben sein (§ 212 StGB). Scheidet eine Strafbarkeit nach § 212 StGB aus, wenn der Fötus nicht als Mensch gilt?

Genau, so ist das!

Kommt es zu Todesfällen bei Föten oder in Zuge von Geburten, musst Du immer an die Abgrenzung von § 218 StGB und § 212 Abs. 1 StGB denken. Während einer Schwangerschaft gilt der Fötus strafrechtlich noch nicht als Mensch. Ein Totschlag nach § 212 Abs. 1 StGB ist nicht möglich. Der Fötus wird aber strafrechtlich durch § 218 StGB geschützt. Nach der Geburt ist das Kind strafrechtlich zweifelsohne ein Mensch und ist umfassend durch das Strafrecht geschützt. Fraglich ist aber, ab welchem Zeitpunkt während der Geburt der strafrechtliche Schutz von § 218 StGB zu den §§ 211 ff. StGB übergeht.Aus dem nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gebotenen Schutz menschlichen Lebens folgt, dass es keinen Zeitpunkt gibt, zu dem das Kind nicht mehr durch § 218 StGB, aber noch nicht durch §§ 211 ff. StGB geschützt ist. Der Übergang erfolgt nahtlos.

3. Das Kind ist noch im Mutterleib gestorben. Auch hatten die Presswehen noch nicht eingesetzt. Könnte das dagegen sprechen, dass S' Kind bereits als „anderer Mensch” durch § 212 Abs. 1 StGB geschützt ist?

Ja, in der Tat!

Nach früherer Ansicht des RG ist das Kind erst mit Beginn des Austritts aus dem Mutterleib durch §§ 211 ff. StGB geschützt. Eine Mindermeinung in der Literatur stellt wiederum auf den Beginn der Presswehen ab. Der BGH bestimmt den Beginn des Schutzes durch §§ 211 ff. StGB im Einklang mit der h.L. als den Beginn der Eröffnungswehen. Zu diesem Zeitpunkt ist das Kind im strafrechtlichen Sinne „ein anderer Mensch”.

4. Für die Auffassung des BGH, die den strafrechtlichen Schutz der §§ 211 ff. StGB ab Beginn der Eröffnungswehen bestimmt, spricht der Wortlaut des § 218 StGB, der den „Abbruch der Schwangerschaft” unter Strafe stellt.

Ja!

§ 218 StGB bestraft den Schwangerschaftsabbruch. Eine Schwangerschaft könne laut BGH aber nicht abgebrochen werden, wenn sie sich bereits in Selbstauflösung befände. Das geschehe mit Beginn der Eröffnungswehen, weil damit im Normalfall der Geburtsvorgang beginne.Zudem könnten nach Beginn der Eröffnungswehen bereits medikamentöse oder operative Geburtshilfen erforderlich werden. Um das Kind zu schützen, sei dabei ein höherer Strafrechtsschutz (auch gegen fahrlässige Einwirkungen) geboten. Nach Ansicht des BGH war S' Kind zum Todeszeitpunkt bereits ein „anderer Mensch“ i.S.v. § 212 Abs. 1 StGB. Eine Strafbarkeit nach §§ 212 Abs. 1, 13 StGB kommt damit weiterhin in Betracht.

5. Die Geburt zog sich bei S mehrere Tage. Nach medizinischen Standards hätte sie ins Krankenhaus verlegt werden müssen. Hat H eine gebotene Handlung unterlassen (§ 13 StGB), indem sie nicht dafür gesorgt hat, dass S ins Krankenhaus kommt?

Genau, so ist das!

Eine Strafbarkeit durch Unterlassen nach § 13 StGB setzt voraus, dass der Täter eine gebotene Handlung unterlassen hat. Eine Handlung ist geboten, wenn sie in der konkreten Gefahrenlage erforderlich ist und für den Täter die physisch-reale Möglichkeit besteht, das Gebotene in sinnvoller Weise zu tun.Nach medizinischen Standards hätte S ins Krankenhaus gemusst. H hätte dafür einen Rettungswagen rufen können. Das tat sie nicht, obwohl es ihr möglich war. H hat eine gebotene Handlung unterlassen.

6. H hat eine gebotene Handlung unterlassen. Ist die Prüfung der Strafbarkeit nach §§ 212 Abs. 1, 13 StGB damit abgeschlossen?

Nein, das trifft nicht zu!

Bei der Prüfung eines unechten Unterlassungsdelikt nach § 13 StGB darfst Du die Garantenstellung nicht vergessen. Die nach § 13 StGB erforderliche Garantenstellung meint die rechtliche Pflicht zur Überwachung einer Gefahr (Überwachergarant) oder zur Bewahrung eines bestimmten Gutes vor beliebigen Gefahren (Beschützergarant).H hat S rund um die Geburt mit professionellem Anspruch beraten und betreut. Sie hat durch die Übernahme der Behandlung ihre Garantenstellung als Beschützergarantin durch tatsächliche Übernahme begründet.Die Garantenstellung lässt sich auch aus den Hebammengesetzen vieler Länder ableiten: Danach sind Hebammen verpflichtet u.a. Schwangeren und Neugeborenen Hilfe zu leisten, dabei deren Gesundheit zu schützen und zu erhalten und ggf. einen Arzt hinzuzuziehen (vgl. etwa §§ 3, 4 SächsHebG, §§ 7 Abs. 2, 9 HmbHebG).

7. Hätte H rechtzeitig veranlasst, dass S ins Krankenhaus kommt, wäre der Tod des Kindes nicht eingetreten. Besteht damit Quasi-Kausalität zwischen ihrem Unterlassen und dem Tod des Kindes?

Ja!

Das Unterlassen ist für den Erfolg kausal, wenn die rechtlich gebotene Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der tatbestandsmäßige (konkrete) Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele.Das Rufen des Krankenwagens/das Bringen ins Krankenhaus kann nicht hinzugedacht werden, ohne dass der Tod des Kindes mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele.Das Unterlassen der H entspricht auch einem aktiven Handeln im Sinne der Entsprechungsklausel nach § 13 Abs. 1 Hs. 2 StGB.

8. Nachdem die Geburt bereits zwei Tage dauerte, erkannte H, dass sie sich entgegen allen medizinischen Standards verhielt und ein lebensgefährliches Risiko für das Kind bestand. Könnte H vorsätzlich gehandelt haben?

Genau, so ist das!

Vorsatz ist grundsätzlich der Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnis aller seiner objektiven Tatbestandsmerkmale.Vorsätzliches Handeln (in jeder Form) braucht zwingend ein sog. „kognitives Element“: Der Täter muss also Wissen über die mögliche Tatbestandsverwirklichung haben. Beim dolus directus 1. und 2. Grades kommt auch ein sog. „voluntatives Element“ (= Wollen der Tatbestandsverwirklichung) hinzu. Inwieweit dieses auch beim Eventualvorsatz hinzutreten muss, ist umstritten. H wusste um die potentielle Lebensgefahr für das Kind. Insofern hatte sie zunächst das für den Vorsatz notwendige kognitive Element inne. Fraglich ist, ob bei H auch willentlich handelte, also ein voluntatives Element vorhanden war.

9. Die h.M. verlangt für den Eventualvorsatz ein zusätzliches voluntatives Element. Könnte man damit eine bessere Abgrenzung des Eventualvorsatzes zur bewussten Fahrlässigkeit vornehmen?

Ja, in der Tat!

Nach der herrschenden Billigungstheorie liegt Eventualvorsatz dann vor, wenn der Täter den Erfolgseintritt für möglich hält und billigend in Kauf nimmt. Die h.M. argumentiert, dass sonst die Abgrenzung zur bewussten Fahrlässigkeit nicht möglich sei.Verschiedene Mindermeinungen lassen hingegen ein kognitives Element für den Eventualvorsatz genügen: Nach der Wahrscheinlichkeitstheorie reicht es aus, wenn der Täter den Erfolgseintritt für wahrscheinlich hält. Nach der Möglichkeitstheorie reicht es sogar bereits, wenn der Täter die reale Möglichkeit der Rechtsgutsverletzung erkannt und trotzdem gehandelt hat.

10. Nach zwei Tagen Wehen hat H die Lebensgefahr für das Kind erkannt. Sie vertraute aber ernsthaft darauf, dass alles gut gehen werden. Genügt das nach der h.M., um einen Eventualvorsatz anzunehmen?

Nein!

Nach der herrschenden Billigungstheorie handelt mit Eventualvorsatz, wer den Erfolgseintritt für möglich hält und billigend in Kauf nimmt. Im Gegensatz dazu liegt lediglich bewusste Fahrlässigkeit vor, wenn der Täter den Taterfolg zwar als möglich voraussieht, aber ernsthaft auf einen guten Ausgang vertraut.H hat (kognitiv) erkannt, dass für das Kind Lebensgefahr bestand. Sie vertraute aber ernsthaft darauf, dass alles gut gehen werde. Ihr fehlt deswegen das für den (Eventual-)Vorsatz nötige voluntative Element. H handelte zum hier fraglichen Zeitpunkt – nach zwei Tagen Wehen – lediglich bewusst fahrlässig.Die Abgrenzung zwischen Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit wird häufig auf die sog. Frank’sche Formel runtergebrochen: Bei Fahrlässigkeit denkt sich der Täter „Es wird schon gut gehen“, bei Vorsatz „Na, wenn schon!“

11. Nachdem die Geburt vier Tage dauerte, erkannte H, dass weiteres Warten zum Tod des Kindes führen würde und fand sich damit ab. Hätte sie in diesem Moment den Notarzt gerufen, wäre das Kind vielleicht noch zu retten gewesen. Ist der Tatbestand des §§ 212, 13 StGB damit zu diesem Zeitpunkt (insgesamt) erfüllt?

Nein, das ist nicht der Fall!

Gerade, wenn sich das Geschehen über einen längeren Zeitraum streckt, solltest Du an verschiedene Anknüpfungspunkte für eine Strakfbarkeit denken. Nach vier Tagen nahm H den Tod des Kindes billigend in Kauf (= bedingter Vorsatz, h.M.). Zu dem Zeitpunkt war das Kind jedoch nur noch möglicherweise zu retten gewesen. Bei einem Unterlassensdelikt ist es hingegen nötig, dass der Erfolgseintritt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre. (= Quasikausalität). Dies war zum Zeitpunkt des vorsätzlichen Unterlassens durch H nicht mehr der Fall. Es kommt nach § 16 Abs. 1 StGB auf den Vorsatz zum Zeitpunkt der Tat - hier: Unterlassen der Handlung - an. Nach vier Tagen hatte H zwar – anders als nach zwei Tagen – Vorsatz. Dies kann aber nicht darüber hinweg helfen, dass es nun an der Quasikausalität fehlte. Das LG Verden hatte noch einen vollendeten Totschlag in Tateinheit mit Körperverletzung durch Unterlassen angenommen. Weil für den BGH aber nicht ganz klar war, ob H vielleicht schon zu einem früheren Zeitpunkt bedingten Vorsatz hatte, hat er das Verfahren zum LG zurückverwiesen.

12. H hatte nach zwei Tagen der Geburt keinen Tötungsvorsatz. Könnte sie sich aber wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen strafbar gemacht haben, indem sie S entgegen medizinischer Standards nicht ins Krankenhaus brachte (§§ 222, 13 StGB)?

Ja!

Nachdem Du schon ausführlich §§ 212, 13 StGB geprüft hast, kann die Prüfung von §§ 222, 13 StGB an dieser Stelle knapp ausfallen. Denn bei der Vorsatzprüfung hast Du das fahrlässige Handeln bereits herausgearbeitet. Ein Prüfungsschema für § 222 StGB und § 13 StGB findest Du  hier und hier . Wie bereits dargelegt, war Hs Unterlassen kausal für den Tod des Kindes. H hätte wissen müssen, dass mehrtägige Wehen ohne Fortschritt der Geburt und die Entscheidung, die Schwangere nicht ins Krankenhaus zu bringen, eine schwerwiegende Gefahr für das Leben des Kindes darstellen (= objektive Sorgfaltspflichtverletzung). Der Erfolg ist H objektiv zurechenbar. Sie war auch Garantin für das Leben des Kindes. Zudem handelte sie rechtswidrig und schuldhaft, insbesondere war H als Hebamme aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung in der Lage, die Risiken zu erkennen und entsprechend zu handeln (= subjektive Fahrlässigkeit). Weil der BGH den Fall an das LG zurückverwiesen hat, wo sämtliche Feststellungen - auch, wann Vorsatz vorlag - neu zu treffen sind, hat er im Originalurteil den §§ 222, 13 StGB nicht geprüft.

13. H erkannte nach vier Tagen, dass weiteres Warten zum Tod des Kindes führen würde. Sie unternahm trotzdem nichts. Könnte sie sich wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen strafbar gemacht haben (§§ 212 Abs. 1, 22, 23, 13 StGB)?

Genau, so ist das!

Dafür müsste die Vorprüfung ergeben, dass die Tat nicht vollendet und der Versuch des Delikts strafbar ist. Dann müsste H mit Tatentschluss unmittelbar zur Tat angesetzt haben. Zudem müsste sie rechtswidrig und schuldhaft gehandelt haben und dürfte nicht mit strafbefreiender Wirkung vom Versuch zurückgetreten sein.Wie oben dargestellt, hat H die Tat nicht vollendet. Der Versuch des Totschlags ist gem. § 23 Abs. 1 StGB strafbar. Der BGH hat sämtliche Feststellungen des LG Verden aufgehoben und den Fall dorthin zurück verwiesen. Der Zeitpunkt des Vorsatzes muss jetzt neu festgestellt werden. Darum gibt es im Originalurteil des BGH auch keine Prüfung des versuchten Totschlags durch Unterlassen. In der Klausur ist das aber nötig. Wir haben die Prüfung deswegen hier mit aufgenommen.

14. H müsste mit Tatentschluss gehandelt haben, als sie S nach vier Tagen der Geburt noch immer nicht ins Krankenhaus brachte (§§ 212 Abs. 1, 22, 23, 13 StGB).

Ja, in der Tat!

Die Täterin handelt mit Tatentschluss, wenn sie Vorsatz bezüglich aller objektiven Tatbestandsmerkmale hat und eventuell bestehende deliktsspezifische subjektive Tatbestandsmerkmale erfüllt.H müsste also (mindestens bedingt) vorsätzlich hinsichtlich des Taterfolgs, aber auch in Bezug auf ihre Garantenstellung und die Quasikausalität ihres Unterlassens gehandelt haben.

15. Nachdem die Geburt bereits vier Tage dauerte, erkannte H, dass weiteres Warten zum Tod des Kindes führen würde. Sie fand sich damit ab. Hatte sie Tatentschluss bezüglich des Taterfolgs (Tod des Kindes)?

Ja!

Nach vier Tagen nahm H den Tod des Kindes - den sie für möglich erkannt hatte - billigend in Kauf. Das genügt nach h.M. für bedingt vorsätzliches Handeln.

16. Nach vier Tagen der Geburt glaubte H, dass das Kind mit ärztlicher Hilfe möglicherweise noch gerettet werden könnte. Könnte das ausreichen, um den Tatentschluss hinsichtlich der Quasikausalität zu bejahen?

Genau, so ist das!

Früher hatte der 5. Senat des BGH für den Tatentschluss beim Unterlassensdelikt verlangt, dass der Täter in dem Bewusstsein die gebotene Handlung unterlässt, der Rettungserfolg werde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten. Dagegen spricht jedoch, das dolus eventualis beim versuchten Unterlassensdelikt dann schlechterdings ausgeschlossen wäre und Strafbarkeitslücken entstünden. Inzwischen hat der 5. Senat diese Ansicht aufgegeben.H hielt es für möglich, dass das Kind durch ärztliche Hilfe hätte gerettet werden können. Sie unterließ es trotzdem, einen Rettungswagen zu rufen oder S ins Krankenhaus zu bringen. Sie nahm die Quasikausalität ihres Unterlassens für den Taterfolg damit billigend in Kauf. Nach Ansicht des BGH genügt das, um Tatentschluss zu bejahen.

17. Hat H nach h.M. unmittelbar zur Tat angesetzt? (+)

Ja, in der Tat!

Unmittelbares Ansetzen bei einem Unterlassungsdelikt liegt nach h.M. vor, wenn die Täterin die erste mögliche Rettungshandlung nicht vornimmt und dadurch eine unmittelbare Gefahr für das geschützte Rechtsgut entsteht.H hat es unterlassen, S ins Krankenhaus zu bringen oder Hilfe zu holen. Sie hat das Kind damit unmittelbar in Gefahr gebracht und ihm eine mögliche Rettung verwehrt. H hat unmittelbar zur Tat angesetzt.Eine ausführliche Darstellung zur Problematik des Versuchsbeginns bei Unterlassensdelikten findest du im systematische Kurs Strafrecht AT.H handelte auch rechtswidrig und schuldhaft. Sie hat sich demnach gemäß §§ 212 Abs. 1, 22, 23, 13 Abs. 1 wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen strafbar gemacht.

18. H hat sich wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen (§§ 222, 13 StGB) und versuchten Totschlags durch Unterlassen (§§ 212 Abs. 1, 22, 23, 13 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht. Könnten die beiden Taten eine natürliche Handlungseinheit sein?

Ja!

Am Ende deiner Prüfung darfst Du die Konkurrenzen nicht vergessen.Die Taten sind rechtlich als natürliche Handlungseinheit zu werten, wenn mehrere im Wesentlichen gleichartige Verhaltensweisen des Täters räumlich und zeitlich derart eng miteinander verbunden sind, dass sie bei natürlicher Betrachtungsweise als einheitliches Tun erscheinen und von einem einheitlichen Willen getragen sind.H hat es über den Verlauf der Geburt fortdauernd unterlassen, S ins Krankenhaus zu bringen oder Hilfe zu holen. Dieses Unterlassen hat sich über die gesamte Zeitspanne hingezogen, in der H die Geburt begleitete. Das Unterlassen beruht auch auf einem einheitlichen Willensentschluss und ist räumlich und zeitlich ausreichend eng miteinander verbunden.Bei einer natürlichen Handlungseinheit besteht Tateinheit nach § 52 StGB. Es liegt kein Fall der Konsumtion oder Spezialität vor.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Nocebo

Nocebo

17.12.2024, 14:47:07

Ihr schreibt: "Nachdem die Geburt vier Tage dauerte, erkannte H, dass weiteres Warten zum Tod des Kindes führen würde und fand sich damit ab. Hätte sie in diesem Moment den Notarzt gerufen, wäre das Kind vielleicht noch zu retten gewesen. Ist der

Tatbestand

des §§ 212, 13 StGB damit zu diesem Zeitpunkt (insgesamt) erfüllt?" Da könnte ein

versuchter Totschlag durch Unterlassen

drinstecken gem. §§ 212 Abs. 1, 22, 23, 13 StGB. I. Vorprüfung (+) 1. Keine Vollendungsstrafbarkeit gem. § 212 Abs. 1, 13 StGB (+), da keine

Quasikausalität

2. Versuchsstrafbarkeit (+) II.

Tatentschluss

(+/-) 1. Bzgl. Erfolg und Unterlassen (+), da sie den Tod jetzt als möglich voraussieht und billigend in Kauf nimmt 2. Bzgl.

Quasikausalität

(+/-), hier fehlt es an genaueren Infos: Wenn die Hebamme dachte, dass das Kind noch gerettet werden könnte (obwohl das objektiv nicht der Fall war), hätte sie

Tatentschluss

(

Vorsatz

) zur

Quasikausalität

und es läge ein

untauglicher Versuch

vor. Wenn die Hebamme allerdings nur erkannte, dass lediglich eine Chance auf Rettung bestand, würde der

Tatentschluss

nach alter Rechtsprechung für die

Quasikausalität

fehlen, da sie dann wusste, dass sie eben nicht quasikausal wird. Nach neuerer BGH-Rechtsprechung, die auch bei Jurafuchs zu finden ist, soll für den

Tatentschluss

hinsichtlich der

Quasikausalität

jedoch ausreichen, dass das Ausbleiben des Erfolgs, also die Rettung, für möglich (!) gehalten wird. Danach läge der

Tatentschluss

hinsichtlich

Quasikausalität

hier vor: https://applink.jurafuchs.de/IyBI6yBlvPb 3. Bzgl. Garantenstellung (+) (III.

Unmittelbares Ansetzen

, Rechtswidrigkeit, Schuld (+), hier bestünden keine Probleme wenn man den

Tatentschluss

annimmt.)

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

9.1.2025, 11:00:10

Hallo @[Nocebo](222699), das hast Du wirklich perfekt erkannt und dargestellt! Chapeau! Wir haben die Versuchsstrafbarkeit der H mit in die Aufgabe aufgenommen und auch eine Frage zu den Konkurrenzen ergänzt. Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team


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